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Max Beckmann: Kreuzabnahme (1917); New York, Museum of Modern Art
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Nach dem Ausbruch des
Ersten Weltkriegs meldet sich wie viele andere Künstler auch der Maler Max
Beckmann (1884–1950) als Freiwilliger: Er wird als Sanitätshelfer an der
Ostfront und danach in Flandern eingesetzt, wo er anfangs in einem
Typhuslazarett und dann in einem Operationssaal arbeitet. Die Erlebnisse und
Erfahrungen dieser Zeit erschüttern ihn tief – 1915 beurlaubt man ihn wegen
seiner zerrütteten Nerven vom Dienst. Ein befreundetes Ehepaar nimmt ihn in
Frankfurt am Main auf, wo er wieder zu malen und sich mit biblischen Themen
auseinanderzusetzen beginnt. 1917, noch mitten im Krieg, entstehen drei Ölbilder
mit neutestamentlichen Szenen, an denen deutlich der Einfluss
spätmittelalterlicher Kunst ablesbar ist: Adam
und Eva, Kreuzabnahme und Christus und die Sünderin.
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Max Beckmann: Adam und Eva (1917); Berlin, Nationalgalerie |
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Max Beckmann: Christus und die Sünderin (1917); Saint Louis, The Saint Louis Art Museum |
Die Kreuzabnahme, die ich hier näher
vorstelle, wird 1919 als erstes von insgesamt 13 Gemälden Beckmanns vom
Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt erworben. 1925 schließlich tritt der
Künstler ein Lehramt an der Städtischen Kunstgewerbeschule an – das ihm die
Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung wieder entziehen. Im Herbst 1936
gehört die Kreuzabnahme zu den ersten
von landesweit fast 700 Werken des Künstlers, die die neuen Machthaber
konfiszieren. Ebenso wie Christus und die
Sünderin und weitere seiner Gemälde wird das Werk 1937 zunächst in München
als „entartete Kunst“ zur Schau gestellt. Hals über Kopf nimmt Beckmann am Tag
der Ausstellungseröffnung mit seiner Frau von Berlin aus den Zug nach
Amsterdam. Erst 1947 kann das Ehepaar von den Niederlanden in die Vereinigten
Staaten ausreisen. Beckmann kehrt nach 1937 nicht mehr nach Deutschland zurück
– er stirbt am 27. Dezember 1950 in New York.
In der Kreuzabnahme ist Golgatha als
lehmfarbener, kahler Hügel wiedergegeben, auf dem sich einige wenige Steine und
abgestorbenes Gehölz entdecken lassen. Im Mittelgrund ragt das T-förmige Kreuz
auf, an dem eine auffallend unproportionierte Leiter lehnt. Unverhältnismäßig
groß wirkt im Vergleich zu den anderen dargestellten Figuren auch der Leichnam
Christi, der soeben von Nikodemus und Josef von Arimathäa vom Kreuz abgenommen
wurde. Der bereits leichenstarre, gelblich-bleiche Körper mit seinen überlängten,
steckendürren und weit ausgestreckten Armen ist diagonal über die Bildfläche ausgebreitet. Das magere
Antlitz mit den noch leicht geöffneten, gebrochenen Augen wirkt wie der
sperrige, ausgezehrte Körper insgesamt skelettartig reduziert. Hier wird nicht – im Sinne
des mittelalterlichen Andachtsbildes – der tote Christus zur Verehrung
dargeboten. An die Auferstehung eines derartigen Leichnams mag man kaum glauben
– ein Eindruck, wie er sich ähnlich angesichts von Hans Holbeins Christus im Grabe aufdrängt (siehe meinen Post „Ganz Mensch, ganz tot“).
Rechts unten knien
zwei Frauen unter dem Kreuz: die Mutter Jesu mit weinend verzerrtem Gesicht und
Klagegestus, rechts neben ihr in schmutzig-weißem Gewand Maria Magdalena. Eine
einheitliche Perspektive existiert nicht mehr: Die schräg abfallende Bildbühne
ist von oben gesehen, der Leichnam Christi wird uns frontal dargeboten, die
Leiter wiederum versetzt unseren Blickpunkt in die Tiefe. Die oberen Stufen
sind nicht sichtbar – als sei der Gottessohn aus dem Kosmos herabgestiegen. Blasse
Gelbgrün- und Grauockertöne bestimmen die Farbgebung. Lediglich einzelne
Gewandstücke setzen Farbakzente in Blau, Schwarz und Rot. Eine karmesinrot
verdunkelte Sonne erhellt den fahlen Hintergrund.
