Donnerstag, 15. Juni 2023

Die unfertige Eva – Auguste Rodins Sündenfall-Skulpturen

Auguste Rodin: Eva (1881); Frankfurt, Städel Museum
Eva ist die erste großplastische Figur im Werk des französischen Bildhauers Auguste Rodin (1840–1917). Die Bronzekulptur wurde ursprünglich im Zusammenhang des seit 1880 in staatlichem Auftrag entstehenden Höllentors konzipiert. Die lebensgroße Urmutter sollte zunächst am Mittelpfosten aufgestellt werden, in einem modifizierten Entwurf dann – gemeinsam mit dem Adam – das Tor freistehend flankieren. Diese Idee mag der Bildhauer in Erinnerung an den Foscari-Bogen im Vorhof des Dogenpalastes in Venedig entwickelt haben: Dort sind die beiden überlebensgroßen Adam- und Eva-Statuen von Antonio Rizzo (1430–1499) voneinander getrennt vor jeweils eine Nische gestellt.

Antonio Rizzo: Eva (um 1485); Venedig, Dogenpalast
Da Rodins Auftraggeber die Aufstellung der Stammeltern im Kontext des Höllentors jedoch ablehnte, vereinzelte der Künstler die Eva zur Freifigur. Als eigenständige Plastik wurde sie erstmals 1899 in Paris der Öffentlichkeit präsentiert. Allerdings wirkte die unregelmäßige, grobe, fast raue Oberfläche – insbesondere am Bauch, aber auch an der linken Hand und am Kopf – auf das ansonsten sehr wohlwollende Publikum wie nicht vollendet. Denn auf das abschließende Glätten und Polieren der Bronzefigur zu verzichten, war zur damaligen Zeit revolutionär. Die sichtbaren Gussnähte und Armierungen verstärkten diesen Eindruck noch. Und genau dieser Effekt war auch von Rodin beabsichtigt. Er führte das sogenannte Non-Finito, das Unfertige, als wichtiges Stilmittel in die moderne Plastik ein und legte durch die skizzenhafte Ausführung seiner Skulpturen den künstlerischen Gestaltungsprozess offen.

Michelangelo: Vertreibung aus dem Paradies (1508-1512), Rom, Sixtinische Kapelle
Rodin zeigt Eva nicht als Verführerin, wie sie so oft in der Kunstgeschichte dargestellt wurde, sondern im Moment der Vertreibung aus dem Garten Eden. Dabei hat er seine Figur formal wie inhaltlich Michelangelos Sündenfall-Darstellung in der Sixtinischen Kapelle angenähert. Mit dem rechten Arm bedeckt Eva ihre Brüste; den linken hat sie angewinkelt und erhoben, um ihr Gesicht zu verbergen. Der Kopf ist tief herabgebeugt und nach links gewendet. Aber es ist weniger die Scham über die eben entdeckte Nacktheit, die ihre Gestik motiviert, als tiefe Reue und innerste Verzweiflung über die unbedachte, folgenschwere Tat.

Für Rainer Maria Rilke (1875–1925), der die Eva in seinem Rodin-Buch von 1902 beschrieben hat, drückt die Haltung der Urmutter nicht allein Scham angesichts ihrer Verfehlung aus. Sie erkennt zugleich, dass sie schwanger ist und damit, da sich die Erbsünde auf das Menschengeschlecht übertragen wird, der Ursprung von dessen Unheilsgeschichte. Bei Rilke heißt es: „Der Kopf senkt sich tief in das Dunkle der Arme, die sich über der Brust zusammenziehen wie bei einer Frierenden. Der Rücken ist gerundet, der Nacken fast horizontal, die Haltung vorgebogen wie zu einem Lauschen über dem eigenen Leibe, in dem eine fremde Zukunft sich zu rühren beginnt.“ (Rilke 1965, S.161/162)

Paul Dubois: Die Geburt der Eva (1875);
Paris, Petit Palais
Jean-Antoine Houdon: Die Frierende (1783);
Montpellier, Musée Fabre
Neben den Michelangelo-Anlehnungen gibt es noch zwei Skulpturen französischer Bildhauer, die als mögliche weitere Anregungen für Rodins Eva gelten: Paul Dubois’ Geburt der Eva von 1873 und Die Frierende von Jean-Antoine Houdon, 1783 entstanden. Von seiner Eva schuf Rodin bis 1901 verschiedene, zum Teil im Format reduzierte Varianten in unterschiedlichen Materialien.

Auguste Rodin: Adam (1912 gegossen);
New York, Metropolitan Museum
Michelangelo: Pietà Bandini (unvollendet);
Florenz, Museo dellOpera del Duomo
Michelangelo: Die Erschaffung Adams (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Die um 1877/78 begonnene Skulptur des Adam belegt die Bewunderung Rodins für Michelangelo, dessen Werke er bei seiner ersten Italienreise Anfang 1876 entdeckt hatte: Die Skulptur des Urvaters ist deutlich erkennbar von der Christusfigur der Pietà Bandini inspiriert (heute im Museo dell’Opera del Duomo in Florenz) – insbesondere der auf die Schulter geneigte Kopf, das gebeugte Bein und die Drehung des linken Armes. Der rechte Arm des Adam wiederum verweist auf Michelangelos Fresko Die Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Das Gipsmodell des Adam wurde im Mai 1881 im Pariser Salon als eigenständige Figur ausgestellt; sie trug dort noch den Titel Die Erschaffung des Menschen. In der Tat ist Adam in dem Moment dargestellt, als er aus dem Schöpfungslehm ersteht: Sein rechter Arm zeigt sehr anschaulich, dass er nach und nach zum Leben erweckt wird.

 

Literaturhinweise

Le Normand-Romain, Antoinette: „Eine der schönsten Inkarnationen der ersten Frau“. Die Figur der Eva. In:  Agnes Husslein-Arco/Stephan Koja, Rodin und Wien. Hirmer Verlag, Münchewn 2010, S. 67-82;

Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Fünfter Band: Worpswede. Auguste Rodin. Aufsätze. Insel Verlag. Frankfurt am Main 1965.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen