Mittwoch, 26. Mai 2021

Heimgeleuchtet – Caravaggios „Berufung des Matthäus“ in der Contarelli-Kapelle von San Luigi dei Francesi (1)


Caravaggio: Berufung des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi
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Die Berufung des Matthäus ist Caravaggios frühestes Historienbild im großen Format (332 x 340 cm). Es entstand zwischen Juli 1599 und Juli 1600 zusammen mit seinem Pendant, dem Martyrium des Matthäus (siehe meinen PostMord am Altar). Bestimmt war es für den Ort, an dem es noch heute hängt, die Grabkapelle des Kardinals Matteo Contarelli in der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom. Der Kardinal hatte in seinem Testament verfügt, dass die Seitenwände der Kapelle freskiert werden sollten. Doch Caravaggio lieferte stattdessen zwei Ölbilder ab. Es waren diese beiden einander gegenüber hängenden Gemälde, die den Künstler schließlich mit einem Schlag berühmt machten.
Caravaggio: Die Falschspieler (um 1594/95); Fort Worth, Kimbell Art Museum
Dargestellt ist eine Begebenheit, die Matthäus in seinem Evangelium mit nur einem Vers erwähnt – nämlich seine Berufung zum Apostel: „Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm“ (Matthäus 9,9; LUT). Christus und einer der Jünger, wahrscheinlich Petrus, scheinen die Szenerie von rechts zu betreten, sodass sie gegen die Leserichtung platziert sind. Doch die Schrittstellung Christi zeigt, dass er den Raum schon wieder verlässt und sich offensichtlich nur kurz umwendet, um seine Aufforderung auszusprechen. Die beiden Männer gehen barfuß und tragen antik-biblisch wirkende Gewänder. Christus und Petrus weisen mit ihrer ausgestreckten rechten Hand nach links. Ihre Körper werden in großen Teilen von der Dunkelheit verschluckt; der Körper Jesu wird zudem weitgehend von Petrus verdeckt; dessen Kopf separiert regelrecht Haupt und Arm seines Herrn – und betont auf diese Weise den Zeigegestus Christi.
Matthäus und seine Tischgenossen hingegen sind zeitgenössisch und modisch-elegant mit enganliegenden Hosen, Federhüten, Pelzkragen und Satinwams gekleidet. Zwei der Figuren zählen Geld. Die Tischgesellschaft erinnert an Caravaggios frühe Halbfigurenbilder (z. B. Die Falschspieler), das gleichmäßig helle Licht dieser Genreszenen ist allerdings einem starken Schlaglicht gewichen, das tiefe Schatten erzeugt. Für diese Gruppe könnte sich Caravaggio an einem Holzschnitt aus dem Totentanz von Hans Holbeins d.J. (1497–1543) orientiert haben, besonders für den jungen Mann ganz links (im Holzschnitt die Figur rechts im Vordergrund). Er ist so intensiv mit seinen Münzen beschäftigt, dass er blind bleibt für den Gottessohn und taub für seinen Ruf – das Haar, das ihm nach vorne vor die Augen fällt, verstärkt diesen Eindruck noch.
Hans Holbein d.J: Kartenspieler,
aus der Holzschnittfolge Der Totentanz (1523/25)
Aber wer von den
fünf in unterschiedlichen Altersstufen dargestellten Männern ist eigentlich Matthäus? Diese Frage ist immer wieder kontrovers diskutiert worden. Der Schriftsteller Arnold Stadler sieht in dem am Ende des Tisches sitzenden jungen Mann den von Jesus berufenen Jünger: Matthäus muss jener sein, der von Jesus am weitesten entfernt ist und seine Botschaft am ehesten nötig hat, und dessentwegen er am meisten gekommen ist“ (Stadler 2008, S. 198). Am häufigsten wird Matthäus aber mit dem Bärtigen identifiziert: Er ist von der Fünfergruppe am Tisch am deutlichsten zu sehen, nämlich fast frontal und nahezu in ganzer Figur. Die anderen vier Männer scheinen regelrecht um ihn bzw. die Geste seiner linken Hand herum gruppiert. Vom Licht wie von den Worten Jesu getroffen, hält der Bärtige inne: Fragend zeigt er auf sich, ungläubig, ob er wirklich gemeint sei oder nicht vielleicht sein Nachbar. Seine linke Hand antwortet dem Zeigegestus Christi – während seine Rechte weiterhin mit dem Geld auf dem Tisch zu hantieren scheint. 
Caravaggio hat die zählenden Hände an dieser Stelle derart parallelisiert, dass wir glauben, es handele sich um die Gliedmaßen einer Person. Dabei gehören sie zugleich dem Bärtigen und dem jungen Mann am Ende des Tisches, was man jedoch erst auf den zweiten Blick entdeckt. Herwarth Röttgen hat den mutmaßlichen Vorgang, den Caravaggio darstellt, zu erläutern versucht: Der Zollbeamte Matthäus fordere Geld von dem jungen Mann links außen. „Der Bärtige ist nicht im Begriffe Geld zu zahlen und hat dies auch nicht getan, sondern das Geld liegt vor seiner rechten Hand, die nun unverkennbar (...) die Geste dessen ausführt, der Geld zu fordern hat, indem der Daumen auf dem Zeigefinger liegt und beide bewegt werden und mit den Knöcheln der andern Finger, die blasser hinter Daumen und Zeigefinger zu sehen sind, wohl auch auf den Tisch geklopft wird“ (Röttgen 1991, S. 98).
Der junge Mann zahlt jedoch nur widerwillig: Mit seiner Linken verbirgt er einen Geldsack unter der Achsel und hinter der Tischkante. Wer sorgfältig hinschaut, erkennt außerdem ein Detail, das vor dem Original kaum wahrzunehmen ist: Während die anderen Männer am Tisch durch das plötzliche Erscheinen Christi und seine Worte abgelenkt werden, hat der Jüngling an der Stirnseite mit den Fingern seiner rechten Hand geschickt wie ein Taschenspieler Geld beiseite geschafft; der Rand einer Münze ragt noch ein wenig aus dem Schatten hervor, den seine Hand auf den Tisch wirft. Wir haben es also mit einer Betrugsszene zu tun, durch die das anrüchige Milieu, dem Matthäus entstammt, betont wird.
Auch Irving Lavin sieht in dem Bärtigen den von Christus herausgerufenen Matthäus und führt dafür gute Gründe an: „A Levi oblivious to Christs appearance would contradict the essential point of the episode, the publicans response – not lack of response – to the Call. A benighted Levi would contradict one of the most profound and innovative principles of Caravaggios art, the use of light as a visual metaphor for divine illumination“ (Lavin 1993, S. 90). Außerdem trage der Zollbeamte als Zeichen seiner Profession eine Goldmünze am Hut und sei daher als Matthäus zu identifizieren. In der Geste seiner linken Hand sieht Lavin dabei mehr als ein verblüfftes Wer, ich?“, nämlich ein schuldbewusstes „Mich, einen Zöllner?“. Caravaggio betone damit die Voraussetzung für die Nachfolge Christi: das Bekenntnis, ein Sünder zu sein. 
Lavin zieht ebenfalls den bereits angeführten Holzschnitt von Holbein d.J. heran, um seine Deutung zu stützen: „Holbeins protagonist, the bearded figure at the center of the composition, shows what happens when the avaricious moneygrubber does not heed the call; Caravaggio’s shows what happens when he does“ (Lavin 1993, S. 97).
Hendrick ter Brugghen: Die Berufung des Matthäus (1621); Utrecht, Centraal Museum
Auch einer der Adepten Caravaggios, der Niederländer Hendrick ter Brugghen (1588–1629), hat in seiner Version der Berufungsszene Matthäus mit einem rötlichen Bart versehen, ihn in der Bildmitte platziert und auch den Zeigegestus übernommen, ihn aber unmissverständlich auf die Brust des Zöllners gerichtet. Offensichtlich hatte auch ter Brugghen sich entschieden, in dem Bärtigen mit der hohen Stirn Matthäus zu sehen.
Jan van Hemessen: Die Berufung des Matthäus (um 1548); Wien, Kunsthistorisches Museum
Michael Fried stellt sich bei der Frage nach dem wahren Matthäus an Lavins Seite und verweist dabei auf ein weiteres Detail: „the bearded man’s right knee is raised and his right foot has already left the ground, which I take to mean that Caravaggio wished to signal that without being aware of what he is doing or even that he is doing anything at all, the bearded man has already begun to follow Christ“ (Fried 2010, S. 198). Fried argumentiert außerdem mit dem Hinweis auf Vorläufer für den rotbärtigen Matthäus in der Contarelli-Kapelle, u.a. in Gemälden des flämischen Künstlers Jan van Hemessen (1500–1566).
Wer ist denn nun Matthäus?
Für Arnold Stadler richtet der Bärtige seinen Zeigefinger jedoch keineswegs auf sich selbst, er ist vielmehr „nur eine Verlängerung des weit ausgestreckten Armes Jesu und zeigt geradewegs auf den sich duckenden Kopf des sich duckenden Mannes am Tischende“ (Stadler 2008, S. 199). „Wirklich der? Der ist gemeint?“, scheint er zu fragen. Schon zwanzig Jahre früher hat Angela Hass im Blick auf diesen Zeigefinger betont, er sei „neither curved and foreshortened, nor raised towards himself; if anything it is pointing straight past, in a questioning Who, him? gesture“ (Hass 1988, S. 247). Als Beleg führt sie eine entsprechende Geste aus Leonardos Abendmahl an (die des Philippus), das Caravaggio in Mailand eingehend studiert haben dürfte. Auch der fest mit der Hand umschlossene Geldsack verweise auf das Abendmahl; die Anspielung auf Judas weise den habgierigen jungen Mann am Tischende als größten Sünder unter den Fünfen aus – und damit als Matthäus. Dass Caravaggio Matthäus entgegen der Bildtradition als jungen Mann wiedergibt, findet sie ebenfalls bei Leonardo vorgebildet: „Again it is Leonardos Last Supper that provides precisly this type of St Matthew – young, with a strong square face, in profile, shorthaired and clean-shaven“ (Hass 1988, S. 247).
So sieht es aus, wenn jemand mit dem Finger auf sich selbst zeigt: Leonardos Jünger Philippus; daneben im blauen Mantel Matthäus: wie bei Caravaggio glattrasiert, mit kurzem Haar und im Profil dargestellt
Dieser junge Matthäus zeigt sich bei Caravaggio zunächst gänzlich unwillig, auf den Ruf Christi zu reagieren; er erinnere, so Arnold Stadler, mit seinem konzentrierten Wegschauen – als hätte er Wichtigeres zu tun – an alttestamentliche Propheten wie Jona und Jeremia und deren Berufungsgeschichten. Oder hat er noch gar nicht bemerkt, dass der Unbekannte auf ihn zeigt, weil er so sehr darin vertieft ist, die Steuern zu zählen (und für sich abzuzweigen), die er heute eingenommen hat? Noh Seong-Doo erkennt in der Körperhaltung des jungen Mannes die antike Skulptur des Spinario, des Dornauszieher, dessen berühmteste Ausführung im Musei Capitolini aufbewahrt wird: „Die runde Beugung des Rückens, die tiefgeneigte Kopfstellung, die kompakte Körperkontur, die nach vorn fallenden Haarsträhnen, die intensive Konzentration auf sich selbst“ (Seong-Doo 1993, S. 66) verweisen für ihn auf dieses Vorbild.
Spinario; Rom, Musei Capitolini

Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599); Kriegsverlust
Angela Hass zieht als weiteren Beleg für ihre These, dass der Jüngere der richtige Matthäus sei, noch Caravaggios erste Version des Matthäus mit dem Engel heran, die, ebenfalls für die Contarelli-Kapelle angefertigt, recht schnell durch eine zweite Fassung ersetzt wurde (siehe meinen Post
Matthäus, der Analphabet). Die beiden Figuren sitzen nämlich auf dem gleichen Scherenstuhl; vor allem aber stimme die Haltung überein, die sie darauf einnehmen: „So the evangelist is now crossing his legs to support the symbol of his new profession, the book of the Gospel which he is writing down. The arched back with the stooped head, and the intent alertness of the eyes focussing on the immediate duty he is performing, are exactly the same as those of the youth just prior to his accepting the call of Christ. But the left hand that was formerly gripping the moneybag is now holding on to the book, while the right, originally preparing to draw money from the table, is writing in the pages of the book“ (Hass 1988, S. 249). Während in der Berufungssszene hinter Matthäus ein bebrillter älterer Mann, wahrscheinlich eine zweite Amtsperson, den Zahlungsvorgang aufmerksam verfolgt, ist dem Apostelevangelisten ein Engel an die Seite gestellt; und die mit Geldmünzen hantierende Rechte des Bärtigen sei nun ersetzt durch die des Engels, der Matthäus beim Schreiben die Hand führt. „Caravaggio has visually and tangibly transformed a narrow- and materially-minded youth into an active instrument of Gods divinity“ (Hass 1988, S. 249).
Matthias Stomer: Die Berufung des Matthäus (um 1629); San Francico, Museum of Fine Arts
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Auch der Caravaggist Matthias Stomer (1600–1650) hat in seiner späteren Version der Matthäus-Berufung für unklare Verhältnisse gesorgt. Beide Männer, die hier als Hauptpersonen in Frage kommen und durch ihre Kleidung sowie ihr Alter eindeutig auf die beiden entsprechenden Figuren in Caravaggios Gemälde Bezug nehmen, reagieren mit Erstaunen auf die Worte und die Geste des vorbeieilenden Jesus. Dass der Sohn Gottes wohl den Jungen an der Schmalseite des Tisches mit Federbarett angesprochen hat, wird erst bei genauerem Studium der Blickbeziehungen deutlich. 
Gut möglich, dass auch bei Caravaggios Figuren selbst Verwirrung darüber besteht, wen Jesus denn nun meint. Caravaggio macht diese Verunsicherung seiner Bildpersonen zu der des Betrachtenden; und letztlich ist die Frage des bärtigen Alten – „Wen meinst du, den oder mich?“ – auch unsere. Valeska von Rosen hat betont, dass esstarke Argumente für beide ‚Kandidaten‘ gibt und daß durch das Fehlen eindeutiger visueller Signale eine Entscheidung, wer tatsächlich als Levi-Matthäus zu identifizieren ist, nicht mit Sicherheit zu treffen ist“ (von Rosen 2009, S. 248). Gleichwohl tendiert auch sie dazu, in dem Jüngeren den zukünftigen
Apostelevangelisten zu erkennen – unter anderem, weil der Ältere ihrer Ansicht nach gerade dabei ist, Geld auf den Tisch zu legen, folglich Zoll entrichtet und nicht einnimmt.
Marten van Heemskerck: Bildnis des Pieter Bicker Gerritsz. (1529);
Amsterdam, Rijksmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)

Andreas Prater hat diese Sicht – der Bärtige fordert keineswegs Geld, sondern zahlt – bereits 1995 in einer ausführlichen Entgegnung zu dem Aufsatz von Röttgen begründet. Als Beleg führt er unter anderem ein 1529 entstandenes Bildnis des niederländischen Malers Marten van Heemskerck (1498–1574) an, auf dem der Kaufmann Pieter Bicker Gerritsz. mit der gleichen Geste wie bei Caravaggio dargestellt wird. Prater verweist darüber hinaus noch darauf, dass Caravaggio den jungen Mann deutlich als „verlottert und abgerissen“ (Prater 1985, S. 73) präsentiert: Seine Kleidung ist auffallend unordentlich und hebt sich ab von der stutzerhaften Eleganz der beiden vorderen Jünglinge wie auch von der des Bärtigen. Das Hemd rutscht aus der Hose und quillt an geplatzten Nähten, an Schulter und Ellenbogen aus dem Wams hervor – die ungepflegte Erscheinung kennzeichnet ihn als Sünder. Entsprechend sehen manche Kunsthistoriker*innen in dem Bärtigen einen Kaufmann mit seinen beiden jüngeren Begleitern, der bei Matthäus seinen Tribut entrichtet. Der junge Matthäus wie auch sein Kompagnon hinter ihm tragen keine Hüte, da die beiden die Hausherrn“ (Prater 1995, S. 58) in ihrer Zollstube sind, während die anderen durch ihre Barette ihre Zusammengehörigkeit anzeigen.
Doch damit nicht genug: Jüngst hat Jürgen Müller den Reigen um die Frage nach dem wahren Matthäus nochmals um neue Deutung erweitert. Matthäus sei weder mit dem bärtigen Mann noch mit dem Betrüger am Kopfende des Tisches zu identifizieren. Er sitze vielmehr mit dem Rücken zu den Betrachtenden und werde im nächsten Moment nach seiner Berufung seinen rechten Arm durchgedrückt haben, aufstehen und davonschreiten“ (Müller 2021, S. 14) – um Jesus nachzufolgen. Auf dem Tisch direkt links neben ihm erkennt man ein Tintenfass, eine Schreibfeder, eine verschnürte Börse und ein Buch, in dem vermutlich die Höhe der Abgaben vermerkt ist: Diese Gegenstände sind so positioniert, dass nach Ansicht von Müller nur der junge Mann, der angespannt auf einem hölzernen Hocker sitzt und in Richtung Christus und Petrus blickt, als Nutzer in Frage kommt. „Caravaggio hat den Blick auf die Schreibutensilien deutlich hervorgehoben, indem er die Sicht auf dieselben regelrecht inszeniert und auf der Blickachse des Betrachters anordnet“ (Müller 2021, S. 5).  
Michelangelo: Ignudo (1509); Rom, Sixtinische Kapelle
Giulio Romano: Amor und die drei Grazien (1510); Rom, Villa Farnesina
Caravaggio habe sich bei dieser Rückenfigur
an einem von Michelangelos Ignudi an der Sixtinischen Decke orientiert, denn dieser weise eine identische Sitz- und Armhaltung auf. „Zugleich macht er das Vorbild unkenntlich, indem er es ankleidet und um neunzig Grad dreht“ (Müller 2021, S. 15). Als Inspirationsquelle denkbar ist allerdings auch, so Seong-Doo, eine Zwickelfigur aus der Villa Farnesina in Rom, die der Raffael-Schüler Giulio Romano 1518 nach der gezeichneten Vorlage seines Meisters anfertigte. 
Bei Caravaggio sitzt der Berufene genau auf der vertikalen Bildachse und damit im Zentrum der Komposition, wodurch seine Bedeutung betont werde, so Müller. Er beugt sich hinüber zu Christus und Petrus und wendet sich damit bereits von dem weltlichen Bereich ab, für den die Tischgesellschaft steht, um gleich mit den beiden Männern das Gemälde zu verlassen. Müller verweist für seine Deutung auf die Legenda aurea (de Voragine 2014, S. 1835): Dort wird berichtet, der Gehorsam des Matthäus sei so schnell gewesen, dass er sogleich aufsprang und die begonnenen Zollabrechnungen unfertig liegenließ, um sich Christus rückhaltlos anzuschließen. „Der vermeintlich unbeteiligte Zöllner wird seine Schreibarbeit nicht mehr vollenden; sein Sinn hat sich gewandelt“ (Müller 2021, S. 16). 
Caravaggio: Mathäus mit dem Engel (1602); Rom, Contarelli-Kapelle
Hingewiesen sei noch darauf, dass auch im Fall des von hinten gesehenen Zöllners die Stuhl-Hypothese verfängt: Zusammen mit dem Schreibzeug findet sich der Hocker in identischer Form auf Caravaggios bereits erwähnter Zweitfassung des Matthäus mit dem Engel, die bis heute an der Stirnseite der Contarelli-Kapelle angebracht ist.

Auch der Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani hat sich Caravaggios Berufung des Matthäus genau angesehen und sich wie viele andere gefragt, wem Christi Blick und Geste nun tatsächlich gilt: „Es könnte jeder sein, jeder der vier Männer, die um den kleinen Tisch sitzen, auch der Knabe“ (Kermani 2011, S. 306). Diese Uneindeutigkeit kann kein Zufall sein – Caravaggio muss sie gewollt haben. Denn wenn jeder am Tisch Matthäus sein könnte, dann könnte es auch jeder von uns sein, dann gilt Jesu Aufforderung Folge mir!“ jedem von uns. Dieser Sicht entspricht, dass die linke Hand Christi im Dunkel auf uns als Betrachtende gerichtet ist. Und: Wir sind als Betrachtende von Anfang an Teil des Geschehens – denn wir ergänzen den offenen Halbkreis, der einen Platz am Tisch unbesetzt lässt. Damit repräsentiert das Gemälde keine abgeschlossene, sondern „eine offene, in die jeweilige Gegenwart hineinreichende Bildzeit“ (Müller 2021, S. 22). Wir sind es, die aufstehen und nachfolgen sollen. Das ist das Anliegen des Bildes.
Ein goldgelber Lichtstrahl lässt von einer unsichtbaren Quelle her die Gesichter, Wamse und Ärmel aufleuchten – er verdeutlicht, dass es der Sohn Gottes selbst ist, der Matthäus in seine Nachfolge ruft. Die Lichtführung gibt dem Geschehen eine Dramatik, die in der Barockmalerei eines Rubens durch pathetische Bewegtheit und pompöse Fülle erzielt wird. Der göttliche Lichtstrahl gilt aber nicht nur Matthäus (wer immer es auch sei), sondern ebenso den übrigen am Tisch versammelten Männern: Die einen sehen zu Jesus auf und antworten ihm mit ihren Blicken, während die anderen vom Geld angezogen bleiben – Caravaggio betont damit die Willensfreiheit des Einzelnen in seiner Entscheidung vor Gott. Peter J. Burgard hat dies mit dem Hinweis auf die Körperhaltung der beiden jungen Stutzer mit den Federhüten nochmals unterstrichen: „For these two prominent figures, located closer to the center of the image and more brilliantly highlighted than any of the others, lean in opposite directions – one toward Christ, the other away from him – and thus constitute a representation of the two choices that are and remain open to Matthew, whoever he might be, and a representation of the fact that no choice has been made“ (Burgard 1998, S. 101).

