|
Auguste Rodin: Eva (1881); Frankfurt, Städel Museum
|
Eva ist die erste
großplastische Figur im Werk des französischen Bildhauers Auguste Rodin
(1840–1917). Die Bronzekulptur wurde ursprünglich im Zusammenhang des seit 1880
in staatlichem Auftrag entstehenden Höllentors
konzipiert. Die lebensgroße Urmutter sollte zunächst am Mittelpfosten
aufgestellt werden, in einem modifizierten Entwurf dann – gemeinsam mit dem Adam – das Tor freistehend flankieren. Diese
Idee mag der Bildhauer in Erinnerung an den Foscari-Bogen
im Vorhof des Dogenpalastes in Venedig entwickelt haben: Dort sind die beiden
überlebensgroßen Adam- und Eva-Statuen von Antonio Rizzo (1430–1499)
voneinander getrennt vor jeweils eine Nische gestellt.
|
Antonio Rizzo: Eva (um 1485); Venedig, Dogenpalast
|
Da Rodins Auftraggeber die Aufstellung
der Stammeltern im Kontext des Höllentors
jedoch ablehnte, vereinzelte der Künstler die Eva zur Freifigur. Als eigenständige Plastik wurde sie erstmals
1899 in Paris der Öffentlichkeit präsentiert. Allerdings wirkte die unregelmäßige,
grobe, fast raue Oberfläche – insbesondere am Bauch, aber auch an der linken
Hand und am Kopf – auf das ansonsten sehr wohlwollende Publikum wie nicht
vollendet. Denn auf das abschließende Glätten und Polieren der Bronzefigur zu
verzichten, war zur damaligen Zeit revolutionär. Die sichtbaren Gussnähte und
Armierungen verstärkten diesen Eindruck noch. Und genau dieser Effekt war auch
von Rodin beabsichtigt. Er führte das sogenannte Non-Finito, das Unfertige, als wichtiges Stilmittel in die moderne
Plastik ein und legte durch die skizzenhafte Ausführung seiner Skulpturen den
künstlerischen Gestaltungsprozess offen.
|
Michelangelo: Vertreibung aus dem Paradies (1508-1512), Rom, Sixtinische Kapelle
|
Rodin zeigt Eva nicht als Verführerin,
wie sie so oft in der Kunstgeschichte dargestellt wurde, sondern im Moment der
Vertreibung aus dem Garten Eden. Dabei hat er seine Figur formal wie inhaltlich
Michelangelos Sündenfall-Darstellung in der Sixtinischen Kapelle angenähert. Mit
dem rechten Arm bedeckt Eva ihre Brüste; den linken hat sie angewinkelt und erhoben,
um ihr Gesicht zu verbergen. Der Kopf ist tief herabgebeugt und nach links
gewendet. Aber es ist weniger die Scham über die eben entdeckte Nacktheit, die
ihre Gestik motiviert, als tiefe Reue und innerste Verzweiflung über die
unbedachte, folgenschwere Tat.
Für Rainer Maria Rilke (1875–1925), der
die Eva in seinem Rodin-Buch von 1902
beschrieben hat, drückt die Haltung der Urmutter nicht allein Scham angesichts
ihrer Verfehlung aus. Sie erkennt zugleich, dass sie schwanger ist und damit, da
sich die Erbsünde auf das Menschengeschlecht übertragen wird, der Ursprung von
dessen Unheilsgeschichte. Bei Rilke heißt es: „Der Kopf senkt sich tief in das
Dunkle der Arme, die sich über der Brust zusammenziehen wie bei einer
Frierenden. Der Rücken ist gerundet, der Nacken fast horizontal, die Haltung vorgebogen
wie zu einem Lauschen über dem eigenen Leibe, in dem eine fremde Zukunft sich
zu rühren beginnt.“ (Rilke 1965, S.161/162)
|
Paul Dubois: Die Geburt der Eva (1875); Paris, Petit Palais
|
|
Jean-Antoine Houdon: Die Frierende (1783); Montpellier, Musée Fabre
|
Neben den Michelangelo-Anlehnungen gibt
es noch zwei Skulpturen französischer Bildhauer, die als mögliche weitere
Anregungen für Rodins Eva gelten: Paul
Dubois’ Geburt der Eva von 1873 und Die Frierende von Jean-Antoine Houdon,
1783 entstanden. Von seiner Eva schuf
Rodin bis 1901 verschiedene, zum Teil im Format reduzierte Varianten in
unterschiedlichen Materialien.
|
Auguste Rodin: Adam (1912 gegossen); New York, Metropolitan Museum
|
|
Michelangelo: Pietà Bandini (unvollendet); Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
|
|
Michelangelo: Die Erschaffung Adams (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
|
Die um 1877/78 begonnene Skulptur des Adam belegt die Bewunderung Rodins für
Michelangelo, dessen Werke er bei seiner ersten Italienreise Anfang 1876
entdeckt hatte: Die Skulptur des Urvaters ist deutlich erkennbar von der
Christusfigur der Pietà Bandini
inspiriert (heute im Museo dell’Opera del Duomo in Florenz) – insbesondere der
auf die Schulter geneigte Kopf, das gebeugte Bein und die Drehung des linken
Armes. Der rechte Arm des Adam
wiederum verweist auf Michelangelos Fresko Die
Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Das Gipsmodell des Adam wurde im Mai 1881 im Pariser Salon als
eigenständige Figur ausgestellt; sie trug dort noch den Titel Die Erschaffung des Menschen. In der Tat
ist Adam in dem Moment dargestellt, als er aus dem Schöpfungslehm ersteht: Sein rechter Arm zeigt sehr anschaulich, dass er nach und nach zum Leben erweckt
wird.
Literaturhinweise
Le Normand-Romain, Antoinette: „Eine der schönsten
Inkarnationen der ersten Frau“. Die Figur der Eva. In: Agnes
Husslein-Arco/Stephan Koja, Rodin und Wien. Hirmer Verlag, Münchewn 2010, S.
67-82;
Rilke, Rainer Maria: Sämtliche
Werke. Fünfter Band: Worpswede. Auguste Rodin. Aufsätze. Insel Verlag.
Frankfurt am Main 1965.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen