Sonntag, 2. September 2012

Ein Maler empfiehlt sich – Hans Holbein porträtiert Thomas Morus und William Warham


Hans Holbein d.J.: Thomas Morus (1527); New York, The Frick Collection
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Im Frühherbst 1526 brach der deutsche Maler Hans Holbein d.J. (1497/98–1543) nach England auf, um dort mit seiner Kunst Geld zu verdienen. In Basel, seinem bisherigen Wirkungsort, schien ihm das wohl nicht mehr im ausreichenden Maß möglich, nachdem der Reformator Ulrich Zwingli bereits Mitte 1524 durchgesetzt hatte, Bilder und Statuen aus den Kirchen zu entfernen; damit verbunden war das Verbot, religiöse Bildwerke zu stiften oder herzustellen. Als Holbein Anfang Dezember in London eintraf, hatte er eine Empfehlung des berühmten Gelehrten Erasmus von Rotterdam an dessen Freund Thomas Morus (1478–1535) im Gepäck. Morus, damals 49 Jahre alt, vermögend und einflussreich, Mitglied des englischen Kronrats und Kanzler des Herzogtums Lancaster, war 1521 geadelt worden und seit 1523 Sprecher des Unterhauses – ein idealer Gönner und Förderer. Der Autor von Utopia (1516) half gern: Holbein fand während seines gesamten ersten England-Aufenthalts (bis 1528) Unterkunft im Haus der Familie Morus. Als Prüfstein für das Können des Künstler gab der Politiker und Humanist ein Porträt in Auftrag. In einem Brief vom 18. Dezember 1526 zeigt er sich von Holbeins Fertigkeiten sehr beeindruckt: „Dein Maler, mein bester Erasmus, ist ein wunderbarer Künstler“, und er verspricht, ihn nach Kräften zu unterstützen.
Morus saß Holbein in einfacher Kleidung Modell. „Um jedoch alle Register seiner Malkunst ziehen zu können, staffiert Holbein ihn auf das Prunkvollste und Edelste aus“ (Bätschmann/Griener 1997, S. 164). Nach Aufpausen der Vorzeichnung auf die Tafel fügte er imponierende Details hinzu: die goldene Ehrenkette mit den schweren s-förmigen Gliedern, den zwischen Rot und Schwarz changierenden Samt, den Pelz  – alles minutiös durchgestaltet, die kostbaren Stoffe sorgfältig und sinnlich erfasst. Morus sitzt vor einer grauen Wand, die weitgehend von einem grünen Seidenvorhang verhüllt wird. Am Kragen und an den Ärmeln wird der weiße Stoff seines Hemdes sichtbar, an den Unterarmen der samtene, karmesinrote Rock, dessen Farbe fast ins Schwarze spielt und der an den Oberarmen offenbar gepufft ist. Morus hat die Arme durch die seitlichen Ärmelschlitze seiner schwarzen, mit Zobel gefütterten Schaube gesteckt. Derselbe braune Pelz liegt auch als mächtiger Kragen über den Schultern. An der Ehrenkette hängt eine große goldene Rose, das Wappenmotiv der Tudors. Als weiteren Schmuck trägt Morus lediglich einen reich gravierten goldenen Ring mit dunklem Stein.
Holbein zeigt Morus in Dreiviertelansicht nach rechts gewendet; seinen rechten Unterarm stützt er auf einen kleinen Sockel, der vom linken Bildrand ins Bild ragt. Unter der überkragenden Deckplatte hat der Künstler im verschatteten Bereich ein Datum in Form einer römischen Steininschrift angebracht: Genannt ist der Tag, an dem das Bild fertiggestellt wurde: „M.D.XXVII. Seitlich beschnitten, ist Morus nahe an den Betrachter herangerückt. In seinen im Schoß zusammengeführten Händen hält er ein gefaltetes Papier. Auf dem im Vergleich zum Körper kleinen Kopf sitzt ein schwares Barett, dessen Ohrenklappen auf der Oberseite zusammengebunden sind; leicht gewellte braune Haare fallen über die Schläfen herab und bedecken das Ohr. Ein leicht ergrauter Dreitagebart sprießt auf Oberlippe, Kinn und Wangen.
Die rote Vorhangkordel hat keine erkennbare Funktion beim Raffen des grünen Wandbehangs. Aber sie ist künstlerisch von Bedeutung, denn sie wirft einen schwarzen Schlagschatten auf den Vorhang und unterstreicht damit, dass sich der Bildraum dreidimensional erstreckt. Die kühne Koloristik – der Kontrast aus satten Grün- und komplementären glühenden Rottönen – und die außergewöhnliche stoffliche Wiedergabe, die das Morus-Bildnis auszeichnen, sollten zu einem Markenzeichen auch der späteren Porträts Holbeins werden.
Hans Holbein d.J.: William Warham (1527); Paris, Musée du Louvre
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Morus’ Porträt war bestens geeignet, Holbein in England einzuführen. 1527 erhielt er den Auftrag, einen der wichtigsten Förderer des Erasmus zu malen, den Erzbischof von Canterbury und Primas der Kirche von England, William Warham. Eine Version des Bildes war für den Palast des Erzbischofs bestimmt, eine zweite ging an Erasmus als Gegengabe für dessen Porträt. Holbein hatte es 1523 angefertigt (siehe meinen Post ,Das bessere Bild zeigen seine Schriften), und er dürfte diesem Porträt in Lambeth Palace, der Londoner Residenz aller Erzbischöfe von Canterbury, wiederbegegnet sein.
Der Maler zeigt Warham als Halbfigur vor einer steinernen Brüstung, ins Dreiviertelprofil nach links gewandt. Zu beiden Seiten des Erzbischofs heben sich die kostbaren Amtsinsignien in dunklem Gold von dem grünen Damastvorhang an der rückwärtigen Wand ab: links das edelsteinbesetzte Vortragekreuz mit dem Wappen Warhams, rechts die perlenbestickte, innen rot gefütterte Bischofsmitra, die über zwei Büchern auf einem kostbaren Orientteppich ruht. In den verbindenden Nodus zwischen Vortragekreuz und silberfarbenem Stab ist das Motto des Erzbischofs eingraviert: AVXILIVM. MEVM. A. D[OMI]NO“ („Meine Hilfe kommt von Gott“). Rechts auf der Brüstung liegt ein geöffnetes Gebetbuch, so als habe der Erzbischof gerade darin gelesen oder als wolle er in Kürze mit der Lektüre beginnen. Es handelt sich offenbar um ein gedrucktes Stundenbuch; aufgeschlagen ist der Beginn der Heiligenfürbitten. Sie sind Teil jeder Messfeier, darüber hinaus aber auch eng mit der Totenfürbitte und dem Totengedächtnis verbunden. Das Stundenbuch nimmt daher, so Jochen Sander, Bezug auf das Bildnis, das Erasmus von Rotterdam William Warham 1524 mit folgenden Worten zugesandt hatte: ... damit du irgend etwas von Erasmus besitzt, wenn Gott mich von hier abberufen hat.“ Warham scheint sich also bei Erasmus für dessen Geschenk dadurch zu bedanken, „daß er seiner in der Messe bzw. bei der Lektüre des Stundenbuches zu gedenken verspricht, wenn jener gestorben sein wird“ (Sander 2005, S. 286).
Die liturgischen Gegenstände werden auf engsten Raum präsentiert – allerdings ist der Ort, an dem der Erzbischof sich befindet, nicht genau zu identifizieren. Seine Hände ruhen auf einem rötlich-braun schimmerndem Goldbrokatkissen. Es ist schwer zu sagen, ob Warham auf einem Stuhl sitzt oder auf einer Bank kniet. „In jedem Fall wird man sagen dürfen, daß der englische Kirchenfürst seine Amtsinsignien zur Seite gestellt hat, um sich dem Gebet zu widmen“ (Müller 1997, S. 184). Das Alter Warhams und die Jahreszahl 1527 stehen am oberen Bildrand auf einem mit Siegellack scheinbar angeklebten Zettel – „ein gemaltes Etikett, das einerseits das Porträt als plane, gemalte Oberfläche bloßstellt, andererseits selbst wieder illusionistisch ist“ (Bätschmann/Griener 1997, S. 168).
Warham ist seinem hohen kirchlichen Rang entsprechend gekleidet; er trägt über einem roten Untergewand ein weißes, mit braunem Pelz gefüttertes und gesäumtes Chorhemd, dazu eine schwarze Stola. Auf dem Haupt sitzt ein eng anliegendes schwarzes Barett mit heruntergeklappten Seitenteilen, unter dem graue Haare sichtbar sind. Das Gesicht des Erzbischofs ist von Altersspuren gezeichnet; tiefe Furchen haben sich in die faltige Haut um Mund, Kinn und Wange gegraben, auf denen ein Bart zu sprießen beginnt. Falten zerfurchen auch die Stirn und umgeben die müde wirkenden Augen.
Hans Holbein d.J.: Erasmus von Rotterdam (1523); London, National Gallery
Auffallend an diesem Bildnis ist vor allem, wie stark sein Aufbau dem des Erasmus-Porträts gleicht; man darf annehmen, dass die Darstellung als Halbfigur ebenso wie die an das Erasmus-Bildnis erinnernde Handhaltung einem Wunsch des Auftraggebers entsprachen. Warham nimmt quasi die Rolle des Bewunderers ein, der dem Genius des Erasmus Respekt zollt; „durch eine Umkehrung der Hierarchie ist er es, der Protektor, der bescheiden die Pose seines Protegés nachahmte“ (Bätschmann/Griener 1997, S. 169). Andreas Beyer sieht in den beiden Porträts „ein visuell geführtes Gespräch“ (Beyer 2006, S. 68): Erasmus hat sein Gesamtwerk vollendet und gibt es nun „in die Hände seines Gönners und Geistesverwandten, die erwartungsvoll auf einem kostbaren Kissen ruhen, bereit, Schriften und Lektüre aufzunehmen“ (Beyer 2006, S. 68).
Nochmals zurück zu Thomas Morus: Nach einem kontinuierlichen politischen Aufstieg war er 1529 von Heinrich VIII. zum Lordkanzler ernannt worden. Doch als sich der englische König von seiner Frau Katharina von Aragon scheiden lassen wollte, um Anne Boleyn heiraten zu können, verweigerte ihm Morus die Unterstützung. Der Konflikt mit der katholischen Kirche spitzte sich zu; Heinrichs wichtigster Berater wurde Thomas Cromwell, der die nötigen Argumente lieferte, warum sich der Klerus dem König zu unterwerfen habe. Am 16. Mai 1632 legte Morus sein Kanzleramt nieder und zog sich aus der Politik zurück. Als er sich 1534 weigerte, den Eid auf die Suprematie des Königs zu leisten, wurde er im Tower inhaftiert und am 6. Juli 1535 wegen Hochverrats hingerichtet. Morus hatte entscheidend dazu beigetragen, dass der Ruhm Holbeins zum königlichen Hof vorgedrungen war – was den Aufstieg des Künstlers jedoch nicht behinderte. Und auch nicht, dass Holbein Morus’ Tochter Margaret porträtierte, die das Haupt des Vaters davor bewahrt hatte, in die Themse geworfen zu werden.
Der um 1450 geborene William Warham war als Vertrauter Heinrichs VII. (1457–1509) seit 1504 Lordkanzler und Erzbischof in Personalunion gewesen. Auch in den ersten Regierungsjahren des jungen Heinrichs VIII., der seinem Vater 1509 auf dem Thron folgte, blieb er dessen leitender Minister. Doch 1515 wurde er in dieser Rolle von Thomas Wolsey abgelöst. Warham konzentrierte sich danach auf seine bischöflichen Aufgaben, zählte aber weiterhin zum politischen Beraterkreis des Königs. Nach Wolseys natürlichem Tod (1530) hatte er die undankbare Aufgabe, den englischen Klerus dazu zu bewegen, der Kirchenpolitik Heinrichs VIII. zuzustimmen, sodass sich der König – ungeachtet der päpstlichen Ablehnung – von Katharina von Aragon trennen konnte. 
 
Literaturtipp 
Wer sich in die Epoche einlesen möchte, in der diese beiden Porträts entstanden sind, dem sei nachdrücklich der ebenso intelligente wie packende Roman „Wölfe“ von Hilary Mantel empfohlen, der die Welt Heinrichs VIII. auf faszinierende Weise begehbar macht.

Literaturhinweise
Bätschmann, Oskar/Griener, Pascal: Hans Holbein DuMont, Köln 1997;
Beyer, Andreas: Das Londoner Interludium. In: Kunstmuseum Basel (Hrsg.), Hans Holbein d.J. Die Jahre in Basel 1515–1532. Prestel Verlag, München u.a. 2006, S. 66-71;
Müller, Jürgen: Von der Odyssee eines christlichen Gelehrten. Eine neue Interpretation von Hans Holbeins Erasmusbildnis in Longford Castle. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 179-211;
Sander, Jochen: Hans Holbein d.J. Tafelmaler in Basel 1515-1532. Hirmer Verlag, München 2005, S. 275-286;
Sickel, Lothar: Holbeins Bildnis des Thomas Morus in Rom. Eine Rezeptionsgeschichte. In: Sebastian Schütze (Hrsg.), Kunst und ihre Betrachter in der Frühen Neuzeit. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2005, S. 35-63.

(zuletzt bearbeitet am 23. März 2020)

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