Mittwoch, 12. Juli 2023

Die Welt ist eine Scheibe – der „Diskobol“ im Frankfurter Liebieghaus

Diskobol (röm. Marmorkopie einer griech. Bronzestatue aus dem 5. Jh.v.Chr.);
Frankfurt, Liebieghaus (für die Großansicht einfach anklicken)

Zu den Glanzstücken im Frankfurter Liebieghaus – einer bedeutenden Skulpturensammlung am dortigen Museumsufer, die ich regelmäßig aufsuche – zählt die Skulptur eines antiken griechischen Athleten: Die Rede ist von einem Diskuswerfer, dem sogenannten Diskobol. Gezeigt wird er bei seinem Antritt zum Wurf, also in höchster Konzentration und Anspannung. Bei der 176,5 cm hohen Figur handelt es sich um die römische Marmorkopie einer griechischen Statue aus dem späten 5. Jahrhundert v.Chr., die wahrscheinlich in Bronze ausgeführt war.

Das Körpergewicht des Athleten wird vor allem vom linken Bein getragen, das jedoch nicht kraftvoll durchgedrückt wird, sondern leicht eingeknickt einen elastisch federnden Stand verrät. Entsprechend sind alle Muskeln angespannt. Der Fuß ist mit ganzer Sohle aufgesetzt, aber nur seine Innenseite wird voll belastet. Das rechte Bein greift weit nach vorn und zur Seite aus und knickt dabei ebenfalls leicht ein. Die Muskeln sind hier nicht weniger angespannt, und wie der linke Fuß tritt auch der rechte mit ganzer Sohle auf und wird dennoch auch nur auf der Innenseite voll belastet. Zwischen Stand- und Spielbein ist zwar unterschieden, doch wird der Gegensatz nicht konsequent beachtet: Das Standbein gibt unter der Anspannung etwas nach. Ein Teil des Gewichts wird daher an das Spielbein weitergegeben. Somit haben beide Beine an Tragen und Entlastung Anteil.

Kopf und rechte Hand sind neuzeitlich ergänzt
Der linke, den Diskus tragende Arm hängt herab, aber wie das Spielbein das Gewicht des Körpers mitträgt, ist auch der Arm nicht völlig gelockert, sondern etwas angezogen und seine Muskeln angespannt. Dabei lassen die gespreizten Finger der Hand eine Konzentration erkennen, die ja die ganze Figur erfüllt. Allerdings ist diese Hand nicht original, sondern wurde von einem Restaurator ergänzt. In der Antike war deren Geste verhaltener. Wie aus erhaltenen Resten einer Replik im Vatikan hervorgeht, war der Zeigefinger ursprünglich nur leicht gekrümmt, während sich die übrigen Finger mehr und mehr zum Handteller zurückbogen.

Der ebenfalls ergänzte Kopf neigte sich ehemals etwas nach rechts. Heute ist er dagegen fast ganz erhoben und entschiedener nach rechts gedreht. „Der Restaurator wollte den Diskobolen offenbar mit dem Blick die Strecke abschätzen lassen, welche die Wurfscheibe durchmessen sollte“ (Bol 1996, S. 29). Der Kopf wirkt im Verhältnis zum Rumpf etwas zu klein und zu zierlich. „Offenbar war dem Restaurator entgangen, daß der von ihm herangezogene Kopf keinen Jüngling, sondern einen Knaben wiedergibt, bei dem der Hals im Verhältnis zum Kopf stärker ausgebildet war als bei einem Manne“ (Bol 1996, S. 30). Der originale Kopf des Diskobol war im 17. Jahrhundert von einem Vorbesitzer ab- oder ganz zerschlagen worden, als der spanische König ein Auge auf die Statue geworfen hatte und auf Verkauf drängte. Kaum fehlte dem Werk das Haupt, verzichtete die spanische Krone auf den Handel.

Hinter dem linken Baum des Diskobol ist der Stumpf einer Palme zu sehen: Sie trägt bereits auf Kniehöhe des Athleten Fruchtdolden, die Blattansätze folgen wie rein geometrische Ornamente aufeinander, sodass sie sich mit den Früchten streng symmetrisch um den Stamm legen. Der Palmstumpf, mit dem linken Bein verbunden und bis zur Mitte des Oberschenkels emporwachsend, dient einerseits als Stütze: Auf Stützen und Verstrebungen konnten antike Marmorskulpturen nicht immer verzichten; sie waren kein Teil der Darstellung, der Betrachter sollte über sie hinwegsehen. Man verlegte sie daher gerne an Stellen, an denen das Gesamtbild möglichst wenig beeinträchtigt wurde. Andererseits hat die Palme beim Diskobol auch Symbolcharakter, denn der Palmzweig gebührte dem erfolgreichen Athleten oder dem siegreichen Krieger. Die Palme galt als besonders langlebig und versinnbildlicht deswegen, wie es bei dem antiken Schriftsteller Plutarch heißt, die Dauer des Ruhms, zumal er harte und immergrüne Blätter trage.

