Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, 1. Schauseite (1512-1516); Colmar, Musée d’Unterlinden |
Die
Trennungslinie der beiden zugeklappten Flügel liegt auf der linken Kante des
Kreuzesbalkens und fällt daher kaum auf. Da eine Mittelrahmung fehlt, entsteht
eine einheitliche, nicht unterteilte Szenerie. Vor einer düsteren, kargen
Landschaft erhebt sich im Zentrum das grob zubehauene Kreuz, an dem wir Jesus
ganz nah, nämlich dicht über dem steinigen Erdboden und in vorderster Bildebene, hängen sehen. „Ein
durchgehender Tonus spannt diesen Leib, zerrt und spreizt die Finge
der nageldurchbohrten Hände, verkrampft die Füße und Zehen, die das
Suppedaneum nicht berühren wollen. Und das bedeutet, dass er nicht im Tod gelöst und zusammengesackt, sondern ungeachtet seiner Verfärbung und
der Seitenwunde sterbend, aber noch am Leben und voll Schmerzempfindung ist und dies durch Körpersprache und Pathognomie äußert“ (Prater 2019, S. 14). Der Himmel hinter dem Kreuz hat sich völlig verfinstert,
was den Evangelien der Synoptiker entspricht (Matthäus 27,45; Markus 15,34;
Lukas 23,44). Hinter dem Kreuz wird ein felsiges Ufer sichtbar, an dem ein grünlich-leuchtender Fluss vorüberfließt. Das andere Ufer scheint ebenfalls felsig zu sein, schemenhaft sind die Silhouetten einiger gebäude zu erahnen.
Unter einer weit ausgreifenden Dornenkrone ist das Haupt des
Gekreuzigten tief herabgesunken, der Mund mit farblosen Lippen in äußerster Pein
geöffnet. An seinem Körper sind nicht nur die Qualen der Kreuzigung, sondern
auch die vorangegangenen Misshandlungen ablesbar. Grünewald zeigt den Sohn Gottes überaus
drastisch mit geschundenem, von Wunden übersäten Leib, voller Dornensplitter,
mit verrenkten und geschwollenen Füßen, krampfhaft gespreizten, aufwärts
gedrehten Fingern und zerfetztem Lendentuch. Er ist der „Mann der Schmerzen“,
von dem der Prophet Jesaja spricht: „Wir aber hielten ihn für den, der geplagt
und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat
willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf
ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jesaja
53,4-5; LUT). Der durchgebogene Querbalken veranschaulicht dabei die Sündenlast
dieser Welt, die Christus am Kreuz auf sich lädt.
Der geschundene Leib des Gottessohns |
Der Aufschrei der Hände |
Das
Kreuz, das sich von der Unterkante des Bildes bis zur Oberkante im erhöhten
Auszug erstreckt, ist zusammen mit der Christusfigur aus der Bildmitte leicht
nach rechts verschoben, damit die Öffnungskante deren Kopf und Leib nicht
zerteilt. Gleichzeitig steht auf diese Weise für die Trauernden auf der linken
Seite mehr Platz zur Verfügung als für die isolierte Figur Johannes des Täufers
rechts. Er ist jedoch im Maßstab größer und mächtiger als die Gestalten links;
mit seinem überlangen rechten Zeigefinger weist er auf den Gekreuzigten und
füllt so die Bildfläche.
Vorbild für den Betrachter: Maria, Johannes und Maria Magdalena |
Johannes der Täufer, der Wegbereiter Jesu |
Grünewald
hat den Gekreuzigten deutlich größer als den Täufer und die Trauernden ihm
gegenüber dargestellt. Bewusst durchbricht der Künstler den einheitlichen
Maßstab, um die Göttlichkeit Jesu hervorzuheben. In der Beweinungsszene der
Predella setzt Grünewald dieses Gestaltungsmittel erneut ein: Hier sind die
Trauernden, vor allem Johannes, dem Leichnam Christi so nahe gerückt, dass
dessen „Übergröße“ sofort auffällt.
Ein muskulöser Sebastian im Kontrapost – ohne italienische Vorbilder kaum denkbar |
Wie
Wächter rahmen Sebastian und Antonius das Geschehen auf Golgatha, wie Statuen
auf kunstvoll gearbeiteten, steinernen Sockeln stehend. Während die Postamente in Grisaille ausgeführt sind,
erscheinen die farbig gehaltenen Figuren lebendig. Den muskulösen Oberkörper
Sebastians – zu erkennen sind die unter der Haut verlaufenden Sehnen und
Muskelstränge – haben viele Kunsthistoriker mit italienischen Vorbildern in
Verbindung gebracht. Er ist trotz der von den Pfeilen herrührenden Wunden
deutlich weniger von dem erlittenen Martyrium gezeichnet als der Gekreuzigte. Sebastian ist wie üblich als Aktfigur dargestellt, aber auxh in ei weites Tuch gehüllt, „dessen tiefrote Farbe seine Blutzeugenschaft geradezu plakativ verkündet“ (Prater 2019, S. 16).
Der standfeste Eremit |
Die ganz
in Düsternis gehüllte Kreuzigungsszene – selbst die hellen Gewandteile, das
zerschlissene Lendentuch Jesu, das weiße Gewand Marias und das Fell des Lammes,
sind in schmutzig grau-gelblichen Nuancen wiedergegeben – wird bestimmt von
leuchtenden Rottönen rechts und links vom Kreuz, die als Passionsfarben gelten.
„Die Gewandung des Täufers, ein blutrot gefärbtes Fell, dessen rauhe Seite er
nach innen trägt, dient vor allem als kompositorisches Element, das die beiden Gruppen
zu Seiten des Kreuzes zusammenhält“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 214). Der
ausgefranste und zerlöcherte Stoff des Lendentuchs Christi gleicht übrigens der
Windel, in der Maria auf der zweiten Schauseite ihr Kind hält – damit deutet
Grünewald schon bei der Geburt Jesu die Passion und den Tod des Erlösers an.
Bei
genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Figur des Täufers sehr plastisch
gestaltet ist, die Beinstellung, der ausgestreckte Arm und der Kopf sind anatomisch sehr
überzeugend wiedergegeben, während Maria und Johannes flach und
unproportionierter wirken. Der rechte Arm des Evangelisten erscheint überlängt
und knochenlos, die Hände sind seltsam verformt. Anne-Marie Bonnet und Gabriel
Kopp-Schmidt gehen davon aus, dass diese Unterschiede darauf hinweisen, dass am
Isenheimer Altar nicht nur Matthias Grünewald, sondern eine Werkstatt mit
deutlich unterscheidbaren Handschriften am Werk war. Die unterschiedlich ausgeführten
Gestalten sind besonders deutlich an der Predella unterhalb der Kreuzigung
erkennbar. „Die extrem verformten Gesichter und Körper der Akteure stehen in
starkem Kontrast zu den Heiligenfiguren der Standflügel mit ihren Volumen und
ihren individuellen Physiognomien“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 214).
Passionskruzifix aus St. Maria im Kapitol, Köln (um 1300) |
Matthias Grünewald und sein Werk waren bis Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu vergessen. Dann erst begann die kunstgeschichtliche Forschung, sich näher mit ihm zu befassen. Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich zeigten sich die Künstler in Deutschland zunehmend an Grünewald interessiert: Sie waren vor allem fasziniert von seiner exaltierten Gesten- und Gebärdensprache, den verzerrten und überlängten Körperformen und dem intensiven Kolorit. Entscheidend für die Wiederentdeckung Grünewalds war die Ausstellung des Isenheimer Altars vom 22. November 1918 bis zum 27. September 1919 in der Alten Pinakothek in München. Man hatte den Altar im Winter 1917 zum Schutz vor dem Kriegsgeschehen von Colmar nach München gebracht und dort restauriert. Danach wurde er der Öffentlichkeit präsentiert – und Tausende pilgerten regelrecht in die Alte Pinakothek, um Grünewalds Meisterwerk zu sehen, selbst während der bürgerkriegsähnlichen Zustände in den Tagen der Münchner Räterepublik im April und Mai 1919. Vor dem zeitgenössischen Hintergrund ist verständlich, dass die Kreuzigung in den Beschreibungen der Ausstellung die meiste Aufmerksamkeit erhielt: Sie ließ nicht nur die Grauen des Krieges lebendig werden, sondern spiegelte auch Trauer und Schmerz der Menschen. Dabei wurde wohl von vielen Betrachtern, so Katharina Heinemann, durch die Geste Johannes des Täufers „der Glaube als Ausweg aus dem durch Gewalt, Armut und Krankheit traumatisierenden Diesseits“ (Heinemann 2003, S. 13) verstanden.
Erstrahlt wieder in jugendlicher Frische |
Literaturhinweise
Arndt, Karl:
Mathis Neithart Gothart, genannt Grünewald in seiner Epoche. In: Staatliche
Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag,
München/Berlin 2007, S. 19-29;
Béguerie-De Paepe, Pantxika/Lorentz, Philippe (Hrsg.): Grünewald und der Isenheimer Altar.
Ein Meisterwerk im Blick. Musée d’Unterlinden, Colmar 2007;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010, S. 211-225;
Heinemann, Katharina: Entdeckung und Vereinnahmung. Zur Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945. In: Brigitte Schad/Thomas Ratzka, Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Matthias Grünewalds im 20. Jahrhundert. Wienand Verlag, Köln 2003, S. 8-17;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010, S. 211-225;
Heinemann, Katharina: Entdeckung und Vereinnahmung. Zur Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945. In: Brigitte Schad/Thomas Ratzka, Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Matthias Grünewalds im 20. Jahrhundert. Wienand Verlag, Köln 2003, S. 8-17;
Prater, Andreas: Der Isenheimer Altar. Eine Einführung in seine Bildwelt und deren Interpretation. In:
Werner
Frick/Günter Schnitzler (Hrsg.): Der
Isenheimer Altar. Werk und Wirkung. Rombach Verlag, Freiburg i.Br. 2019, S. 9-40;
Pressl, Claus: Grünewald und die Nation. Ein Beitrag zur Rezeption des Künstlers in Deutschland. In: Johanna Aufreiter u.a. (Hrsg.), KunstKritikGeschichte. Festschrift für Johann Konrad Eberlein. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2013, S. 313-331;
Reuter, Astrid: Zur expressiven
Bildsprache Grünewalds am Beispiel des Gekreuzigten. In: Staatliche Kunsthalle
Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag,
München/Berlin 2007, S. 78-86;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 13. März 2024)
Material
1.
1.
In Kolmar stand ich einen
ganzen Tag lang vor dem Altar, ich wußte nicht, wann ich gekommen war, und ich
wußte nicht, wann ich ging. Als das Museum schloß, wünschte ich mir Unsichtbarkeit,
um über Nacht im Museum zu bleiben. Ich sah den Leib Christi ohne Wehleidigkeit,
der entsetzliche Zustand dieses Leibes erschien mir wahr, vor dieser Wahrheit wurde
mir bewußt, was mich an Kreuzigungen verwirrt hatte: ihre Schönheit, ihre Verklärung.
Die Verklärung gehört ins Engelkonzert, nicht ans Kreuz. Wovon man sich in
Wirklichkeit mit Grauen abgewandt hätte, das war im Bilde noch aufzufassen,
eine Erinnerung an das Entsetzen, das die Menschen einander bereiten. Krieg und
Gastod waren damals, im Frühjahr 1927, noch nah genug, um die Glaubwürdigkeit
dieses Bildes zu bewirken. Vielleicht ist die unentbehrlichste Aufgabe der Kunst
zu oft in Vergessenheit geraten: nicht Reinigung, nicht Trost, nicht ein Verfügen
über alles, so als ob es gut ausgehen würde, denn es geht nicht gut aus. Pest
und Geschwür und Qual und Grauen – und für die Pest, die verwunden ist,
erfinden wir schlimmeres Grauen. Was können noch die tröstlichen Täuschungen
bedeuten vor dieser Wahrheit, sie ist sich immer gleich und soll vor Augen
bleiben. Alles Entsetzliche, das bevorsteht, ist hier vorweggenommen. Der
Finger des Johannes, ungeheuerlich, weist darauf hin: das ist es, das wird es
wieder sein. Und was bedeutet das Lamm in dieser Landschaft? War dieser
faulende Mensch am Kreuz das Lamm? Ist er großgewachsen und Mensch geworden, um
ans Kreuz geschlagen zu werden und Lamm zu heißen?
(aus: Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1980, S. 258/259)
(aus: Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1980, S. 258/259)
2.
Grünewald
Wie
sich das Blut bis in die Augen preßt,
Und
sich die Arme aus den Schultern renken,
Die
Haut hängt schlaff, von Todesangst durchnäßt,
Es zerrt der Schmerz in Sehnen
und Gelenken:
Ich
muß sie malen, diese große Last.
Ein
Höllenreich ist über uns errichtet.
Von
keinem Schein von oben her belichtet,
So
lebt der Mensch, geduckt, sich selbst verhaßt.
Ich
muß sie malen, diese Finsternis,
Es
geht die Erde mittendurch‘ ein Riß,
Und
aus dem Abgrund kommt Geheul und Winseln.
Ein
grüner Flor von Licht. Ein wenig Schimmer
Wie
Spur von blödem Lächeln, das noch immer
Erlösung hofft, und
winziges Sterneblinzeln.
Johannes
R. Becher
(aus: Johannes R. Becher, Gesammelte Werke. Bd. 4,
Gedichte 1936-1941. Berlin/Weimar 1966, S. 78)
3.
Kolmar.
Grünewald
Dein
wunder leib erträgt der henker klaue ·
Der
ungeheuer huf und ekle härung
Sein
lebtag · dass er für ein nu sich schaue
Im
rosigen lächeln siegender verklärung.
Stefan
George
(aus: Stefan George, Werke. Ausgabe in zwei Bänden.
Düsseldorf/München 31976, Bd. 1. S. 334)
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