Wilhelm Lehmbruck: Sitzender Jüngling (1916/17; Bronzeguss von 1925); Duisburg, Lehmbruck Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der nackte Jüngling, der ermattet mit dem
Gesicht nach unten auf einer nicht näher bestimmten Bodenplatte hockt, hat seine Arme auf den Beinen
abgelegt. Während die linke Hand schlaff herunterhängt, liegt die rechte als Faust auf
dem linken Oberschenkel. Die Füße, von denen der rechte nach außen
wegzukippen scheint, ruhen auf der vorne halbrund auslaufenden Plinthe. Die
Erscheinung der extrem gelängten Gestalt wird vor allem von dem stark gebeugten
Rumpf und ihrem starr vorgereckten Kopf bestimmt. Er bildet mit seiner fast zur
Kugel gewölbten Schädelkalotte eine kraftvoll vorkragende Form, in der sich die
Müdigkeit des Leibes am intensivsten ausdrückt. Die Seitenansichten zeigen
diese Form des Hauptes sehr eindrücklich. Dass Lehmbruck darauf verzichtet,
Haare zu modelieren, betont die Rundung des Kopfes noch zusätzlich. Das Haupt senkt sich über den verschränkten Armen so weit nach unten, dass der Betrachter das Antlitz der Gestalt nicht einsehen kann. „Aus jedem Blickwinkel bleibt die Figur anonym, wenn man das Gesicht als traditionellen Identitätsausweis ansieht und nicht den Körper als zentralen Ausdrucksträger. Wie beim Gestürzten wird auf jegliche Kontaktaufnahme mit dem Betrachter verzichtet, alle Ansprache unmöglich gemacht – nicht Gesicht oder Blick, sondern Körper und Leerraum werden zu den zentralen Bedeutungsträgern gemacht“ (Ende 2015, S. 264).
Faustkämpfer, Bronzeskulptur des Hellenismus (3. Jh.v.Chr.), Rom, Palazzo Massimo alle Terme (für die Großansicht einfach anklicken) |
Als mögliches Vorbild für Lehmbrucks Sitzenden
Jüngling haben Heike Frosien-Leinz und Gottlieb Leinz auf ein berühmtes
antikes Werk verwiesen: den Faustkämpfer aus dem römischen Thermenmuseum
(siehe meinen Post „Destroyed but not defeated“). Er wurde 1885 in Rom auf dem
Quirinal gefunden, und Lehmbruck könnte ihn durchaus auf seinen Italienreisen
1905 bzw. 1912 gesehen haben. Sieht man von der unterschiedlichen Kopfhaltung
einmal ebenso ab wie von dem durchtrainierten Oberkörper, lassen sich erstaunliche
Parallelen erkennen. Hier wie dort sitzt die Figur auf einem Steinsockel bzw.
Felssitz mit unbestimmter Bodenplatte. Die Beine sind in verwandter Weise
angewinkelt, beim Sitzenden Jüngling jedoch stärker gespreizt. Auch die
Fußstellung ist ähnlich: Während der linke Fuß vollständig auf dem Boden aufsetzt,
berüht ihn der rechte nur mit der Außenkante. Die Arme sind jeweils auf den
Oberschenkeln abgelegt, doch anstelle der locker gekreuzten Haltung des Faustkämpfers bilden die Arme des Sitzenden Jünglings eine Barriere.
Hans Leinberger: Christus im Elend (um 1525); Berlin, Bode-Museum |
Mit der extremen Auszehrung seines Körpers setzt
sich der Sitzende Jüngling aber auch deutlich vom athletischen Typus des Faustkämpfers ab. Lehmbrucks Skulptur entspricht hier eher einem vor allem
in der Spätgotik verbreiteten Motiv: dem Christus im Elend, also dem Christus
nach der Geißelung, bzw. dem motivisch eng verwandten Christus in der Rast.
Der Bildtypus des meditativ-trauernden Erlösers ruht wie der Faustkämpfer mit
Blutspuren übersät auf einem Stein- oder Felsquader aus und wird durch Merkmale
seiner Passion charakterisiert. Es handelt sich zumeist um hölzerne, isolierte
Bildwerke, die als Andachtsbilder fungierten. Ihre Haltung entspricht
weitgehend dem Sitzenden Jüngling, wobei Lehmbruck allerdings den Kopf weit
nach vorne beugt.
Der Faustkämpfer wie auch der Christus im
Elend gewinnen ihre Eindrücklichkeit vor allem durch ihren geschundenen Kopf,
an denen die Kampfspuren bzw. Wundmale deutlich erkennbar sind und die ihr
Leiden sichtbar machen. Beim Sitzenden Jüngling ist der extrem gesenkte Kopf vor
allem Ausdruck inneren Elends und offenbart sinnfällig den auf ihm lastenden Leidensdruck.
„Ihre Expressivität macht aus dieser Figur gleichsam ein modernes
,Andachtsbild‘, das seinen Vorläufern an Eindringlichkeit nicht nachsteht“
(Frosien-Leinz/Leinz 2009, S. 278).
Auguste Rodin: Der Denker (1880-1882), Paris, Musée Rodin |
Weil Lehmbruck seine Skulptur in der
Entstehungsphase auch Der Denker genannt hat, sieht Dietrich Schubert in ihr
eine bewusste Gegenfigur zu Auguste Rodins berühmter Plastik. Lehmbruck habe den
Genius, den Denker als einsamen, sich von der Masse abhebenden Menschen
darstellen wollen: „Von Entwürfen rückwärts geneigter Sitzender entwickelt er
die Figuration in Anlehnung an Rodin zu einer nach vorn sich neigenden,
gebeugten Sitzfigur. Rodins »Penseur« ist zugleich Anregung wie abständiges
Beispiel, fortzeugende Inspiration wie zu überwindendes Werk“ (Schubert 1990,
S. 251). Lehmbrucks Denker übernimmt von Rodin den Typus des Sitzenden, ja Gebeugten,
so Schubert, sowie die Dominanz des Kopfes; er schließt aber nicht an
den naturalistisch-muskulösen Körper Rodins an, sondern wählt eine ausgezehrte,
von Trauer durchdrungene und niedergedrückte Gestalt. Schubert verweist
außerdem auf Constantin Meuniers Bronzeplastik Ecce Homo, die Lehmbruck bekannt
gewesen sein dürfte: Meuniers Christus sitzt zusammengesunken an der
Geißelsäule.
Constantin Meunier: Ecce Homo (1891); Brüssel, Koninklijke Musea voor Schone Kunsten (für die Großansicht anklicken) |
Sitzender Hermes (1. Jh. n.Chr.); Neapel, Museo Archeologico Nazionale |
Aristide Maillol: La Méditerranée (1905); Paris, Jardin des Tuileries |
Patriotischer Furor: Ernst Barlachs Bronzeskulptur „Der Rächer“ von 1914 |
Georg Kolbe: Befreiter (1945); Berlin, Georg-Kolbe-Museum |
Gerhard Marcks: Der gefesselte Prometheus (1948); Duisburg, Lehmbruck Museum |
Gerhard Marcks: Hiob (1957); Frankfurt, Hauptfriedhof |
Literaturhinweise
Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015, S. 258-264;
Frosien-Leinz, Heike/Leinz, Gottlieb: Maillol und Lehmbruck: Gesten der Meditation. In: Städel-Jahrbuch 20 (2009), S. 267-286;
Salzmann, Siegfried: »Prometheus« bei Wilhelm Lehmbruck
und Gerhard Marcks. In: Martina Rudloff (Hrsg.), Gerhards Marcks 1889–1981. Retrospektive.
Hirmer Verlag, München 1989, S. 250-257
Frosien-Leinz, Heike/Leinz, Gottlieb: Maillol und Lehmbruck: Gesten der Meditation. In: Städel-Jahrbuch 20 (2009), S. 267-286;
Schubert, Dietrich: Anmerkungen zur Kunst Wilhelm
Lehmbrucks. In: Pantheon 1 (1981), S. 55-69;
Schubert, Dietrich: Die Kunst Wilhelm Lehmbrucks.
Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 21990.
(zuletzt bearbeitet am 16. Mai 2021)
(zuletzt bearbeitet am 16. Mai 2021)
Arno Brekers sitzende Figuren fehlen...z.B. sein Verwundeter...aus moralischer Sicht ist sein Nichtgenanntwerden verständlich...aus kunsthistorischer Sicht allerdings nicht. Der Lehmbruckbeitrag ist aber trotzdem wunderbar. Danke.
AntwortenLöschenIhr Hinweis auf den "Verwundeten" ist richtig. Allerdings habe ich, muss ich zugeben, bei Arno Breker richtiggehend eine Sperre, einen großen inneren Widerstand, mich mit seiner Nazi-Kunst zu beschäftigen. Wenn ich das doch einmal tun sollte, dann muss ich deutlich weiter ausholen, Breker kann meiner Ansicht nach nicht einfach als einer unter anderen Lehmbruck-Rezipienten erwähnt werden.
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