Samstag, 29. September 2012

Margaret Atwood: Manets Olympia

Edouard Manet: Olympia (1863); Paris, Musée d’Orsay
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Manet’s Olympia

She reclines, more or less.

Try that posture, it’s hardly languor.
Her right arm sharp angles.

With her left she conceals her ambush.

Shoes but not stockings,

how sinister. The flower

behind her ear is naturally

not real, of a piece

with the sofa’s drapery.

The windows (if any) are shut.

This is indoor sin.

Above the head of the (clothed) maid

is an invisible voice balloon: Slut.

But. Consider the body,
unfragile, defiant, the pale nipples

staring you right in the bull’s-eye.

Consider also the black ribbon

around the neck. What’s under it?
A fine red threadline, where the head

was taken off and glued back on.

The body’s on offer,

but the neck’s as far as it goes.

This is no morsel.

Put clothes on her and you’d have a schoolteacher,

the kind with the brittle whiphand.

There’s someone else in this room.

You, Monsieur Voyeur.

As for that object of yours

she’s seen those before, and better.



I, the head, am the only subject

of this picture.

You, Sir, are furniture.

Get stuffed.

Margaret Atwood



Manets Olympia

Sie liegt mehr oder minder hingegossen da.
Probieren Sie mal die Pose, träge ist sie nicht.
Der rechte Arm scharf abgeknickt.
Der linke verbirgt den Hinterhalt.
Schuhe, aber keine Strümpfe,
wie tückisch. Die Blume
hinter ihrem Ohr ist natürlich
unecht, sie passt zum Überwurf des Diwans.
Die Fenster (falls vorhanden) sind geschlossen.
Diese Sünde findet im Saale statt.
Über dem Kopf der (bekleideten) Magd
eine unsichtbare Sprechblase: Schlampe.

Aber. Beachten Sie den Körper,
unzerbrechlich, trotzend, die bleichen Brüste,
starrend wie Revolverläufe.
Beachten Sie auch das schwarze Band
um den Hals. Was ist darunter?
Eine dünne rote Linie, wo der abgeschlagene Kopf
einst wieder aufgesetzt wurde.
Der Körper ist im Angebot,
doch nur bis zum Hals, weiter nicht.
Mit der Frau ist nicht zu spaßen.
Ziehn Sie ihr Kleider an, und sie wird zur Lehrerin,
eine, der die Gerte locker sitzt.

Da sitzt noch jemand im Zimmer.
Sie, Monsieur Voyeur.
Und was ihr Ding da angeht,
so was hat sie schon gesehen, und bessere.

Ich, der Kopf, bin das einzige Subjekt
auf diesem Bild.
Sie, werter Herr, sind Mobiliar.
Kusch, in die Ecke!

Margaret Atwood
(übersetzt von Beatrice Howeg)

