Donnerstag, 23. Februar 2017

Magische Farbspiele – „Das Große Gehege“ von Caspar David Friedrich


Caspar David Friedrich: Das Große Gehege (um 1832); Dresden, Gemäldegalerie
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Das Große Gehege gilt als Krönung von Caspar David Friedrichs Spätwerk, und es ist sicherlich auch ein Höhepunkt der Landschaftsmalerei überhaupt. Der besondere Zauber dieses Gemäldes beruht vor allem auf seinen fein abgestuften Farbtönen, die von hellem Gelb und Blau bis zu blassem Rosa und Olivbraun reichen. Sie vermitteln eine Abendstimmung von großer Stille und feierlicher Schönheit. Es ist der Nachglanz der bereits untergegangenen Sonne, der den Himmel in atemberaubender Farbenpracht leuchten lässt. Sie ist eben hinter einer Wolkenbank verschwunden und zeigt sich nur noch als kleiner gelber Lichtfleck links von der Bildmitte.
Die Erde ist bereits im Halbdunkel versunken, die Baumreihen sind schwärzlich-bräunlich gefärbt, und auch die Wiesen haben ihr saftiges Grün verloren. Friedrich hat das Flussbett in trüben, ja zum Teil schmutzigen Farben wiedergegeben, unterbrochen nur durch die Spiegelungen des Himmels in den Rinnsalen und Pfützen „mit magischen Farbspielen, wie sie das helle Tageslicht nicht hervorzubringen vermag“ (Börsch-Supan 2008, S. 13). Die Form des Flussbettes weckt den Eindruck einer sich dem Himmel entgegenwölbenden Kugel – man assoziiert einen Globus mit Kontinenten und Ozeanen. Mayumo Ohara spricht davon, dass Friedrich die Landschaftselemente so zeige, „als ob sie durch eine Sammellinse gesehen würden“ (Ohara 1984, S. 101); auch für Gregor Wedekind wirkt die weitwinklig angelegte Perspektive Friedrichs, als erhebe sich „aus den Wassern der Weltmeere das trockene Land der Kontinente mit seinem gebirgigen Relief“ (Wedekind 2005, S. 421).
Eine ganz andere Stimmung als die Erde verbreitet der Himmel, der etwa drei Fünftel der Bildfläche einnimmt und alle Dunkelheit überstrahlt. Oben zeigt er ein reines, lichtes Blau, das sich weiter unten nach einer leichten Grüntönung zum kräftigen Gelb verfärbt und schließlich mit einer blaugrauen Wolkenbank eine Art Sockel erhält. „Auf der Reinheit des Himmels, wie sie in dieser Intensität in nicht allzu vielen Bildern Friedrichs vorkommt, beruht vor allem die Strahlkraft des Gemäldes“ (Börsch-Supan 2008, S. 13). Nur in seinen Lebensstufen hat Friedrich noch einmal ein vergleichbares abendliches Firmament geschaffen. Zur Wirkung des Himmels im Großen Gehege trägt auch bei, dass aus dem irdischen Bereich oberhalb der Wolkenbank nichts in die oberirdische lichte Zone hineinragt. Friedrich verzichtet auf eine Verklammerung von Nähe und Ferne, Erde und Himmel durch ein überschneidendes Motiv, wie er es nicht nur in den Lebensstufen, sondern z. B. auch im Abendstern verwendet hat.
Caspar David Friedrich: Die Lebensstufen (um 1835); Leipzig, Museum der bildenden Künste
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Caspar David Friedrich: Der Abendstern (um 1830); Frankfurt, Freies Deutsches Hochstift
Nicht nur das Licht des Himmels spiegelt sich im irdischen Bereich, auch zwischen den Formen besteht eine deutlich erkennbare Symmetrie, deren Achse der Waldrand unterhalb des Horizontes bildet. Die zerfasernden dunklen Wolkenstreifen entsprechen den zerrissenen Lichtreflexen auf dem Wasser, wobei oben Dunkles vor hellem und unten Helles vor Dunklem steht. „Mit Bedacht ist weiter unten eine Überschneidung der Büsche am jenseitigen Elbufer und der Allee vermieden, so daß ein von links bis zu dem Segelschiff durchgehender horizontaler Streifen Wiese sichtbar bleibt“ (Börsch-Supan 2008, S. 14). Vor allem im Flussbett vorn ordnen sich die hellen und dunklen Flächen zu einer Wölbung, die von links, genau in der unteren Ecke beginnend, ansteigt und sich auf der anderen Seite nicht ganz so tief herabzusenken scheint. Im Himmel dagegen senkt sich in entgegengesetzter Richtung, begleitet von dem Gebirgszug in der Ferne, die Wolkenbank in einer sanften, nicht ganz regelmäßigen Kurve zur Mitte herab, um dann wieder leicht aufzusteigen. Willi Wolfradt hat diese Kompositionsform, die bei Friedrich öfter auftaucht (z. B. in seinem Mondaufgang am Meer), „hyperbolisches Schema“ genannt (Wolfradt 1924, S. 126): Die Bildgestalt wirkt an dieser Stelle wie „zusammengeschnürt“.
Caspar David Friedrich: Mondaufgang am Meer (1822); Berlin, Alte Nationalgalerie
Befremdlich wirkt, dass die Elbe von rechts im Mittelgrund in einem Bogen nach links zu fließen und vorn in vielen Verästelungen zwischen Sand- und Schlamminseln zu versiegen scheint. „Das mit Holz beladene Schiff, dessen Segel in schwachem Wind von rechts sich leicht bläht, wird unweigerlich auf Grund laufen“ (Börsch-Supan 2008, S. 12). Gleichzeitig ist das Boot wichtiger Bestandteil der Komposition, denn Friedrich markiert mit ihm den Goldenen Schnitt. Unklar ist auch, wo sich eigentlich der Betrachter befindet: „Stehen wir auf einer Brücke, wie für den Standort des Malers vermutet wurde, oder schweben wir (mit ihm) in einem Ballon über allem hinweg?“ (Hofmann 2000, S. 237).
Der Titel des Bildes erweckt den Eindruck, als handele es sich um eine mehr oder weniger topografisch genaue Wiedergabe eines bestimmten Ortes, nämlich des Ostrageheges bei Dresden. So heißt ein am Südufer der Elbe gelegenes flaches Wiesengelände nordwestlich des Dresdner Stadtzentrums, das sich wie eine Halbinsel nach Norden erstreckt. Friedrich konnte das Große Gehege von seiner Dresdener Wohnung aus zu Fuß in einer halben Stunde erreichen. Dennoch zeigt sein Gemälde, obwohl überzeugend realistisch dargestellt, keinen so vorfindbaren Naturausschnitt, sondern „eine bewußt geordnete Kunstwelt“ (Ohara 1984, S. 117).

Literaturhinweise
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Gefühl als Gesetz. Deutscher Kunstverlag, München 2008, S. 11-18;
Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. Verlag C.H. Beck, München 2000, S. 236-237;
Ohara, Mayumi: Über das sog. »Große Gehege« Caspar David Friedrichs. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 47 (1984), S. 100-117;
Wedekind, Gregor: Bilder für ehrliche Leute. Zum Problem der Mimesis bei Caspar David Friedrich. In: Martin Gaier u.a. (Hrsg.), Der unbestechliche Blick. Festschrift zu Ehren von Wolfgang Wolters zu seinem siebzigsten Geburtstag. Porta Alba Verlag, Trier 2005, S. 413-427 ;
Wolfradt, Willi: Caspar David Friedrich und die Landschaft der Romantik. Mauritius-Verlag, Berlin 1924.

(zuletzt bearbeitet am 14. Juli 2020) 

Dienstag, 21. Februar 2017

Predigen bis zum letzten Atemzug – Caravaggios „Martyrium des Apostels Andreas“


Caravaggio: Martyrium des Apostels Andreas (1607); Cleveland,
Cleveland Museum of Art (für die Großansicht einfach anklicken)
Andreas, Bruder von Simon Petrus und wie dieser Fischer von Beruf, war der Erste, der von Jesus als Jünger berufen und zu einem seiner zwölf Apostel wurde (Johannes 1,35-40). In späteren Jahren bekehrte er der Legende nach im griechischen Patras Maximilla, die Frau des römischen Statthalters Ägeas, zum Christentum und taufte sie. Ägeas ließ ihn daraufhin geißeln und zu besonderer Pein und langsamem Tod an ein X-förmiges Kreuz binden. Doch Andreas predigte an seinem Marterwerkzeug noch zwei Tage lang dem herbeiströmenden Volk, das bald seine Freilassung forderte. Als der Statthalter schließlich den Befehl gab, Andreas loszubinden, wurden durch göttliches Eingreifen die Arme der Schergen gelähmt, hatte der Apostel Christus doch inständig gebeten, am Kreuz sterben zu dürfen. Danach, heißt es in der Legenda aurea, „kam ein überwältigender Glanz vom Himmel und umgab ihn eine halbe Stunde, so daß keiner ihn sehen konnte, und als das Licht verschwand, gab er zugleich seinen Geist auf“ (de Voragine 2014, S. 117).
Caravaggio hat genau diese letzten Augenblicke auf seinem wohl 1607 in Neapel entstandenen Gemälde dargestellt. Der nur mit einem Lendentuch bekleidete Andreas ist an das in vorderster Bildebene aufragende Kreuz gefesselt. Von der Tradition abweichend, aber nicht ohne Vorbilder sind die Balken des Kreuzes im rechten Winkel angebracht und nicht diagonal übereinandergelegt. Caravaggio spielt jedoch mit der Beinstellung des Andreas auf diese Kreuzform an. Auf der linken Seite hat ein Scherge seine Leiter an das Kreuz gelehnt, um den Märtyrer loszubinden. Die beiden sind gleich groß und und in annähernd gleicher Weise dargestellt.
Am Fuß des Kreuzes verfolgen vier zeitgenössisch gekleidete Gestalten das Geschehen. Rechts im Vordergrund steht, durch seine metallene Rüstung und den federgeschmückten Hut ausgezeichnet, der römische Prokonsul. Er blickt zu dem auf der Leiter stehenden Handlanger auf, dem er wohl kurz zuvor befohlen hat, dem Apostel die Fesseln zu lösen. Drei weitere Zuschauer, eine ältere Frau mit Kopftuch und zwei männliche Figuren, sind tiefer im Bild angeordnet; die beiden Männer werden teilweise durch den Prokonsul verdeckt. Am rechten Bildrand hat Caravaggio einen hellen Lichtstreifen eingefügt, dessen Quelle sich nicht ausmachen lässt – womöglich ist damit der himmlische Glanz gemeint, von dem die Legende erzählt.
Die gesamte Szene ist wie so oft bei Caravaggio in dramatisches Helldunkel getaucht (siehe meinen Post „Malerei mit dem Scheinwerfer“); die Personen sind deutlich nach Modellen gemalt. Eindrucksvoll ist vor allem die Gestalt des Apostels: Sein Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen, das Haupt kraftlos auf die linke Schulter gesunken. Caravaggio verzichtet auf jedwede Idealisierung des Apostelkörpers. Der vergehende Blick deutet an, dass der Märtyrer seine letzten irdischen Momente erlebt. Naturalistisch sind auch die gealterten Gesichtszüge der Frau und ihr gut erkennbarer Kropf dargestellt. Die lebensnah wiedergebene Figur, die hier das „einfache Volk“ vertritt, erinnert an die bäuerlichen Pilger in Caravaggios Madonna di Loreto.
Caravaggio: Madonna di Loreto (um 1604); Rom SantAgostino
Das Ereignis wird nah an die vordere Bildebene herangerückt, der Betrachter ist sozusagen ein weiterer Zuschauer, Teil der Volksmenge. Der Apostel „füllt fast das ganze Bildformat, und die halbfigurigen, von der Komposition angeschnittenen Gestalten der unteren Bildhälfte suggerieren eine Kontinuität von Bild und Betrachterraum“ (Schütze 2009, S. 193). Besonders der aufblickende, im Profil gezeigte Prokonsul dient dabei als Identifikationsfigur. Caravaggio greift mit dieser Gestalt nochmals den geharnischten Offizier aus seiner Dornenkrönung Christi auf (siehe meinen Post „Der angespiene König“).
Caravaggio: Dornenkrönung Christi (1602/03); Wien, Kunsthistorisches Museum
Das sicherlich als Altarbild gedachte Martyrium des Apostels Andreas gehörte zu den ersten Gemälden Caravaggios, die nach Spanien gelangten. Es war für die Rezeption seiner Werke in der iberischen Malerei des 17. Jahrhunderts von großer Bedeutung, vor allem für die Bilder von Jusepe de Ribera (1591–1652).
Jusepe de Ribera: Martyrium des Apostels Philippus (um 1639); Madrid, Museo del Prado

Literaturhinweise
Cassani, Silvia/Sapio, Maria (Hrsg.): Caravaggio. The Final Years. Electa Napoli, Neapel 2005, S. 109-110;
de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Erster Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014, S. 101-125;   
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 208-209;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 167-169;
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 219-223;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011.

(zuletzt bearbeitet am 31. Juli 2021) 

Dienstag, 14. Februar 2017

Der beseelte Mensch – Michelangelos „Erschaffung Adams“ in der Sixtinischen Kapelle


Michelangelo: Erschaffung Adams (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Erschaffung Adams ist ohne Frage das berühmteste Bildfeld an Michelangelos Sixtinischer Decke. Der Schöpfergott – wie wir ihn schon aus der Erschaffung von Sonne und Mond kennen (siehe meinen Post „Das Gesäß des Allmächtigen“) – nähert sich fast liegend, aber in kraftvoller Bewegung, „als der Inbegriff vorwärtsdrängender göttlicher Energie“ (Herzner 2015, S. 68), von rechts der athletischen Gestalt Adams, umgeben von einer Schar Begleiter und umfangen von einem rötlichen Tuch. Der erste Mensch wiederum lagert, ganz der Erde verhaftet, in völliger Passivität auf einem Abhang und wendet seinen Blick sehnsuchtsvoll dem Schöpfer zu. Adams linker Arm – nicht der üblicherweise aktivere rechte – ist Gott entgegengestreckt, doch wirkt auch diese Geste etwas kraftlos; der Unterarm bedarf der Stütze, die er auf dem aufgestellten linken Bein findet, „und die matte Hand erreicht nur mit erkennbarer Mühe die Nähe der Hand Gottes, in deren ausgestrecktem Zeigefinger wiederum die schöpferische Energie kulminiert“ (Herzner 2015, S. 68). Der Blick des Allmächtigen – wie auch der seiner Begleiter – ist auf die Stelle gerichtet, wo sich die beiden Hände begegnen: Michelangelo zeigt Adam als Geschöpf Gottes, das durch göttliches Wirken zu dem wird, was es ist.
Athletisch und doch kraftlos
Betont wird damit, so Volker Herzner, die „dramatische Ungleichheit im Verhältnis des Schöpfergottes zum ersten Menschen“ (Herzner 2015, S. 69). Trotz seiner athletischen Gestalt wirkt Adam ohne echte innere Energie. Der Gestus Gottvaters ist einerseits äußerst behutsam, gleichzeitig lässt sich an seinem muskulösen rechten Arm die überirdische Kraft und Majestät des Schöpfers ablesen. Michelangelo ist es gelungen, mit der bekanntesten Geste der abendländischen Kunstgeschichte „den unendlichen Abstand zwischen dem auf Gott angewiesenen Menschen und der göttlichen Allmacht ins Bild zu setzen“ (Herzner 2015, S. 69).
Um das Pathos der Begegnung von Gott und Mensch zu steigern, verwendet Michelangelo einen einfachen, aber sehr wirkungsvollen Kunstgriff: Er lässt Gottvater von rechts nach links agieren und kehrt so die abendländische Leserichtung um. „Indem das Herannahen der Gottheit durch die veränderte Leserichtung scheinbar verlangsamt wird, gewinnt der Gestus Gottvaters, das machtvolle Auslangen seines rechten Armes, erhöhte kompositorische Bedeutung: wohlwollende Nähe und in gleichem Augenblick erhabener, unüberbrückbarer Abstand, göttliche Eile und zum selben Zeitpunkt vollkommenes, transzendentes Innehalten, das jegliche materielle Berührung ausschließt“ (Schüßler 2002, S. 315).
Nicht nur Gottvater, auch der Sohn und der Heilige Geist sind mit von der Partie
An der Gestalt Gottvaters fällt auf, dass der rechte Arm bis zum Ansatz der Schulter entblößt ist und quasi die Nacktheit Adams fortsetzt. Der linke Arm dagegen liegt weit ausgreifend um die Schultern eines größeren himmlischen Wesens und wird fast vollständig von dem eng anliegenden Ärmel seiner hellvioletten Tunika bedeckt. Es muss eine besondere Bewandnis haben mit diesem entblößten rechten Arm, denn in allen anderen Genesis-Szenen der Sixtina hat Michelangelo dem Schöpfer eine lange Ärmeltunika sowie einen weiten Umhang bzw. Mantel von rötlich-violetter Farbe verliehen. Mit dem ausgestreckten Arm Gottvaters hält sich Michelangelo durchaus eng an biblische Aussagen, denn in Jeremia 27,5 heißt es: „Ich habe die Erde gemacht und Menschen und Tiere, die auf Erden sind, durch meine große Kraft und meinen ausgereckten Arm“ (LUT). Gosbert Schüßler hat darauf hingewiesen, dass die exegetische Literatur von den Kirchenvätern an den „Arm Gottes“ mit Christus gleichsetzt. Und die bekannte, sehr wahrscheinlich von dem karolingischen Gelehrten Hrabanus Maurus verfasste Hymne „Veni Creator Spiritus“ enthält eine Strophe, in der der Heilige Geist als „dextrae Dei tu digitus“ („Finger Gottes, der uns führt“) bezeichnet wird.
Das Besondere an der Erschaffung Adams ist daher, dass Michelangelo den Schöpfer durch die Betonung seines rechten Arms samt ausgestrecktem Finger trinitarisch, also als dreieinen Gott auftreten lässt. Das ist biblisch begründbar, denn der Plural, in dem Gott in 1. Mose 1,26 spricht, lässt sich als Hinweis auf die Trinität deuten: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ (LUT). Und was der dreieine Schöpfer seinem ersten Geschöpf verleiht, ist nicht einfach nur das für jedes Wesen notwendige Lebensprinzip, wie es auch Pflanzen und Tiere besitzen – Adam wird vielmehr „beseelt“, denn genau darin besteht, wie z. B. Augustinus und viele Theologen neben und nach ihm lehrten, die Gottebenbildlichkeit des Menschen.
Laokoon-Gruppe; Rom, Vatikanische Museen
In dem stürmisch heranfliegenden Schöpfergott hat Michelangelo eine der meistbewunderten antiken Skulpturen als Vorbild verarbeitet, nämlich die Figur des Vaters aus der kurz zuvor (1506) aufgefundenen Laokoon-Gruppe (siehe meinen Post Das ultimative antike Meisterwerk“). Denn bei einer Drehung des Laokoon um 90 Grad nach links ist die Übereinstimmung mit dem Schöpfergott sowohl in der Haltung wie den anatomischen Details unverkennbar – abgesehen natürlich von dem allerdings entscheidenden rechten Arm Gottvaters. Er verleiht dem Schöpfergott seine besondere Dynamik, durch die er sich von dem leidenden Laokoon unterscheidet.
In allen Genesis-Szenen mit Ausnahme der Scheidung von Licht und Finsternis wird Gottvater von himmlischen Wesen begleitet. Bei all diesen Putten oder Engeln handelt es sich um Knaben – wiederum mit einer Ausnahme: Das größere himmlische Wesen, um deren Schultern Gottvater seinen linken Arm gelegt hat, ist ohne Frage weiblich. Zu sehen sind ihr Kopf und der Oberkörper mit den Brüsten, außerdem ein gebeugtes Knie. Maria Rzepińska sieht in dieser Gestalt eine Personifizierung der „Göttlichen Weisheit“, die im alttestamentlichen Buch der Sprüche von sich selbst sagt (8,22-31; LUT): 
 
Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren,  als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über den Fluten der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.
Immer dabei: die Weisheit Gottes
Die Weisheit begleitet Gott vom Anbeginn der Schöpfung: „She alone is so close to the Lord’s side, and her alert, intelligent face looks attentively at the first of the ,sons of men‘, created by God“ (Rzepińska 1994, S. 185).
Lorenzo Ghiberti: Adam und Eva (1425-1452), Florenz, Baptisterium
Als Anregung für die Erschaffung Adams könnte Michelangelo ein Relief von der Paradiestür des Florentiner Baptisteriums gedient haben (1425 bis 1452 entstanden): Die vergoldete Bronzetür zeigt in einem der oberen Bildfelder Adam in ähnlich liegender Position und mit ebenfalls ausgestrecktem linkem Arm.

Literaturhinweise
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;
Rzepińska, Maria: The Divine Wisdom of Michelangelo in The Creation of Adam. In: artibus & historiae 29 (1994), S. 181-187;
Schüßler, Gosbert: Michelangelos „Erschaffung des Adam“ in der Sixtinischen Kapelle. In: Karl Möseneder/Gosbert Schüßler (Hrg.), Bedeutung in den Bildern. 
Festschrift zum 60. Geburtstag von Jörg Traeger. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2002, S. 309-328;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 30. Juni 2020)