Michelangelo: Die Erschaffung Adams, Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle (1508-1512)
Nicht nur den Ignudo hat Caravaggio aus der Sixtinischen Kapelle entlehnt – sondern auch Christi Geste der rechten Hand. Sie ist von Michelangelos Erschaffung Adams übernommen (es ist aber nicht die Hand von Gottvater, sondern die Adams). „Caravaggio zeigt nicht einen Christus des herrischen Befehls, sondern der bekehrenden Macht durch Gnade, verdinglicht in dem schräg einfallenden Licht“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 129). Das Michelangelo-Zitat dient, so Prater, vor allem dazu, die Berufung des Matthäus in Analogie zur Beseelung des ersten Menschen zu stellen, denn „Matthäus ist der erste berufene Apostel“ (Prater 1985, S. 74). Dass Caravaggio seinen Christus mit der Hand Adams versieht, wird schlüssig, wenn man den Sohn Gottes mit 1. Korinther 15,22 als „neuen Adam“ versteht. Die Handhaltung Christi hat Caravaggio übrigens in einem späteren Bild nochmals verwendet, der Auferweckung des Lazarus (siehe meinen Post ,Löst die Binden und lasst ihn gehen!‘“). Auch hier stellt er Jesus mit der Michelangelo-Geste dar, und auch hier übernimmt sie eine ähnliche Funktion wie in der Berufung des Matthäus – nämlich die, zu neuem Leben zu erwecken.

Caravaggio: Auferweckung des Lazarus (1609); Messina, Museo Regionale
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Die obere Hälfte seines Gemäldes hat Caravaggio einfach leer belassen: Sie zeigt nichts außer einer breiten bildparallele Wandfläche mit einem lichtlosen Fenster. Tiefenraum besitzt die Darstellung nur in dem Ausmaß, wie er für eine um einen Tisch angeordnete Gruppe nötig ist. Dadurch ähnelt das Ambiente einem Bühnenkasten. Unklar bleibt, ob es sich um einen Innen- oder einen Außenraum handelt. Der Lichtstreif, der sich schräg über die Personen hinweg ins Dunkel ergießt, suggeriert eine Innenraum-Situation. Dem widerspricht wiederum, dass links eine eben noch erkennbare Hausecke sichtbar ist. „Die Szene spielt vor dem Haus, nicht in ihm; und dennoch ruft Caravaggio die Vorstellung einer dunklen Stube wach, indem er das Licht in ein gleichsam höhlenartiges Dunkel lenkt, das nach den Erfahrungen eines unvoreingenommenen Betrachters (auf den Caravaggio bei der Neuartigkeit seines Helldunkels zählen durfte) nur die Dunkelheit eines finsteren Raumes sein kann“ (Prater 1985, S. 72). Röttgen fügt noch hinzu, dass der hölzerne Fensterverschlag mit seiner Verriegelung ebenfalls für einen Innenraum spreche (Röttgen 1991, S. 99). Wie auch immer – für das Bildverständnis ist die Frage „Innen oder außen?nicht wirklich entscheidend. Müller lenkt den Blick dagegen auf die vertikale Achse des Fensterkreuzes, die oberhalb der Hand Christi platziert ist – für ihn ein Hinweis auf den Kreuzestod Jesu und die durch sein Selbstopfer erwirkte Erlösung.

Blick in die Contarelli-Kapelle, San Luigi dei Francesi (Rom)
Wer zur Innenraum-These tendiert, wird allerdings von den Beleuchtungsverhältnissen irritiert. Wenn zwei Personen durch eine Tür in einen dunklen Raum eintreten, müsste eigentlich Licht aus der gleichen Richtung einfallen. In irritierender Umkehrung fällt jedoch erstaunlicherweise harter Schatten ein. Dieser bricht genau unterhalb des Fensterladens ab, als sei er durch die offene Tür bedingt. Caravaggio beleuchtet die Szene einfach von rechts oben. Das Gemälde hängt links vom Eingang, in der düsteren Kirche nur schwach aus einem hoch gelegenen Lünettenfenster der Altarwand beleuchtet. „Den Schatten der geschlossenen Kapellenwand läßt Caravaggio ins Bild fallen, ohne sich um narrative Logik zu scheren“ (König 1997, S. 94). So reduziert wie der Raum und das Licht ist übrigens auch die Farbigkeit des Bildes, deren Skala sich vor allem im Bereich der Erdfarben mit Rot und Grün als Akzenten bewegt.

Dass Caravaggios Berufung des Matthäus wie die Inszenierung auf einer Theaterbühne wirkt, entspricht ganz dem Kern der Darstellung. Denn der Künstler zeigt uns den spannungsvollsten Moment der Handlung, nämlich unmittelbar vor dem Umbruch, wie die meisten Forscher*innen meinen: Christus spricht seine Berufungsworte – was daraus folgen wird, ist noch unklar, erst in den nächsten Augenblicken wird sich einer der Anwesenden erheben, um Jesus zu folgen. Von Rosen sieht darin eine „Adaption des aristotelischen Peripetiekonzepts für das Erzählbild“ (Rosen 2009, S. 252) und ein besonderes Kennzeichen der Kunst Caravaggios. Auf diese Weise betone Caravaggio das eigentlich Bedeutsame der Handlung, nämlich den Vorgang des mentalen Wandels eines Sünders zum Jünger Jesu“ (von Rosen 2009, S. 253). Auch Prater sieht das „wahrhaft Revolutionäre an Caravaggios Interpretation der biblischen Begebenheit darin, „daß er die Aufforderung Christi ohne die Reaktion des Zöllners auf diese, die Berufung ohne die Bekehrung zeigt – zwei Inhalte, die in der Bildtradition nie voneinander getrennt, sondern stets simultan geschildert wurden“ (Prater 1985, S. 73).

Caravaggio: Martyrium des Matthäus; das Gemälde hängt als Pendant der „Berufung des Matthäus“ gegenüber
In der ursprünglichen Version des Bildes beherrschte Christus allein mit gebieterisch ausgestrecktem Arm die rechte Bildhäfte – was dem Evangelientext entspricht. In der endgültigen Fassung fügte Caravaggio im Vordergrund noch Petrus hinzu, der – gegenreformatorisch korrekt – die Kirche als Vermittlerin zwischen Gott und Mensch verkörpert und Christus beinahe in den Hintergrund drängt. 

Juan de Pareja: Berufung des Matthäus (1661); Madrid, Prado

Über welche Anziehungskraft Caravaggios Bildidee auch noch in den späteren Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts verfügte, belegt das Gemälde des spanischen Malers Juan de Pareja (ca. 1608–1670): Als sein Hauptwerk gilt die Berufung des Matthäus von 1661, heute im Prado zu sehen. Von 1648 bis 1651 begleitete de Pareja Diego Velàzquez (1599–1660) als Gehilfe und Assistent auf dessen Italienreise und studierte in Rom Caravaggios berühmtes Werk offensichtlich genauestens.