Mittwoch, 19. September 2012

Tiefer sinken geht nicht – Rubens malt den verlorenen Sohn bei den Schweinen


Peter Paul Rubens: Der verlorene Sohn bei den Schweinen (um 1618); Antwerpen, Musées Royeaux des Beaux Art
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Im Gleichnis vom verlorenen Sohn heißt es: „Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm“ (Lukas 15,16; LUT). Das ist die Szene, die der Barockmaler Peter Paul Rubens (1577–1640) in seinem Antwerpener Gemälde zeigt (um 1618). Rubens folgt bei seiner Darstellung Albrecht Dürers bekanntem Kupferstich (siehe meinen Post Der Künstler am Schweinetrog“), wenn er die Begebenheit auf einem Bauernhof spielen lässt.
Albrecht Dürer: Der verlorene Sohn bei den Schweinen (1496/97); Kupferstich
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Das Motiv, das dem Bild seinen Titel gibt, wird bei Rubens allerdings in die rechte Bildecke gedrängt: Eine Magd, die den Trog für die Schweine füllt, reagiert auf die Not des Zerlumpten (dessen Beinstellung auch an Dürers Grafik erinnert) kühl und distanziert; hinter den Stützpfeilern der Scheune beobachtet ein bärtiger Landarbeiter das Geschehen argwöhnisch. Als der Geringste unter den Tagelöhnern des Bauern ist der verlorene Sohn völlig sich selbst überlassen: Will er seinen Hunger stillen, dann muss er die Schoten an sich reißen, sich den Schweinen gleichmachen.
Das biblische Gleichnis macht damit deutlich, wie weit dieser Sohn heruntergekommen ist: Sich bei einem Schweinezüchter zu verdingen, war für einen Israeliten schlichtweg verwerflich. Schweine waren (und sind noch immer) für Juden unreine Tiere, und wer mit ihnen in Berührung kam, verunreinigte sich selbst. Nur ein Heide, der sich nicht um das Gesetz Gottes schert, konnte überhaupt auf den Gedanken kommen, Schweine zu züchten. Tiefer kann dieser Sohn nicht sinken, sagt das Gleichnis, weiter kann er sich nicht von seinem Vater entfernen. Aber dieser Tiefpunkt ist zugleich auch der Wendepunkt, wie das Gleichnis berichtet: „Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir“ (Lukas 15,17-18; LUT).
Albrecht Dürer: Die Geburt Christi (1504); Kupferstich
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Die Konstruktion der Scheune erlaubt es Rubens, das Spiel von vertikalen und horizontalen Linien sowie rechten Winkeln bewusst einzusetzen – eine perspektivische Gestaltung, die an Dürers Kupferstich Die Geburt Christi (1504) erinnert. In der Scheune selbst hat der Maler so viele der Lokalität entsprechende Menschen, Tiere und Gerätschaften vereint, wie man in einem so engen Raum überhaupt unterbringen kann. Das Einstallen der Pferde und Rinder mit all den dazugehörigen Tätigkeiten schafft eine ganz eigene Szene voll heiter-gelassener Bewegtheit. Das Scheunentor gibt den Blick frei auf das Bauernhaus mit einem Taubenschlag auf dem Dach; dahinter führt ein Mann im Licht der untergehenden Sonne zwei Pferde an einen Teich, um sie zu tränken. Es ist vor allem der Stall mit seinen Tieren und den landwirtschaftlichen Geräten, der unseren Blick auf sich zieht. Erst dann nehmen wir auf der rechten Seite das Bauernmädchen und den verzweifelten Sohn wahr, der mit den Schweinen das Futter teilen will. Der Gedanke drängt sich auf, dass für Rubens der eigentliche Anlass zu dem Gemälde die landschaftliche Szenerie und nicht das biblische Gleichnis war.
Ungewöhnlich an Rubens’ Bild ist, dass die dunkle Scheune auch eine Studie über künstliches Licht und dessen Schattenbildung enthält, obwohl es sich um eine Szene bei Tag handelt. Der Maler hat nämlich zwei Kerzen eingefügt: eine an der Wand neben dem Stalljungen, der Heu zusammenharkt, und eine weitere, teilweise verdeckte in der Hand der alten Frau neben den Kühen. Von der farbigen Jacke des Mädchens abgesehen, herrschen die natürlichen Braun-, Grün- und Blautöne der Landschaft vor, sodass die Figuren nicht so deutlich hervortreten wie auf anderen Bildern Rubens aus dieser Zeit.

Literaturhinweise
Büttner, Nils: Rubens. Verlag C.H. Beck, München 2007;
Simson, Otto von: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996.;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 1. Mai 2020)

Samstag, 15. September 2012

Jesus, der „Judenbengel“ – Max Liebermanns Skandalbild

Max Liebermann: Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1879); Hamburg, Kunsthalle
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Der zwölfjährige Jesus im Tempel von Max Liebermann (1847–1935) ist erstmals 1879 auf der „Internationalen Kunstausstellung“ im Münchner Glaspalast ausgestellt worden. Die jüngeren Münchner Künstler nahmen das Bild zwar begeistert auf, aber die Öffentlichkeit reagierte schockiert. Vor allem klerikale und antijüdische Kreise verlangten, es aus der Ausstellung zu entfernen. Die Kritik nahm hauptsächlich Anstoß am unverblümten Realismus des Gemäldes. Friedrich Pecht, der Kunstkritiker der „Augsburger Allgemeine Zeitung“, bezeichnete die Figur Jesu als „den häßlichsten, naseweisesten Juden-Jungen, den man sich denken kann“, und die dargestellten Schriftgelehrten wurden als „ein Pack der schmierigsten Schacherjuden“ beschimpft (Howoldt 1997, S. 107). In der Sitzung des bayerischen Landtags vom 15. Januar 1880 wiederholten sich diese Angriffe anlässlich einer Debatte über den Kulturetat und Kunstausstellungen. Besonders die Figur des Jesusknaben erregte Ärgernis.
Eine Fotografie des ursprünglichen Gemäldes zeigt, welche Veränderungen Liebermann nach der Kritik an seinem Jesusknaben vornahm
In der ursprünglichen Fassung des Bildes, die Liebermann vermutlich schon vor 1883 überarbeitet hat, war Jesus noch „unansehnlicher“: „barfüßig, mit einem ärmlichen, kurzen Kittel, buckligem Rücken und fast halslosem Kopf (...) eindeutig als Judenknabe mit kurzen Ansätzen von Schläfenlocken und einer stark ausgeprägten Nase charakterisiert“ (Stückelberger 1996, S. 81). Liebermann überarbeitete das Bild: Er zog dem Knaben Sandalen an, verlängerte den Kittel und übermalte Gesicht und Haartracht. Doch das Gemälde sti weiterhin auf deutliche Ablehnung. Auch die antiakademische Malweise, eine  „Fleckstruktur“ (Gross 1983, S. 553), und die extrem monochrome Farbgestaltung – dunkle, gebrochen-stumpfe Brauntöne, die mit schmutzigen Helligkeitswerten kontrastieren – riefen großes Unverständnis hervor. Den Künstler trafen die Kritiken, die nicht nur seinem Bild, sondern auch ihm als Juden galten, tief.
Fritz von Uhde: Lasset die Kindlein zu mir kommen (1884); Leipzig, Museum der bildenden Künste
Nach dem Eklat in München stellte Liebermann das inzwischen überarbeitete Bild 1884 in Paris aus und dann nochmals 1907 in einer Ausstellung zu seinem sechzigsten Geburtstag. Diesmal reagierte das Publikum begeistert. Es sah in dem Bild einen Vorläufer der inzwischen beliebten „Armeleutemalerei“ – religiöse Historienbilder, die vor allem mit dem Namen Fritz von Uhde (1848–1911) verbunden sind. Uhde war es übrigens auch, der Liebermanns Zwölfjährigen Jesus im Tausch gegen seinen Leierkastenmann erwarb. 1911 wurde das Gemälde schließlich von der Hamburger Kunsthalle aus Uhdes Nachlass angekauft, 1941 von den Nationalsozialisten wieder entfernt.
Die Idee zu seinem Gemälde soll Liebermann 1876 während eines Aufenthaltes in Amsterdam in der dortigen Portugiesischen Synagoge gekommen sein. Auf diesen Schauplatz griff der Maler dann auch bei rechten Hälfte seines Bildes zurück. Der ganze vordere Raumauschnitt mit der Wendeltreppe wiederum stammt aus der Synagoge in Venedig, die Liebermann im Herbst 1878 besucht hatte. Neben den realen Örtlichkeiten, die Liebermann als Vorlage dienten, arbeitete er auch mit realen Modellen. Die Gesichter der Schriftgelehrten und des Jesusknaben sind Porträts. Liebermann hat die Figuren weder idealisiert noch lächerlich gemacht; und die Schriftgelehrten sind auch nicht karikiert dargestellt (wie etwa auf Albrecht Dürers Zwölfjährigem Jesus von 1506). 
Albrecht Dürer: Jesus unter den Schriftgelehrten (1506); Madrid, Museum Thyssen-Bornemisza
Vor allem aber ist der junge Christus nicht geschönt. In einem schlichten, ärmellosen Gewand, die Füße in groben Sandalen, zeigt ihn der Maler halb vom Rücken her und mit verlorenem Profil, wie er mit einem der Alten diskutiert. Seine Hände sind nicht zu einer weihevollen Geste erhoben, sondern argumentieren. Bei Liebermann ist die biblische Geschichte kein lange zurückliegendes historisches Ereignis, sondern in eine zeitgenössische Synagoge verlegt, mit alltäglichen Figuren in der für einen Synagogenbesuch vorgeschriebenen Kleidung. „Betont realistisch sind besonders die Gesichter gesehen, die tiefen Falten, die rotgeränderten Augen, die struppigen Haare. Schuhe und Kleidung erscheinen abgetragen“ (Howoldt 1997, S. 106).
Liebermann hatte sich mit der ersten Fassung seines Bildes – und das sicherlich bewusst – gegen die traditionelle Darstellungsweise dieses Themas gewandt, die vor allem im 19. Jahrhundert Jesus als mit Nimbus versehene, engelhafte Lichtgestalt präsentiert, mit lieblichen Gesichtszügen, in kindlicher Unschuld und Reinheit und von göttlichem Wesen erfüllt inmitten der Schriftgelehrten oder über diese erhöht. Die Juden sind meist als dunkler oder pittoresk bunter Kontrast dazu in hilflosem Erstaunen und verwirrtem Unverständnis geschildert; nur ihre unverbesserliche Uneinsichtigkeit verhindert es – so der polemische Gehalt dieser Darstellungen –, dass sie die ewige Gültigkeit der Worte Jesu und seine Göttlichkeit erkennen.
Adolph Menzel: Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1851); Hamburg, Kunsthalle
1851 hatte sich Adolph Menzel (1815–1905) in einem Gemälde mit dem biblischen Thema auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu Liebermann idealisiert Menzel den Zwölfjährigen. Sein Nimbus und die edle Gestalt zeichnen ihn als Sohn Gottes aus. Er hat kein direktes Gegenüber, mit dem er diskutiert, sondern wendet sich zur ganzen Gruppe und verweist sie auf die Autorität der Thora. Im Unterschied zu Menzel charakterisiert Liebermann seine Schriftgelehrten nicht ausdrücklich als Juden, wohl aber in der ersten Fassung des Bildes die Person Jesu. „Damit wollte er deutlich machen, was in der Christologie gerne übersehen wird, daß Jesus jüdischer Abstammung war“ (Stückelberger 1996, S. 85). Diese jüdische Perspektive war vermutlich der Hauptgrund für die heftige antisemitische Kritik an dem Bild, die Liebermann mit der Übermalung der Figur Jesu zu entschärfen versuchte. Katrin Boskamp interpretiert die ursprüngliche Fassung des Zwölfjährigen Jesus als Ausdruck von Liebermanns Hoffnung, dass es zwischen Juden und Christen zu einer „Besinnung auf die gemeinsame religiöse Grundlage und zu einem wechselseitigen Austausch“ kommen möge, wie ihn „das neutestamentliche Ereignis in Form des Gesprächs beispielhaft vorwegnahm“ (Boskamp 1994, S. 114).
Es ist ein Gespäch „auf Augenhöhe“, das Jesus und der sitzende, ernsthaft zuhörende Schriftgelehrte führen. Liebermann hat dieser Hauptgruppe einen weiteren, ebenfalls sitzenden Schriftgelehrten zugesellt. Sein Kopf und seine über den Knien verschränkten Hände schließen Jesu Kopf und Hände von Jesus und die seines Gesprächspartners zu einem Kreis, dessen Mitte hell beleuchtet ist. Die Rabbiner „geraten durch das jugendlich-frische Denken des Jesusjungen in Bewegung, in Verwunderung, ja zwei von ihnen, die auf einer Treppenstufe sitzen, scheinen im Dialog ganz auf ihre Autorität zu verzichten, ein völlig neuartiges Motiv“ (Gross 1983, S. 553). Der bei Liebermann am rechten Rand stehende, die ganze Höhe einnehmende Rabbiner entspricht motivisch übrigens direkt der Rückenfigur aus einer Radierung von Rembrandt mit dem gleichen Thema (1654).
Rembrandt van Rijn: Jesus unter den Schriftgelehrten (1654), Radierung (9,5 x 14,4 cm)
Durch die beiden äußeren Rahmenfiguren öffnet Liebermann das Bild zum Betrachter: Er wird auf diese Weise zum Gesprächsteilnehmer. „Die Randfiguren orientieren sich in Blickrichtung und Körperhaltung zur Bildmitte hin und schließen die Bildhälften zusammen“ (Howoldt 1997, S. 105). Nicht nur die Schriftgelehrten verfolgen aufmerksam den Dialog, der im Zentrum stattfindet – auch Joseph und Maria sind anwesend. Die Eltern Jesu waren mit ihrem Sohn nach Jerusalem gekommen, hatten ihn im Festtrubel aus den Augen verloren und und fanden ihn dann, nach dreitägiger Suche, im Tempel wieder (Lukas 2,41-52). Liebermann platziert sie am Fuß und auf der Wendeltreppe im Hintergrund. Joseph hat sein Kind zuerst entdeckt; er wendet sich zu Maria, die, kaum erkennbar und vom oberen Bildrand überschnitten, soeben die Treppe hinabsteigt.
Ein Bilddetail sei noch erwähnt: das auffällige Betpult links im Vordergrund, in dem liturgische Kleider und Bücher aufbewahrt sind – und dem Jesus den Rücken zukehrt. Für Johannes Stückelberger verdeutlicht sich darin die Abkehr Jesu von aller dogmatischen Gelehrtenweisheit.
Max Liebermann: Simson und Delila (1902); Frankfurt, Städel Museum
Die Begegnung mit dem süddeutschen Antisemitismus, die Liebermann und seinem Bild entgegenschlug, waren dem Künstler „so zuwider“ (Liebermann 1978, S. 13), dass er für die meiste Zeit seines Lebens auf religiöse Motive verzichtete. Erst in seinem Spätwerk kommen biblische Themen wieder vor, so etwa die alttestamentliche Szene Simson und Delila (1902).


Literaturhinweise
Boskamp, Katrin: Studien zum Frühwerk von Max Liebermann. Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 1994;
Busch, Günter: Max Liebermann. Maler, Zeichner, Graphiker. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1986, S. 36-39;
Deshmukh, Marion: Max Liebermann, ein Berliner Jude. In: Angelika Wesenberg (Hrsg.), Max Liebermann – Jahrhundertwende. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1997, S. 59-64;
Gross, Friedrich: Max Liebermann, Der zwölfjährige Christus im Tempel. In: Werner Hofmann (Hrsg.), Luther und die Folgen für die Kunst. Prestel-Verlag, München 1983, S. 552-553;
Faass, Martin (Hrsg.): Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik. Max-Liebermann-Gesellschaft, Berlin 2009;
Howoldt, Jenns Eric: Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Zwischen Anerkennung und Kritik. In: Hamburger Kunsthalle (Hrsg.), Max Liebermann. Der Realist und die Phantasie. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997, S.105-108;
Liebermann, Max: Die Phantasie in der Malerei. Schriften und Reden. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1978;
Pucks, Stefan: „Talentiert, aber schmutzig“. Max Liebermanns Frühwerk im Spiegel der deutschen Kunstkritik. In: Hamburger Kunsthalle (Hrsg.), Max Liebermann. Der Realist und die Phantasie. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997, S. 58-63;
Stückelberger, Johannes: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 80-91.  

(zuletzt bearbeitet am 29. Juli 2024)

Sonntag, 9. September 2012

Rainer Maria Rilke: Auferweckung des Lazarus

Rembrandt van Rijn: Auferweckung des Lazarus (1642), Radierung; 15,1 x 11,3 cm

Auferweckung des Lazarus

Also, das tat not für den und den,

weil sie Zeichen brauchten, welche schrieen.

Doch er träumte, Marthen und Marieen

müßte es genügen, einzusehn,

daß er könne. Aber keiner glaubte,

alle sprachen: Herr, was kommst du nun?

Und da ging er hin, das Unerlaubte

an der ruhigen Natur zu tun.

Zürnender. Die Augen fast geschlossen,

fragte er sie nach dem Grab. Er litt.

Ihnen schien es, seine Tränen flossen,

und sie drängten voller Neugier mit.

Noch im Gehen wars ihm ungeheuer,

ein entsetzlich spielender Versuch,

aber plötzlich brach ein hohes Feuer

in ihm aus, ein solcher Widerspruch

gegen alle ihre Unterschiede,

ihr Gestorben-, ihr Lebendigsein,

daß er Feindschaft war in jedem Gliede,

als er heiser angab: Hebt den Stein!

Eine Stimme rief, daß er schon stinke,

(denn er lag den vierten Tag) – doch Er

stand gestrafft, ganz voll von jenem Winke,

welcher stieg in ihm und schwer, sehr schwer

ihm die Hand hob – (niemals hob sich eine

langsamer als diese Hand und mehr)

bis sie dastand, scheinend in der Luft;

und dort oben zog sie sich zur Kralle:

denn ihn graute jetzt, es möchten alle

Toten durch die angesaugte Gruft

wiederkommen, wo es sich herauf

raffte, larvig, aus der graden Lage – –

doch dann stand nur Eines schief im Tage,

und man sah: das ungenaue vage

Leben nahm es wieder mit in Kauf.

Rainer Maria Rilke

Sonntag, 2. September 2012

Ein Maler empfiehlt sich – Hans Holbein porträtiert Thomas Morus und William Warham


Hans Holbein d.J.: Thomas Morus (1527); New York, The Frick Collection
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Im Frühherbst 1526 brach der deutsche Maler Hans Holbein d.J. (1497/98–1543) nach England auf, um dort mit seiner Kunst Geld zu verdienen. In Basel, seinem bisherigen Wirkungsort, schien ihm das wohl nicht mehr im ausreichenden Maß möglich, nachdem der Reformator Ulrich Zwingli bereits Mitte 1524 durchgesetzt hatte, Bilder und Statuen aus den Kirchen zu entfernen; damit verbunden war das Verbot, religiöse Bildwerke zu stiften oder herzustellen. Als Holbein Anfang Dezember in London eintraf, hatte er eine Empfehlung des berühmten Gelehrten Erasmus von Rotterdam an dessen Freund Thomas Morus (1478–1535) im Gepäck. Morus, damals 49 Jahre alt, vermögend und einflussreich, Mitglied des englischen Kronrats und Kanzler des Herzogtums Lancaster, war 1521 geadelt worden und seit 1523 Sprecher des Unterhauses – ein idealer Gönner und Förderer. Der Autor von Utopia (1516) half gern: Holbein fand während seines gesamten ersten England-Aufenthalts (bis 1528) Unterkunft im Haus der Familie Morus. Als Prüfstein für das Können des Künstler gab der Politiker und Humanist ein Porträt in Auftrag. In einem Brief vom 18. Dezember 1526 zeigt er sich von Holbeins Fertigkeiten sehr beeindruckt: „Dein Maler, mein bester Erasmus, ist ein wunderbarer Künstler“, und er verspricht, ihn nach Kräften zu unterstützen.
Morus saß Holbein in einfacher Kleidung Modell. „Um jedoch alle Register seiner Malkunst ziehen zu können, staffiert Holbein ihn auf das Prunkvollste und Edelste aus“ (Bätschmann/Griener 1997, S. 164). Nach Aufpausen der Vorzeichnung auf die Tafel fügte er imponierende Details hinzu: die goldene Ehrenkette mit den schweren s-förmigen Gliedern, den zwischen Rot und Schwarz changierenden Samt, den Pelz  – alles minutiös durchgestaltet, die kostbaren Stoffe sorgfältig und sinnlich erfasst. Morus sitzt vor einer grauen Wand, die weitgehend von einem grünen Seidenvorhang verhüllt wird. Am Kragen und an den Ärmeln wird der weiße Stoff seines Hemdes sichtbar, an den Unterarmen der samtene, karmesinrote Rock, dessen Farbe fast ins Schwarze spielt und der an den Oberarmen offenbar gepufft ist. Morus hat die Arme durch die seitlichen Ärmelschlitze seiner schwarzen, mit Zobel gefütterten Schaube gesteckt. Derselbe braune Pelz liegt auch als mächtiger Kragen über den Schultern. An der Ehrenkette hängt eine große goldene Rose, das Wappenmotiv der Tudors. Als weiteren Schmuck trägt Morus lediglich einen reich gravierten goldenen Ring mit dunklem Stein.
Holbein zeigt Morus in Dreiviertelansicht nach rechts gewendet; seinen rechten Unterarm stützt er auf einen kleinen Sockel, der vom linken Bildrand ins Bild ragt. Unter der überkragenden Deckplatte hat der Künstler im verschatteten Bereich ein Datum in Form einer römischen Steininschrift angebracht: Genannt ist der Tag, an dem das Bild fertiggestellt wurde: „M.D.XXVII. Seitlich beschnitten, ist Morus nahe an den Betrachter herangerückt. In seinen im Schoß zusammengeführten Händen hält er ein gefaltetes Papier. Auf dem im Vergleich zum Körper kleinen Kopf sitzt ein schwares Barett, dessen Ohrenklappen auf der Oberseite zusammengebunden sind; leicht gewellte braune Haare fallen über die Schläfen herab und bedecken das Ohr. Ein leicht ergrauter Dreitagebart sprießt auf Oberlippe, Kinn und Wangen.
Die rote Vorhangkordel hat keine erkennbare Funktion beim Raffen des grünen Wandbehangs. Aber sie ist künstlerisch von Bedeutung, denn sie wirft einen schwarzen Schlagschatten auf den Vorhang und unterstreicht damit, dass sich der Bildraum dreidimensional erstreckt. Die kühne Koloristik – der Kontrast aus satten Grün- und komplementären glühenden Rottönen – und die außergewöhnliche stoffliche Wiedergabe, die das Morus-Bildnis auszeichnen, sollten zu einem Markenzeichen auch der späteren Porträts Holbeins werden.
Hans Holbein d.J.: William Warham (1527); Paris, Musée du Louvre
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Morus’ Porträt war bestens geeignet, Holbein in England einzuführen. 1527 erhielt er den Auftrag, einen der wichtigsten Förderer des Erasmus zu malen, den Erzbischof von Canterbury und Primas der Kirche von England, William Warham. Eine Version des Bildes war für den Palast des Erzbischofs bestimmt, eine zweite ging an Erasmus als Gegengabe für dessen Porträt. Holbein hatte es 1523 angefertigt (siehe meinen Post ,Das bessere Bild zeigen seine Schriften), und er dürfte diesem Porträt in Lambeth Palace, der Londoner Residenz aller Erzbischöfe von Canterbury, wiederbegegnet sein.
Der Maler zeigt Warham als Halbfigur vor einer steinernen Brüstung, ins Dreiviertelprofil nach links gewandt. Zu beiden Seiten des Erzbischofs heben sich die kostbaren Amtsinsignien in dunklem Gold von dem grünen Damastvorhang an der rückwärtigen Wand ab: links das edelsteinbesetzte Vortragekreuz mit dem Wappen Warhams, rechts die perlenbestickte, innen rot gefütterte Bischofsmitra, die über zwei Büchern auf einem kostbaren Orientteppich ruht. In den verbindenden Nodus zwischen Vortragekreuz und silberfarbenem Stab ist das Motto des Erzbischofs eingraviert: AVXILIVM. MEVM. A. D[OMI]NO“ („Meine Hilfe kommt von Gott“). Rechts auf der Brüstung liegt ein geöffnetes Gebetbuch, so als habe der Erzbischof gerade darin gelesen oder als wolle er in Kürze mit der Lektüre beginnen. Es handelt sich offenbar um ein gedrucktes Stundenbuch; aufgeschlagen ist der Beginn der Heiligenfürbitten. Sie sind Teil jeder Messfeier, darüber hinaus aber auch eng mit der Totenfürbitte und dem Totengedächtnis verbunden. Das Stundenbuch nimmt daher, so Jochen Sander, Bezug auf das Bildnis, das Erasmus von Rotterdam William Warham 1524 mit folgenden Worten zugesandt hatte: ... damit du irgend etwas von Erasmus besitzt, wenn Gott mich von hier abberufen hat.“ Warham scheint sich also bei Erasmus für dessen Geschenk dadurch zu bedanken, „daß er seiner in der Messe bzw. bei der Lektüre des Stundenbuches zu gedenken verspricht, wenn jener gestorben sein wird“ (Sander 2005, S. 286).
Die liturgischen Gegenstände werden auf engsten Raum präsentiert – allerdings ist der Ort, an dem der Erzbischof sich befindet, nicht genau zu identifizieren. Seine Hände ruhen auf einem rötlich-braun schimmerndem Goldbrokatkissen. Es ist schwer zu sagen, ob Warham auf einem Stuhl sitzt oder auf einer Bank kniet. „In jedem Fall wird man sagen dürfen, daß der englische Kirchenfürst seine Amtsinsignien zur Seite gestellt hat, um sich dem Gebet zu widmen“ (Müller 1997, S. 184). Das Alter Warhams und die Jahreszahl 1527 stehen am oberen Bildrand auf einem mit Siegellack scheinbar angeklebten Zettel – „ein gemaltes Etikett, das einerseits das Porträt als plane, gemalte Oberfläche bloßstellt, andererseits selbst wieder illusionistisch ist“ (Bätschmann/Griener 1997, S. 168).
Warham ist seinem hohen kirchlichen Rang entsprechend gekleidet; er trägt über einem roten Untergewand ein weißes, mit braunem Pelz gefüttertes und gesäumtes Chorhemd, dazu eine schwarze Stola. Auf dem Haupt sitzt ein eng anliegendes schwarzes Barett mit heruntergeklappten Seitenteilen, unter dem graue Haare sichtbar sind. Das Gesicht des Erzbischofs ist von Altersspuren gezeichnet; tiefe Furchen haben sich in die faltige Haut um Mund, Kinn und Wange gegraben, auf denen ein Bart zu sprießen beginnt. Falten zerfurchen auch die Stirn und umgeben die müde wirkenden Augen.
Hans Holbein d.J.: Erasmus von Rotterdam (1523); London, National Gallery
Auffallend an diesem Bildnis ist vor allem, wie stark sein Aufbau dem des Erasmus-Porträts gleicht; man darf annehmen, dass die Darstellung als Halbfigur ebenso wie die an das Erasmus-Bildnis erinnernde Handhaltung einem Wunsch des Auftraggebers entsprachen. Warham nimmt quasi die Rolle des Bewunderers ein, der dem Genius des Erasmus Respekt zollt; „durch eine Umkehrung der Hierarchie ist er es, der Protektor, der bescheiden die Pose seines Protegés nachahmte“ (Bätschmann/Griener 1997, S. 169). Andreas Beyer sieht in den beiden Porträts „ein visuell geführtes Gespräch“ (Beyer 2006, S. 68): Erasmus hat sein Gesamtwerk vollendet und gibt es nun „in die Hände seines Gönners und Geistesverwandten, die erwartungsvoll auf einem kostbaren Kissen ruhen, bereit, Schriften und Lektüre aufzunehmen“ (Beyer 2006, S. 68).
Nochmals zurück zu Thomas Morus: Nach einem kontinuierlichen politischen Aufstieg war er 1529 von Heinrich VIII. zum Lordkanzler ernannt worden. Doch als sich der englische König von seiner Frau Katharina von Aragon scheiden lassen wollte, um Anne Boleyn heiraten zu können, verweigerte ihm Morus die Unterstützung. Der Konflikt mit der katholischen Kirche spitzte sich zu; Heinrichs wichtigster Berater wurde Thomas Cromwell, der die nötigen Argumente lieferte, warum sich der Klerus dem König zu unterwerfen habe. Am 16. Mai 1632 legte Morus sein Kanzleramt nieder und zog sich aus der Politik zurück. Als er sich 1534 weigerte, den Eid auf die Suprematie des Königs zu leisten, wurde er im Tower inhaftiert und am 6. Juli 1535 wegen Hochverrats hingerichtet. Morus hatte entscheidend dazu beigetragen, dass der Ruhm Holbeins zum königlichen Hof vorgedrungen war – was den Aufstieg des Künstlers jedoch nicht behinderte. Und auch nicht, dass Holbein Morus’ Tochter Margaret porträtierte, die das Haupt des Vaters davor bewahrt hatte, in die Themse geworfen zu werden.
Der um 1450 geborene William Warham war als Vertrauter Heinrichs VII. (1457–1509) seit 1504 Lordkanzler und Erzbischof in Personalunion gewesen. Auch in den ersten Regierungsjahren des jungen Heinrichs VIII., der seinem Vater 1509 auf dem Thron folgte, blieb er dessen leitender Minister. Doch 1515 wurde er in dieser Rolle von Thomas Wolsey abgelöst. Warham konzentrierte sich danach auf seine bischöflichen Aufgaben, zählte aber weiterhin zum politischen Beraterkreis des Königs. Nach Wolseys natürlichem Tod (1530) hatte er die undankbare Aufgabe, den englischen Klerus dazu zu bewegen, der Kirchenpolitik Heinrichs VIII. zuzustimmen, sodass sich der König – ungeachtet der päpstlichen Ablehnung – von Katharina von Aragon trennen konnte. 
 
