Donnerstag, 19. Dezember 2013

Ihnen gehört das Himmelreich – Emil Noldes „Christus und die Kinder“


Emil Nolde: Christus und die Kinder (1910); New York, The Museum of Modern Art
(für die Großansicht einfach anklicken)
Grimmige, kantige Fratzen, ungeschlachte, eckige Gestalten, Masken mit spitzen Bärten und Hakennasen in grellen Gelb- und glühenden Rottönen, drastisch charakterisierte Figuren und eine geradezu dramatische Farbwahl: Mit seiner kontrastreichen, leuchtenden Farbigkeit und einer „primitiv“ erscheinenden Formensprache erneuerte der Maler Emil Nolde (1867–1956) am Beginn des 20. Jahrhunderts die religiöse Malerei – und stieß dabei gerade in kirchlichen Kreisen auf erbitterte Ablehnung. Nolde zeigte nicht mehr den süßlich-glatten Jesus der Nazarener, idealschön und makellos, erhaben und edel, wie ihn etwa Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872) oder Johann Friedrich Overbeck (1789–1869) gestaltet hatten. In seinen grellbunten Bildern verzichtete er auf jedes historische Milieu, wie es im 19. Jahrhundert üblich war, ebenso auf dekorative Einzelheiten und realistische Details. Nolde ging es darum, Gefühle sichtbar zu machen – mittels der spannungsreich eingesetzten und intensiven Farbe bannt er Emotionen unmittelbar auf die Leinwand und lässt die Figuren auf diese Weise ihr Inneres preisgeben.
Johann Friedrich Overbeck: Der Ostermorgen (um 1818);
Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast
Emil Nolde wurde 1867 als Emil Hansen im deutsch-dänischen Grenzgebiet geboren. Später nannte er sich nach seinem gleichnamigen Geburtsort. Zu seiner glühend-expressionistischen Malweise kam er erst 1909, als über 40-Jähriger – mit drei biblischen Bildern, dem Abendmahl, der Verspottung Christi und dem Schlüsselwerk Pfingsten: Dicht um einen Tisch gedrängt, schließt die Gemeinschaft der Jünger einen Kreis. Ihre starren, teils ekstatisch-entrückt in die Ferne blickenden, teils in sich gekehrten Augen verweigern den Blickkontakt mit dem Betrachter. Ein inneres Erlebnis wird hier dargestellt, ohne jedes schmückende Beiwerk – das tiefe Ergriffensein vom Heiligen Geist.
Emil Nolde: Pfingsten (1909); Berlin, Nationalgalerie
Emil Nolde: Abendmahl (1909; Kopenhagen, Statens Museum for Kunst