Spiegeln
sich in der Kreuzabnahme die
bedrückenden Kriegserfahrungen Beckmanns? Der Glaube an den Erlösertod Jesu und
seine Auferstehung jedenfalls wird hier nicht mehr verkündet. An diesem
Christus weist nichts mehr auf den glorreich über die Macht des Todes
triumphierenden Sieger hin. Eine wie auch immer geartete Verheißung lässt sich
in der Kreuzabnahme nicht erkennen. Spürbar
wird vielmehr die Depression der Kriegsteilnehmer, das Erlebnis der
Gottverlassenheit in einer irdischen Hölle. 1919 erklärt Max Beckmann provozierend:
„Mit der Demut vor Gott ist es vorbei. Meine Religion ist Hochmut vor Gott,
Trotz gegen Gott. Trotz, daß er uns geschaffen hat, daß wir uns nicht lieben
können. Ich werfe in meinen Bildern Gott alles vor, was er falsch gemacht hat“
(Piper 1950, S. 33).
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Hans Pleydenwurff: Kreuzabnahme (um 1465-1470); München, Alte Pinakothek
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Rogier van der Weyden: Beweinung Christi (um 1440-1450); Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts |
Immer
wieder ist im Zusammenhang mit Beckmanns biblischen Bildern von 1917 auf den
Einfluss spätgotischer Kunst hingewiesen worden. So könnte bei der Kreuzabnahme z. B. die entsprechende
Darstellung aus dem Hofer Altar von Hans Pleydenwurff (1420–1472) als Vorbild
gedient haben. Der in der Bildfläche ausgebreitete Leichnam Jesu, umgeben von
teils stützenden, teils knienden, emotional reagierenden Figuren, geht
letztlich auf Rogier van der Weyden (1400–1464) zurück, dessen Beweinung Christi Beckmann 1915 in
Brüssel gesehen haben dürfte. Auch ein hölzernes Vesperbild aus dem Frankfurter
Liebieghaus (um 1390) hat Beckmann sehr beeindruckt (Piper 1950, S. 32) – dessen
Compassio-Appell übersetzt der Maler
jedoch in eine Körpersprache, die das Groteske streift. |
Pietà (um 1390); Frankfurt, Liebieghaus
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Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, 1. Schauseite (1512-1516), Colmar, Musée d’Unterlinden
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Außerdem hat Beckmann in seiner Kreuzabnahme die uneinheitliche Größe der Figuren von der mittelalterlichen Sakralmalerei übernommen: Dieses Gestaltungsprinzip wird Bedeutungsperspektive genannt, da der Figurenmaßstab dem jeweiligen Stellenwert der dargestellten Personen entspricht. Ein Bezug zu dem überproportional großen Christus auf Isenheimer Altar in Colmar liegt daher ebenso nahe: Matthias Grünewald (um 1480–1528) zeigt einen gekreuzigten Sohn Gottes mit ausgemergeltem Körper, überlängten, qualvoll ausgespannten Armen und breiten Füßen – Beckmann nimmt diesen Leichnam nun vom Kreuz ab.
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El Greco: Die Öffnung des fünften Siegels (um 1608/14); New York, Metropolitan Museum of Art (für die Großansicht einfach anklicken)
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Veronika Schroeder verweist darüber hinaus auf den Figurentypus El Grecos (1541–1614) als Inspirationsquelle für Beckmanns Christus. Hier wäre z. B. die Gestalt des „Flehenden“ mit seinen ausgestreckten Armen in der Öffnung des fünften Siegels zu nennen. Auch die kniende Frau mit schwarzer Kapuze bezieht sich auf El Greco: Sie ist verwandt mit dem kleinen, schwarzgekleideten Pagen in dessen Begräbnis des Grafen von Orgaz (um 1586/88; Toledo, Santo Tomé), der dort von links mit einem Zeigegestus in das Geschehen hineinführt. In den 1910er-Jahren hatte sich in Deutschland unter den modernen Malern eine große Begeisterung für den spanischen Maler und seine Gestaltungsprinzipien Bahn gebrochen, die in zahlreichen Kunstwerken ihre deutlichen Spuren hinterließen.
Literaturhinweise
Aust, Günter: Max
Beckmann und die Spätgotik. In: Bazon Brock/Achim Preiß (Hrsg.), Ikonographia.
Anleitung zum Lesen von Bildern. Klinkhardt & Biermann, München 1990, S.
249-280;
Eberle, Mathias: Der
Weltkrieg und die Künstler der Weimarer Republik. Dix – Grosz – Beckmann –
Schlemmer. Belser Verlag, Stuttgart und Zürich 1989, S. 81-110;
Piper, Reinhard:
Nachmittag. Erinnerungen eines Verlages. Piper Verlag, München 1950;
Schroeder, Veronika: »Wir können Formen
nur solange verstehen als wir ihrer bedürfen.« El Greco im Blick junger
Expressionisten. In: Beat Wismer/Michael Scholz-Hänsel (Hrsg.): El Greco und
die Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012, S. 220-249;
Ulmer, Renate: Passion
und Apokalypse. Studien zur biblischen Thematik in der Kunst des
Expressionismus. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1992, S. 86-88.
(zuletzt bearbeitet am 7. Dezember 2020)
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