© Charles Guy
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Mittwoch, 28. November 2012
Rainer Maria Rilke: Die Treppe der Orangerie
Montag, 26. November 2012
Destroyed but not defeated – der „Faustkämpfer“ aus dem Thermenmuseum in Rom
Faustkämpfer, Bronzeskulptur des Hellenismus (3. Jh.v.Chr.), Rom, Palazzo Massimo alle Terme, (für die Großansicht einfach anklicken) |
Hat ordentlich was abgekriegt: die zerschlagene Visage eines Kämpfers |
Polyklet: Diadumenos, römische Marmorkopie |
Ein anderes Kaliber als heutige Boxhandschuhe: antike Faustriemen |
Trunkene Alte (röm. Kopie nach hellenistischem Original aus dem späten 3. Jh. v.Chr.); München, Glyptothek |
Der Faustkämpfer trägt noch heute deutliche Spuren davon, dass er lange an einem belebten Platz gestanden haben muss: Die Oberseite des Boxriemens seiner linken Hand, aber auch einige Finger und Zehen sind durch dauerndes Betasten ganz abgeschliffen. „Man muß das mit einem antiken Aberglauben zusammenbringen, demzufolge Athletenstatuen Heilkräfte besitzen, die man durch Berühren auf sich leiten kann“ (Himmelmann 1996, S. 139).
Zeigen, wie es wirklich ist |
Herkules-Büste (2. Jh. n.Chr.); London, British Museum |
Poseidon vom Kap Artemision (5. Jh.v.Chr.); Athen, Ärchäologisches Nationalmuseum |
Brinkmann, Vinzenz (Hrsg.): Zurück zur Klassik. Ein neuer Blick auf das alte Griechenland. Hirmer Verlag, München 2013, S. 330;
Himmelmann, Nikolaus: Herrscher und Athlet. Die Bronzen vom Quirinal. Olivetti, Milano 1989;
Himmelmann, Nikolaus: Minima Archaeologica. Utopie und Wirklichkeit der Antike. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996, S. 135-151;
Zanker, Paul: Der Boxer. In: Luca Giuliani (Hrsg.), Meisterwerke der antiken Kunst. Verlag C.H. Beck, München 205, S. 28-49.
(zuletzt bearbeitet am 31. Januar 2024)
„Die Statue zeigt einen muskulösen Athleten mittleren Alters. Er hat einen dichten Bart und kurzes lockiges Haar. Abgesehen von der verräterischen gebrochenen Nase und den typischen Blumenkohlohren des Boxers hat der Faustkämpfer auch die schräg abfallenden, hängenden Brauen, die auf zerrisene Gesichtsnerven hinweisen. Die Stirn ist voller Narbengewebe. Wie zu erwarten, hat der Kämpfer die Muskulatur eines Boxers. Sein Nacken und sein Trapezmuskel sind gut entwickelt. Seine Schultern sind gewaltig, seine Vorderseite ist kräftig und flach, ohne die schwellenden Brustmuskeln der Bodybuilder. Seine Rücken- und Bauchmuskeln heben sich deutlich ab, und er besitzt auch eine der Stärken des modernen Boxers: stämmige Beine. Die Arme sind breit, besonders die Unterarme, die durch die Lederriemen des mit Eisenstücken gepanzerten Handschuhs verstärkt werden. Er hat den Körper eines kleinen Schwergewichtlers: nicht wuchtig, sonndern geschmeidig, aber trotzdem sehr kräftig: ein Jack Johnson oder Dempsey, könnte man sagen. Wenn man die Statue selbst sieht, im Thermenmuseum in Rom, erkennt man, daß der sitzende Boxer tatsächlich nicht mehr als ein Halbschwergewicht ist. Die Leute waren damals nicht groß. Der entscheidende Punkt sind die vollendeten Proportionen.
Der Faustkämpfer sitzt auf einem Stein und stützt die Unterarme auf die Schenkel. Daß er sitzt und nicht herumtänzelt, läßt vermuten, daß er das alles schon oft mitgemacht hat. Er spart seine Kräfte. Sein Kopf ist zur Seite gedreht. Als ob ihm gerade jemand etwas zugeflüstert hätte, blickt er über die Schulter. Darin zeigt sich die »Kunst« der Statue. Hat man den Faustkämpfer gerade in die Arena gerufen? Er sieht ein bißchen verwirrt aus, aber es gibt keine Spur von Furcht in seinem Gesicht. Es hat den Anschein, daß er loslegen will, daß er keine Schwierigkeiten machen oder Verzögerungen verursachen will, auch wenn sein Leben gleich auf dem Spiel steht. Abgesehen von den Entstellungen liegt auch ein Hauch von Müdigkeit und Resignation auf seinem edlen Gesicht.“
Thom Jones
(aus: Thom Jones, Ruhender Faustkämpfer. Stories. Aus dem Amerikanischen von Lutz-W. Wolff. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1997, S. 23/24)
Mittwoch, 21. November 2012
Die Cappella Paolina: Michelangelos letzte Fresken
Michelangelo: Kreuzigung Petri (1546-1550); Rom, Cappella Paolina |
Michelangelo hat Saulus nah an den Bildvordergrund herangerückt; sein Haupt ist zum Betrachter gewandt, der Mund leicht geöffnet, die Augen sind geschlossen, und die Stirn liegt schmerzverzerrt in Falten: Er wirkt „vollständig in sich gekehrt und verharrt ohne eine Reaktion auf seine Umwelt in einem Zustand vollkommener Trance“ (Hemmer 2003, S. 140/141).
Michelangelo: Bekehrung des Saulus (1542-1545); Rom, Cappella Paolina (für die Großansicht einfach anklicken) |
Filarete: Kreuzigung Petri, Relief aus der mittleren Bronzetür an der Frontseite von St. Peter in Rom, entstanden 1439–1445 |
Filippino Lippi: Kreuzigung Petri (1481-1485); Florenz, Santa Maria del Carmine/Brancacci-Kapelle |
In einer kahlen Landschaft, ähnlich der in der Bekehrungsszene gegenüber, sind auf einem fast runden, podestähnlichen Hügel einige Männer damit beschäftigt, das Kreuz aufzurichten, an das Petrus mit dem Kopf nach unten genagelt ist. Der Betrachter schließt sich links von der Kreuzigungsszene gleichsam dem Gefolge der Soldaten an, die den Hügel erklimmen, auf dem Petrus hingerichtet wird. „Soldaten und Augenzeugen steigen im Uhrzeigersinn auf und ab, und so kommt eine langsam kreisende Bewegung zustande, die mit dem Kreuz korrespondiert, das unter großen Mühen aufgerichtet wird“ (Wallace 1999, S. 190). Diese Umrundung des diagonal in den Bildraum ragenden Kreuzes endet am rechten unteren Rand, wo sich eine Gruppe klagendender Frauen aneinander drängt, von denen zwei eindringlich anstarren. Die Zentripetalbewegung wiederholt sich dann nochmals bei den Peinigern des Märtyrers, die Michelangelo wiederum keisförmig um das Kreuz angeordnet hat. Auf diese Weise wird der Blick des Betrachters geradezu sogartig auf das Zentrum der vielfigurigen Komposition gelenkt, nämlich Petrus.
Wie ein griechischer Chor vermitteln die Frauen zwischen uns und dem Drama an der Kapellenwand |
Niemand anderes als der Betrachter ist mit diesem Blick gemeint |
Der Legenda aurea zufolge beginnt während der Kreuzigung Petri einer der Neugetauften über diesen Frevel zu murren und will die anderen aufwiegeln. Doch Petrus selbst gebietet ihnen, sich zu beruhigen, weil sich sein Märtyrerschicksal erfüllen müsse. Auch diese Begebenheit gibt das Fresko wieder: Empört zeigt der oben in der Bildmitte stehende Mann auf Petrus und wendet sich an die römischen Soldaten, die herbeieilen, weil sie sich das Martyrium nicht entgehen lassen wollen. Seine Freunde halten ihn zurück und bedeuten ihm mit der Geste des auf den Mund gelegten Fingers zu schweigen. Einer der Männer weist mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand nach oben, um daran zu erinnern, dass alles, was hier geschieht, himmlischer Wille ist und einem göttlichen Plan folgt.
Einfache, äußerlich ärmlich gekleidete Menschen jeden Alters kommen rechts über den Hügel und ziehen verzagt an Petrus und den Schergen vorbei. Diese Zeugen des Apostelmartyriums sind vermutlich die ersten Christen, die durch die Predigt des Petrus den neuen Glauben angenommen haben. „Dieses Volk ist die eigentliche Kirche“, so Forcellino, „durch die Schlichtheit dieser Figuren, so himmelweit entfernt von allen Formen kirchlicher Repräsentation, wie sie zu Michelangelos Zeit inszeniert wurden, wird die Darstellung des Martyriums zu einer Proklamation der Kirche der Gläubigen gegen die Amtskirche: eine Vorstellung, die Michelangelo mit den »Spirituali« teilte und die schon seit Jahren von den konservativsten Kreisen der römischen Kurie als ketzerisch betrachtet wurde“ (Forcellino 2006, S. 299).
Saulus als bärtiger alter Mann: ein Kryptoporträt Michelangelos |
Leone Leoni: Porträtmedaille Michelangelos (1560) |
Literaturhinweise
Forcellino, Antonio: Michelangelo. Eine Biographie. Siedler Verlag, München 2006, S. 292-302;
Hemmer, Peter: Michelangelos Fresken in der Cappella Paolina und das Donum Iustificationis. In: Tristan Weddigen u.a. (Hrsg.), Functions and Decorations. Art and Ritual at the Vatican Palace in the Middle Ages and the Renaissance. Brepols Publishers, Turnhout 2003, S. 131-152;
Oy-Marra, Elisabeth: Die Konversion des Saulus/Paulus am Beispiel Parmigianinos, Michelangelos und Caravaggios. In: Ricarda Matheus u.a. (Hrsg.), Barocke Bekehrungen. Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit. transcript Verlag, Bielefeld 2013, S. 279-299;
Wallace, William E.: Narrative and Religious Expression in Michelangelo’s Pauline Chapel. In: artibus et historiae 19 (1989), S. 107-121;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.
(zuletzt bearbeitet am 23. März 2020)
Dienstag, 13. November 2012
Kopfüber in das Heil – Caravaggios „Kreuzigung Petri“ in der Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo (2)
Caravaggio: Kreuzigung Petri (um 1604); Rom, Santa Maria del Popolo/Cerasi-Kapelle |
Um 1600 bürgerte sich für diese antike Statue die Bezeichnung Sterbender
Seneca ein; heute sieht man in ihr die Darstellung eines alten Fischers (Paris, Louvre) |
Was Caravaggio jedoch vor allem zeigt, ist der Kraftaufwand der drei Schergen, die das Kreuz aufzurichten haben. Der hinterste zerrt an einem Seil, das um das untere Ende des Kreuzes geschlungen ist und sich in seinen Rücken eingräbt. Der zweite greift über die Beine des Apostels hinweg, um das Kreuz zu halten, während der dritte, am Boden hockend, die Last mit seinem Rücken hochzustemmen versucht. Verglichen mit der Anstrengung, die die Körper von der gefurchten Stirn bis in die Zehenspitzen und die bloßen Fußsohlen hinein in Anspannung hält, scheinen die Männer auf Michelangelos Fresko der Kreuzaufrichtung das Gewicht kaum zu spüren. Mit leichter Hand fassen sie an, in einer eher symbolischen Geste; Petrus selbst richtet seinen Oberkörper auf (was Caravaggio übernommen hat) und blickt aus dem Bild heraus auf den Betrachter.
Mit naturalistischem Blick schildert Caravaggio die Anatomie und Hautstruktur eines älteren Männerkörpers |
Caravaggio: Martyrium des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi/Contarelli-Kapelle |
Guido Reni: Kreuzigung Petri (1604/5), Rom, Pinacoteca Vaticana (für die Großansicht einfach anklicken) |
Aber auch die Unterschiede sind offensichtlich: Während Caravaggios Petrus den Kopf zur Seite wendet und den Blick auf den überdeutlich ins Fleisch eindringenden Nagel richtet, „strebt auf Renis Bild die Figur des greisenhaften Petrus ein letztes Mal und mit letzter Kraft zum Zeichen seines Martyriums empor“ (Wimböck 2011, S. 511). Das entspricht ganz den kirchlichen Märtyrerakten und deren frühchristlicher Interpretation, die zum Basiswissen der Kirchengeschichte um 1600 gehörten. In ihnen wurde vor allem betont, dass Petrus sich seinen Peinigern willentlich übergab und sein Martyrium in der Verehrung Christi bejahte.
Renis Version orientiert sich also stärker an der hagiografischen Überlieferung als Caravaggio – was sich auch darin zeigt, dass die Hinrichung an einem vor der Stadt gelegenen Ort stattfindet. Anders als Caravaggio wählt Reni außerdem den Moment, bevor der erste Nagel eingeschlagen wird, was die Brutalität des Martyriums etwas abschwächt. Das Neue an Caravaggios Bild hingegen ist vor allem darin zu sehen, dass er die beginnende Marter Petri physisch nachvollziehbar macht. Navid Kermani benennt den Unterschied mit wenigen Worten: „Er stirbt wie ein Mensch: ratlos, einsam, überrascht“ (Kermani 2015, S. 124).
Literaturhinweise
Friedlaender, Walter: The “Crucifixion of St. Peter”: Caravaggio and Reni. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 8 (1945), S. 152-160;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (2. Auflage);
Kermani, Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015, S. 123-127;
Jansson, Peter: Some reflections on Caravaggio’s Religious Art Based on The Conversion of St Paul and The Crucifixion of St Peter. In: Maj-Britt Andersson (Hrsg.), New Caravaggio. Papers presented at the international conferences in Uppsala and Rome 2013. Edizioni Polistampa, Florenz 2013;
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 274-275;
Lechner, Sonja: NUDA VERITAS – Caravaggio als Aktmaler. Rezeption und Revision von Aktdarstellungen in der römischen Reifezeit. scaneg Verlag, München 2006, S. 152-165;
Wimböck, Gabriele: Wie ein Dieb in der Nacht. Künstlerkonkurrenz und Innovationsdruck um 1600. In: Ulrich Pfisterer/Gabriele Wimböck (Hrsg.), „Novità“. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten um 1600. diaphanes, Zürich 2011, S. 489-517;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 4. Juni 2024)