Emil Nolde: Verspottung Christi (1909); Berlin, Brücke-Museum
In dem Gemälde Christus und die Kinder von 1910 verbildlicht Nolde eine Szene, die das Matthäus-Evangelium in Kapitel 19,13-15 schildert (LUT): „Da wurden Kinder zu ihm gebracht, damit er die Hände auf sie legte und betete. Die Jünger aber fuhren sie an. Aber Jesus sprach: Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich. Und er legte die Hände auf sie und zog von dort weiter.“
Christus steht, die ganze Bildhöhe einnehmend, als große Rückenfigur leicht links von der Mitte und blickt nach rechts. Da wir ein Bild gewöhnlich von links nach rechts lesen, scheint sich Jesus aktiv den Kindern zuzuwenden. Dieser Eindruck wird durch seinen gebeugten Rücken noch verstärkt. Christus neigt sich zu einem Kind herab und ist dabei, es auf seinen Arm zu nehmen. Die Kinderschar, ein buntes Durcheinander kleiner Wuschelköpfe, drängt von rechts an ihn heran. Die Kleinen schreien begeistert und fuchteln mit ihren Ärmchen. Jedes Kind möchte von ihm hochgehoben werden. „Die Bewegung und Energie, die in den Kindern steckt, kommt besonders in der Farbgebung zum Ausdruck, im schrillen nebeneinander der Orange- und Rottöne, die durch vereinzelte Grünakzente in ihrer strahlenden Wirkung noch intensiviert sind“ (Stückelberger 2002, S. 234).
Auf der anderen Seite sind die in kaltem Blau gemalten Jünger zu sehen, die missmutig und verständnislos das Geschehen beobachten. Die Farben entsprechen den Gefühlen der jeweiligen Figuren: Den abweisenden Jüngern stellt Nolde die jubelnde Freude der Kinder und das liebevolle Verhalten Jesu gegenüber. Noldes Bild lebt vom Kontrast zwischen der kühlen, eher statischen linken und der warmen, sehr bewegten rechten Seite. Christus ist sowohl kompositionell als auch farblich mehr der linken Seite zuzurechnen. Gleichzeitig übernimmt er jedoch eine Art Brückenfunktion, indem er sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit den Kindern zuwendet und sich mit Oberkörper und Kopf auf ihre Seite neigt. „Statt der Distanz, die die Jünger wahren, sucht er die Begegnung, statt der Polarisierung die Verbindung“ (Stückelberger 2002, S. 235). Dass Noldes Bild so auf uns wirkt, liegt maßgeblich am Gegensatz von dunkler linker und heller rechter Seite. Da helle Farben die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen, schweift unser Blick in diesem Gemälde automatisch nach rechts: Wir folgen mit unseren Augen der Bewegung Christi.
Johannes Stückelberger verweist darauf, dass die Gestalt Jesu in Noldes Bild derjenigen in Rembrandts Radierung Auferweckung des Lazarus (um 1632) sehr ähnlich sei. Rembrandt gehört zu den Größen unter den alten Meistern, mit denen sich Nolde identifizierte und deren Werke für ihn immer wieder zur Inspirationsquelle wurden. Wie bei Christus und die Kinder ist Jesus in Rembrandts Radierung von hinten zu sehen und dominiert die Szene. Der Betrachter befindet sich mit Christus in einem höhlenartigen Innenraum und blickt in Richtung Ausgang. Der Vordergrund und der Rücken Jesu liegen im Dunklen, die rechte Bildhälfte wird dagegen vom Licht erhellt.
Rembrandt van Rijn: Auferweckung des Lazarus (um 1632); Radierung
Es existiert eine von Nolde zusammengestellte Liste, die mit „Meine biblischen und Legendenbilder“ überschrieben ist und Gemälde aus den Jahren 1909 bis 1951 aufführt. Auf drei Seiten eines gefalteten Blattes hat der Künstler die Titel dieser Werke in chronologischer Reihenfolge vermerkt – es sind insgesamt 55. Diese Zahl wie auch das Verzeichnis selbst belegen das außergewöhnliche Interesse Noldes an diesem Themenbereich.
Es ist leicht, von Emil Noldes Bildern begeistert zu sein. Aber gesagt werden muss auch: Nolde war ein strammer Antisemit, der sich glühend zu seinem „Führer“ bekannte. Das zeigen neu aufgefundene Dokumente sehr deutlich (siehe DIE ZEIT vom 21.10.2013; http://www.zeit.de/2013/42/emil-nolde-nationalsozialismus).Was einmal mehr belegt: Ein großer Maler zu sein heißt nicht, auch ein großer Mensch zu sein.

Literaturhinweise
Hamburger Kunsthalle (Hrsg.): Emil Nolde. Legende, Vision, Ekstase. Die religiösen Bilder. DuMont Buchverlag, Köln 2000;
Jüngling, Kirsten: Emil Nolde. Die Farben sind meine Noten. Biographie. Propyläen, Berlin 2013;
Stückelberger, Johannes: „Rembrandt war es, den wir suchten“ – Nolde im Dialog mit den alten Meistern. In: Nolde im Dialog 1905-1913. Quellen und Beiträge. Hirmer Verlag, München 2002, S. 226-241;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 7. Mai 2020)

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