Freitag, 5. Mai 2023

Architektur des Klassizismus (3): die Neue Wache in Berlin

Karl Friedrich Schinkel: Neue Wache (Entwurf 1816, Ausführung 1817/18); Berlin, Unter den Linden
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Die Neue Wache in Berlin war Karl Friedrich Schinkels (1781–1841) erstes Bauwerk in Berlin und begründete seine Karriere als preußischer Staatsarchitekt. Schinkel war zu diesem Zeitpunkt zwar bereits sechs Jahre Baubeamter in königlichen Diensten, aber während der napoleonischen Kriege (1803–1815) kam die Bautätigkeit fast vollständig zum Erliegen. König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) hätte 1815 am liebsten ein großes Freiheits- und Nationaldenkmal in Auftrag geggeben, begnügte sich aber mit einem kleinen, weniger teuren Bauvorhaben: einer neuen Königswache Unter den Linden. Sie sollte ein Monument werden, aber auch praktisch nutzbar sein für die königliche Garde – mit einem Saal für die Mannschaft, Räumen für die Offiziere und für die Ausrüstung und einer Arrestzelle. Mit dem Neubau beauftragte der König Anfang 1816 den damals 34-jährigen Schinkel.

Schinkel entwarf einen gedrungenen Kubis auf quadratischem Grundriss mit wehrhaften Eckrisaliten, vor den er einen griechischen Portikus in strenger dorischer Ordnung stellte. Die Front und auch die Gliederungen der Rückfront sollten in Sandstein ausgeführt werden. Besonders massiv wirkt das Bauwerk dadurch, dass Schinkel die Steinmetze anwies, beim Versetzen der Sandsteinblöcke, einem schönen Fugenmuster folgend, ohne Mörtel zu arbeiten. Aus Gründen der Sparsamkeit wurden die Seitenfronten in Ziegelmauerwerk errichtet, das Schinkel aber nicht unter Putz verbarg, sondern sichtbar ließ. An der Rückseite des Gebäudes spiegelte Schinkel die Front in vereinfachter Form durch Wandpfeiler mit Gebälk und Dreieicksgiebel. Die verschiedenen Funktionsräume waren um einen kleinen Innenhof angeordnet, zu dem hin auch die nach außen nicht sichtbaren Pultdächer abfielen.

Carl Gotthard Langhans: Brandenburger Tor (1789–1793); Berlin, Unter den Linden
Der Hera-Tempel (ca. 460 v.Chr.) im sizilianischen Agrigent
Es war nicht das erste Bauwerk im dorischen Stil Unter den Linden: Schon gut 25 Jahre zuvor hatte der Baumeister Carl Gotthard Langhans (1732–1808) mit seinem Brandenburger Tor die Propyläen von Athen zitiert. Inzwischen war die Antikenforschung aber weiter, und dementsprechend gestaltete Schinkel seine dorischen Säulen nach exakten Vermessungen der Tempel von Agrigent, die er in Sizilien bewundert hatte. So stehen die Säulen – anders als bei Langhans – ohne Basen direkt auf dem flachen dreistufigen Sockel.

Gar nicht dorisch ist allerdings der Schmuck des Gebälks. Für die Stellen, an denen klassischerweise die Triglyphen liegen, entwarf Schinkel jeweils geflügelte Siegesgöttinnen, die der Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764–1850) modellierte. Sie wurden in Zinkguss ausgeführt und bemalt, als wären sie aus Stein. Dieser Figurenschmuck ist dem griechischen Tempel fremd, er findet sich vielmehr an römischen Triumphbögen. Das Relief im Giebelfeld sollte nach Schinkels Entwurf Kampf und Sieg, Flucht und Niederlage darstellen; es wurde allerdings erst 1846 in reduzierter Form angebracht.

Teil des königlichen Auftrags waren zwei Denkmäler für die Generäle Scharnhorst und Bülow, die vor der Neuen Wache aufgestellt wurden; der Bildhauer war Christian Daniel Rauch (1777–1857), die Sockel gestaltete Schinkel. In dieser Form überdauerte das Ensemble ein Jahrhundert. Während der Weimarer Republik entstand 1929 die Idee, die Neue Wache zu einem Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umzugestalten. Der Architekt Heinrich Tessenow (1876–1950) konnte den Wettbewerb für sich entscheiden.

Umgestaltung der Neuen Wache nach Heinrich Tessenows Entwurf (Foto: Juni 1931)
Nach Tessenows Entwurf wurde das Innere 1930/31 völlig entkernt, eine neue Decke mit kreisrundem, offenen Oberlicht eingezogen, der Fußboden 20 Zentimeter tiefer gelegt und in der Mitte des Raumes ein schwarzer Basaltquader mit einem vergoldeten Eichenlaubkranz platziert, davor eine Platte mit der Aufschrift „1914–1918“. Es entstand ein einziger geschlossener Innenraum, dessen unverglastes Oberlicht Sonnenstrahlen und Regen gleichermaßen einfallen ließ. „Als die Wache 1931 neu eröffnet wurde, war das Innere in eine große Grabkammer verwandelt; wer sie betrat, fand sich von einer dunklen, kühlen, quasi-sakralen Atmosphäre umfangen, ein Ort der Trauer und Einkehr“ (Dolff-Bobekämper 2006, S. 26). Die einstigen Fenster wurden beim Umbau 1931 vermauert, blieben aber als Blendnischen erkennbar.

Erneute Umgestaltung 1968 (Foto: Mai 1973)
Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Neue Wache schwer beschädigt. 1951 ließ die damalige DDR-Regierung die Standbilder der beiden Generäle entfernen – sie sind 2002 auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgestellt worden. 1956/57 schließlich wurde das Gebäude äußerlich originalgetreu wiederaufgebaut, im Innern nach Tessenows Konzeption; der bei dem Bombentreffer 1945 angeschmolzene Basaltblock blieb an seinem Platz. 1968 verfügte die DDR-Regierung eine erneute Umgestaltung des Innenraums: Der versehrte Basaltkubus wich einem Block aus Jenaer Glas, in dem eine ewige Flamme brannte, weshalb das Oberlicht mit einer Glasfiberkuppel abgedeckt werden musste. Vor dem Glasblock wurden zwei Urnengräber eingetieft, eines für einen unbekannten Soldaten, eines für einen unbekannten Widerstandskämpfer. An der inneren Stirnseite prangte nun ein großes Staatsemblem der DDR. 1990 wurde es noch vor der Wiedervereingung auf Weisung des damaligen Ministerpräsidenten Lothar de Maizière entfernt.

So trifft man seit 1993 den Innenraum der Neuen Wache an
Die heutige Fassung des Innenraums entstand 1993, als die Neue Wache zur „Zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ umgewidmet wurde. Man näherte sich wieder der Fassung Tessenows an, unter das offene Oberlicht wurde auf Wunsch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl eine vierfach vergrößerte Version der 1937/38 entstandenen Skulptur Mutter mit totem Sohn von Käthe Kollwitz (1867–1945) platziert – eine damals sehr kontrovers diskutierte Entscheidung.

 

Literaturhinweise

Claus, Sylvia: Tanzende Viktorien, irrende Triglyphen. Karl Friedrich Schinkels Neue Wache im Lichte der Architekturtheorie. In: Xenia Riemann u.a. (Hrsg.); Dauer und Wechsel. Festschrift für Harold Hammer-Schenk zum 60. Geburtstag. Lukas Verlag, Berlin 2004, S. 84-95;

Dolff-Bonekämper, Gabi: Neue Wache. In: Johannes Cramer u.A. (Hrsg.), Karl Friedrich Schinkel. Führer zu seinen Bauten. Band I: Berlin und Potsdam. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2006, S. 23-29;

Franck, Georg/Franck, Dorothea: Architektonische Qualität. Carl Hanser Verlag, München 2008, S. 214-219;

Haubrich, Rainer: Karl Friedrich Schinkel. Seine Bauten in Berlin und Potsdam. Nicolai Verlag, Berlin 2013, S. 52-59;

Stölzl, Christoph (Hrsg.): Die Neue Wache Unter den Linden. Ein deutsches Denkmal im Wandel der Geschichte. Koehler & Amelang, Berlin/München 1993.

 

(zuletzt bearbeitet am 26. September 2024)