Diskobol (röm. Marmorkopie); Paris, Louvre
Der Diskuswurf war im Altertum keine eigenständige Wettkampf-Disziplin, sondern gehörte zum Pentathlon, dem Fünfkampf, der außerdem den Wettlauf, den Weitsprung, den Speerwurf und den Ringkampf umfasste. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei dem Frankfurter Diskobol um eine Statue, die ursprünglich anlässlich eines Sieges im Pentathlon bei einem der großen Wettkämpfe errichtet wurde. Die früheste bislang bekannte Marmorreplik ist eine schon von Goethe bewunderte Statue, die 1771 vor den Toren Roms an der Via Appia gefunden wurde und heute in der Sala della Biga im Vatikan besichtigt werden kann. Sie trägt einen Kopf, der nicht ursprünglich zu ihr gehörte, da sein Marmor von dem des Rumpfes abweicht. Eine weitere römische Marmornachbildung des Diskobol ist im Louvre ausgestellt.

Myron: Diskobol (röm. Marmorkopie einer griech. Bronzestatue
aus dem 5. Jh.v.Chr.); Rom, Museo Nazionale Romano
Natürlich muss der Skulptur im Liebieghaus ein weiterer antiker Diskuswerfer an die Seite gestellt werden: die noch berühmtere Statue des Myron, einem der bedeutendsten griechischen Bildhauer des Altertums. Überliefert ist das nicht mehr vorhandene, wohl zwischen 460 und 450 v.Chr geschaffene Bronzeoriginal ebenfalls durch eine römische Marmorkopie, die 1781 auf dem Esquilin in Rom gefunden wurde. In Rom ist sie auch heute noch zu bewundern, und zwar im Museo Nazionale Romano.

Der Diskobol des Myron zeigt einen unbekleideten Athleten, der leicht in die Knie geht und sein Gewicht auf dem rechten Standbein ausbalanciert. Hinter dem Standbein ist der linke Fuß gekreuzt mit der Spitze auf dem Boden abgelegt. Den leicht gekrümmten Oberkörper dreht der Athlet oberhalb der Hüfte um beinahe 90 Grad zu seiner rechten Seite und fächert ihn damit als Hauptansicht der Skulptur zum Betrachter hin auf. Die Drehung seines Kopfes setzt diese Torsion fort und richtet so den Blick in Richtung seiner Wurfscheibe, die er mit der ausgestreckten und nach hinten gedrehten rechten Hand flach umgreift. Seine linke Hand hat er dagegen auf dem rechten Knie abgelegt. Das ruhige, nahezu ausdrucklos-idealisierte Gesicht lässt von der körperlichen Anspannung nichts erahnen.

Myron hält in seiner Statue genau den kurzen Moment fest, in dem der Anschwung des Athleten in einer Verwringung des Körpers endet, der Werfer stillzustehen scheint und der eigentliche Wurf unmittelbar bevorsteht. Der Athlet wird sich im Anschluss an die Eindrehung noch zu dreiviertel oder eindreiviertelmal um sich selbst drehen, um aus diesem Schwung heraus den Diskus zu werfen. Die präzise modellierte, aber dennoch idealisiert-schematisierte Muskulatur ist so in Spannung gehalten, wie es der dargestellte Augenblick erfordert.

Manche Archäologen vermuten, dass es sich bei diesen beiden Diskobolen nicht um Athletendarstellungen handelt, sondern eine Gestalt der griechischen Mythologie gemeint ist: Hyakinthos, der tragisch endende Geliebten des Gottes Apoll. Hyakinthos und Apoll, die eine starke Liebe verband, übten sich im Diskuswurf; der Windgott Zephyr entbrannte in Eifersucht und lenkte Apolls Diskus in der Luft ab – der Hyakinthos tödlich am Kopf traf. Das aus seiner Wunde hervorquellende Blut tränkte die Erde und ließ die Hyazinthe entstehen. Der Palmenstumpf des Frankfurter Diskobol wird in dieser Deutung zum Hinweis auf Apoll: An diesen Baum gelehnt, hatte Leto, die Geliebte des Zeus, ihre Kinder Artemis und Apoll geboren.

 

Literaturhinweise

Bol, Peter C.; Der Antretende Diskobol. Verlag Philipp von Zabern, Darmstdt 1996;

Brinkmann, Vinzenz: Zurück zur Klassik. In: Vinzenz Brinkmann (Hrsg.), Zurück zur Klassik. Ein neuer Blick auf das alte Griechenland. Hirmer Verlag, München 2013, S. 15-57;

Klünker, Annegret: Zwischen Ideal und ,Wirklichkeit‘ – die Statuen griechischer Athleten. In: Christiane Nowak/Lorenz Winkler-Horaček (Hrsg.), Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Realismen in der griechischen Plastik. Verlag Marie Leidorf, Rahden/Westfl. 2018, S. 77-94;

Linfert, Andreas: Statue des Antretenden Diskobolen mit antikem, aber nicht ursprünglich zugehörigem Kopf. In: Herbert Beck u.a. (Hrsg.); Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1990, S. 603-605.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen