Mittwoch, 17. Mai 2017

Beglückende Stille – „Der Zeichner“ von Jean-Baptiste-Siméon Chardin


Jean-Baptiste-Siméon Chardin: Der Zeichner (1737); Berlin, Gemäldegalerie
Der Zeichner gehört zu den vier Gemälden von Jean-Baptiste-Siméon Chardin (1699–1779), die Friedrich der Große (1712–1786), ein begeisterter Verehrer französischer Kunst und Kultur, für seine umfangreichen Sammlungen erwerben ließ. Heute ist es in der Berliner Gemäldegalerie ausgestellt. Es existiert noch eine zweite, bis auf kleine Details identische Ausführung im Pariser Louvre, die ebenfalls Chardins Signatur und das Datum 1737 aufweist. Sie gilt als die erste Fassung der Komposition, da sie Spuren von Korrekturen aufweist, die der Künstler beim Malen ausführte.
Ein zarter, fast mädchenhaft anmutender Junge von etwa 15 Jahren lehnt an einem Tisch und beugt sich über eine Zeichnung. Chardin zeigt ihn von der Seite und bis zur Hüfte, nach links gewendet und in der vorderen Bildebene. Die Zeichnung selbst liegt vor ihm auf einer ledernen Mappe, die die Tischplatte weitestgehend bedeckt. Dabei stützt sich der Junge mit dem linken Arm auf das blaugetönte Blatt und den Portfolio. In der linken Hand hält er einen porte-crayon, einen Doppelstifthalter aus Messing, an dessen zangenartigen Enden mit Hilfe von Schieberingen ein weißer und ein schwarzer Kreidestängel eingeklemmt sind. Mit dem Messer in seiner Rechten spitzt er das schwarze Kreidestück am unteren Ende. Der Junge hält dabei einen Moment inne und betrachtet aufmerksam seine weißgehöhte Zeichnung mit dem Kopf eines alten Mannes oder Sartyrs, an dem er wohl gerade arbeitet. Ein zartes Lächeln umspielt seinen Mund – offensichtlich gefällt ihm, was bislang entstanden ist. Möglicherweise handelt es sich um die Kopie eines älteren Kunstwerks, denn damit begann die Ausbildung angehender Künstler, ehe das Studium nach der Natur und schließlich das eigene Komponieren folgte.
Der Junge trägt über dem hochgeschlossenen Hemd einen enganliegenden weißen Rock, vor den er eine grüne Schürze gebunden hat. Seinen Kopf bedeckt ein ausladender Dreispitz, unter dem an den Schläfen dunkle Locken hervorquellen, während das lange gewellte Haar mit einer Schleife zusammengebunden ist und über den Rücken fällt. Der Raum, in dem sich der junge Zeichner befindet, wird von Chardin nicht näher bestimmt. Nur bei genauerer Betrachtung fallen einige zurückhaltend ins Bild gesetzte Details ins Auge: etwa das rote Verschlussband der Zeichenmappe, dessen langes Ende die Mittelsenkrechte der Komposition markiert; die Spange, das Kügelchen und die Nadel an der Krempe des Huts; die Fugen an der Tischplatte und die Ränder der Zeichenblätter, die aus dem Portfolio herausragen.
Jean-Baptiste-Siméon Chardin: Das Kartenhaus (1737); London, National Gallery
Jean-Baptiste-Siméon Chardin: Die Teetrinkerin (1735/36); Glasgow, Hunterian Art Gallery/Glasgow University
Es sind vor allem die gelassene Ruhe und Entrücktheit des Jungen wie des Bildes insgesamt, die bis heute faszinieren. Der freundlich-offene Blick des Jungen bleibt in sich gekehrt, seine Körperhaltung wirkt bewegungslos, sodass das Gemälde beinahe einem figürlichen Stillleben gleicht. Chardin hat noch eine ganze Reihe ähnlicher Kompositionen angefertigt, die eine vergleichbare beglückende Stille ausstrahlen, so z. B. Das Kartenhaus oder Die Teetrinkerin.

Literaturhinweis
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.): Jean Siméon Chardin 1699–1779. Werk – Herkunft – Wirkung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 1999, S. 120-124.

(zuletzt bearbeitet am 14. Juli 2020) 

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