Literaturtipp 
Wer sich in die Epoche einlesen möchte, in der diese beiden Porträts entstanden sind, dem sei nachdrücklich der ebenso intelligente wie packende Roman „Wölfe“ von Hilary Mantel empfohlen, der die Welt Heinrichs VIII. auf faszinierende Weise begehbar macht.

Literaturhinweise
Bätschmann, Oskar/Griener, Pascal: Hans Holbein DuMont, Köln 1997;
Beyer, Andreas: Das Londoner Interludium. In: Kunstmuseum Basel (Hrsg.), Hans Holbein d.J. Die Jahre in Basel 1515–1532. Prestel Verlag, München u.a. 2006, S. 66-71;
Müller, Jürgen: Von der Odyssee eines christlichen Gelehrten. Eine neue Interpretation von Hans Holbeins Erasmusbildnis in Longford Castle. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 179-211;
Sander, Jochen: Hans Holbein d.J. Tafelmaler in Basel 1515-1532. Hirmer Verlag, München 2005, S. 275-286;
Sickel, Lothar: Holbeins Bildnis des Thomas Morus in Rom. Eine Rezeptionsgeschichte. In: Sebastian Schütze (Hrsg.), Kunst und ihre Betrachter in der Frühen Neuzeit. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2005, S. 35-63.

(zuletzt bearbeitet am 23. März 2020)