Sonntag, 5. Januar 2020

Wilde Verzweiflung, tiefstes Weh – Hans Baldung Griens Holzschnitt der „Beweinung Christi“ (um 1515/17)

Hans Baldung Grien: Beweinung Christi (um 1515/17); Holzschnitt
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Der mit großem Monogramm selbstbewusst gekennzeichnete Holzschnitt der Beweinung Christi gehört zusammen mit dem Behexten Stallknecht zu den bekanntesten und ungewöhnlichsten Grafiken des Dürer-Gesellen Hans Baldung Grien (1484/85–1545). Christus ist soeben erst vom Kreuz abgenommen und auf den Boden gelegt worden – darauf verweisen die Leiter im Hintergrund sowie die drei Kreuznägel und zwei Salbgefäße im Vordergrund. Zu sehen sind außerdem die drei unmittelbar hinter der Beweinungsgruppe aufragenden Kreuze, aber nur bis in die Höhe der mit Stricken angebundenen Füße der beiden Schächer links und rechts. „Diese Stämme lenken nicht nur die Blicke der Betrachter energisch auf die bei Christus verharrenden Maria, Magdalena und Johannes, sondern wirken wie mächtige Stempel, die die drei Gebeugten niederdrücken“ (Lüdke 2007, S. 323).
Baldung wählt für seine Beweinungsszene zwar ein Hochformat, beschränkt sich aber ganz auf das, was sich zu Füßen der drei Kreuze ereignet. Indem er diesen knappen Ausschnitt wählt, wird das Geschehen dramatisch verdichtet. Außerdem ändert er die gewohnte bildparallele Präsentation des Toten: Baldung zeigt den Leichnam Jesu in starker Verkürzung und lagert ihn so auf dem Boden, dass der Körper in die Tiefe des Bildraums ragt und die angewinkelten Beine schräg nach vorn weisen. Sein Gesicht ist aufgrund der extremen Untersicht kaum sichtbar. Ganz anders dagegen die fünf Wundmale Christi, die für den Betrachter alle gut zu erkennen sind – sie werden ihm gleichsam zur Verehrung dargeboten. Über die Lenden Jesu ist ein Tuch ausgebreitet, auf dem auch seine rechte Hand mit dem Nagelmal ruht. Über den Leichnam hinweg werden die Blicke des Betrachters zu der am Boden kauernden Maria geleitet. Sie beugt sich von hinten über den Kopf Christi, der in ihrem Schoß liegt, und betrachtet noch einmal liebevoll das Antlitz ihres Sohnes. Maria wirkt gefasst in ruhiger Trauer, aber an ihren Händen lässt sich dennoch ablesen, wie aufgewühlt sie ist. Es scheint, als würde sie den Tod ihres Sohnes als eine Erlösung von seinem irdischen Leiden ansehen.
Alle drei Figuren geben ihrem Schmerz in unterschiedlicher, sich steigernder Weise Ausdruck. Links von Maria sitzt der weinende Johannes, der den ausgestreckten Arm seines Herrn ergriffen hat und betroffen die Nagelwunde der auf seinen Knien liegenden linken Hand Jesu betrachtet. Fassungslos muss er den unabänderlichen Tod des Freundes hinnehmen. Ganz anders reagiert dagegen die in ein zeitgenössisches Gewand gekleidete Magdalena, die hinter Maria kniet: In wilder Verzweiflung und tiefstem Weh bäumt sie sich pathetisch auf, wirft den Kopf zur Seite und breitet ihre Arme nach oben aus. Sie scheint außer sich zu sein, was Baldung zusätzlich durch ihre ebenso üppigen wie stürmisch wehenden Lockenhaare sichtbar macht. „Ihre ausgebreiteten Arme erinnern an die des Gekreuzigten, ihre heilen Handflächen bringen seine Wundmale, die Zeichen des Heils, umso stärker zur Geltung“ (Kuder/Luckow 2004, S. 145).
Albrecht Dürer: Leichnam Christi (1505), Cleveland, Cleveland Museum of Art
Albrecht Dürer: Beweinung Christi (1507); Kupferstich
Hans Baldung Grien: Beweinung Christi (1513); Innsbruck, Tiroler
Landesmuseum Ferdinandeum (für die Großansicht einfach anklicken)
Anregungen für seine ungewohnte Bilderfindung dürfte Baldung in erster Linie von Albrecht Dürer (1471–1528) aufgenommen haben, dessen Werkstatt er von 1503 bis 1506 angehörte. Zu nennen wäre hier insbesondere dessen Zeichnung mit dem vom Kreuz abgenommenen Christus von 1505, die Baldung in Nürnberg gesehen haben kann, und Dürers Kupferstich-Beweinung von 1507. Auf beiden Blättern sind der extrem verkürzte Leichnam Christi, das vehemente Klagen und die Gebärden Magdalenas oder der Stumpf des Kreuzes mit angelehnter Leiter vorgebildet. Eine schmerzgebeugte Figur in verkürzter Vorderansicht hat Baldung bereits in einer gemalten Beweinung Christi von 1513 in die Komposition eingebaut: Hier ist es nicht die Mutter Jesu, sondern
die den Fuß des toten Christus liebkosende Maria Magdalena.

Literaturhinweise

Augustinermuseum Freiburg (Hrsg.): Hans Baldung Grien in Freiburg. Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2001, S. 128;

Lüdke, Dieter: Hans Baldung gen. Grien, Die Beweinung Christi. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 323;

Kuder, Ulrich/Luckow, Dirk (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürerzeit. Kunsthalle zu Kiel, Kiel 2004, S. 145.

 

(zuletzt bearbeitet am 27. Juni 2023) 

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