Literaturhinweise
Boesten-Stengel, Albert: The Exactness of Images. Decorum and sensus litteralis in Caravaggio’s Calling of St. Matthew. In: Kazimierz Kuczman und Andrzej Witko (Hrsg.), Sztuka po Trydencie. Wydawnictwo AA, Krakau 2014, S. 121–129;

Burgard, Peter J.: The Art of Dissimulation: Caravaggio’s “Calling of St. Matthew”. In Pantheon 56 (1998), S. 95-102;  
De Marco, Nicolas: Caravaggio’s Calling of St Matthew. In: Iris. Notes on the History of Art 1 (1982), S. 5-7;
de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Zweiter Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014;

Ebert, Bernd/Helmus, Liesbeth M. (Hrsg.), Utrecht, Caravaggio und Europa. Hirmer Verlag, München 2018, S. 178-181;

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009; 
Fried, Michael: The Moment of Caravaggio. Princeton University Press, Princeton and Oxford 2010, S. 195-201; 
Gilbert, Creighton E.: Caravaggio and His Two Cardinals. Pennsylvania State University Press 1995, S. 159-166;
Hass, Angela: Caravaggio’s Calling of St Matthew Reconsidered. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 51 (1988), S. 245-250;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 96-102;
Kermani, Navid: Mein Name. Carl Hanser Verlag, München 2011; 
König, Eberhard: Michelangelo Merisi da Caravaggio. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1997;
Kretschmer, Hildegard: Zu Caravaggios Berufung des Matthäus in der Contarelli-Kapelle. In: Pantheon XLVI (1988), S. 63-66;
Lavin, Irving: Caravaggio’s Calling of Saint Matthew: The Identity of the Protagonist. In: Irving Lavin, Past-Present. Essays on Historicism in Art from Donatello to Picasso. University of California Press, Berkely u.a. 1993, S. 85-99;

Müller, Jürgen: Wer ist Matthäus? Eine neue Deutung von Caravaggios Berufung des heiligen Matthäus aus der Contarelli-Kapelle. In: KUNSTGESCHICHTE. Open Peer Reviewed Journal, 2021, https://www.kunstgeschichte-ejournal.net/577/;
Pericolo, Lorenz: The Calling of Saint Matthew in Retrospective: Experimenting with Narrative Disconnections. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 211-241;
Prater, Andreas: Wo ist Matthäus. Beobachtungen zu Caravaggios Anfängen als Monumentalmaler in der Contarelli-Kapelle. In: Pantheon XLIII (1985), S. 70-74;
Prater, Andreas: Matthäus und kein Ende? Eine Entgegnung. In: Pantheon LIII (1995), S. 53-61;
Puttfarken, Thomas: Caravaggio’s ‘Story of St Matthew’: A challenge to the conventions of painting. In: Art History 21 (1998), S. 163-181;
Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien  zu Caravaggios römischem  Werk. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 78-87;

Röttgen, Herwarth: Giuseppe Cesari, die Contarelli-Kapelle und Caravaggio. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 27 (1964), S. 201-227;
Röttgen, Herwarth: Die Stellung der Contarelli-Kapelle in Caravaggios Werk. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 27 (1965), S. 47–68;
Röttgen, Herwarth: Da ist Matthäus. In: Pantheon XLIX (1991), S. 97-99;

Seong-Doo, Noh: Übernahme und Rhetorik in der Kunst Caravaggios. LIT Verlag, Köln 1993;
Sickel, Lothar: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein dissonantes Milieu. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2003, S. 89-131; 

Stadler, Arnold: Salvatore. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, S. 197-223;
Schütze, Irene: Zeigefinger – Fingerzeige. Konzepte der Geste in der Debatte um Caravaggios Berufung des Matthäus. In: Margreth Egidi u.a. (Hrsg.), Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Gunter Narr Verlag, Tübingen 2000, S. 185-199;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 102/105;
Unglaub, Jonathan: Caravaggio and the “Truth in Pointing”. In: Lorenzo Pericolo/David M. Stone (Hrsg.), Caravaggio. Reflections and Refractions. Ashgate, Burlington 2014, S. 149-174; 
von Rosen, Valeska: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 245-261;

von Rosen, Valeska: Der Ruf im Bild. Reflexionen über ein Sujet in Caravaggios Berufung Matthäi. In: Patricia Oster und Karlheinz Stierle (Hrsg.), Legenden der Berufung. Universitätsverlag Carl Winter, Heidelberg 2012, S. 27-46;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 5. August 2024)

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