Freitag, 7. Dezember 2018

In die Zange genommen – Rembrandts „Gleichnis vom reichen Kornbauer“

Rembrandt: Gleichnis vom reichen Kornbauer (1627); Berlin Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
In einem überwiegend halbdunklen Raum, in dem vorne links ein Stuhl, an der linken Wand ein Ofen und im Hintergrund ein offener Schrank mit gefüllten Geldbeuteln zu erkennen sind, sitzt zu später Stunde ein alter Mann mit einem Kneifer auf der Nase an einem Tisch. Die einzige Lichtquelle im Zimmer ist eine brennende Kerze; nur die Gegenstände in ihrer unmittelbaren Umgebung werden von ihr erhellt. Der Alte, der den Leuchter in seiner Linken hält, betrachtet im Schein der Flamme aufmerksam eine Münze. Er hält sie zwischen den Fingern seiner rechten Hand, hinter der die Kerzenflamme verborgen ist. Der Mann ist von halbkreisförmig aufgetürmten, unordentlichen Stapeln alter Bücher umgeben, zwischen denen sich etliche lose Blätter, mit Siegeln versehene Dokumente und andere Papiere befinden. Rechts neben ihm ist ein auffalllend großer Geldbeutel mit Handgriff platziert. Auf einem der Bücher sowie einigen weiteren Papieren erkennt man pseudo-hebräische Buchstaben. Vor dem Mann liegen auf einer Tischplatte eine Goldwaage, ein Kästchen mit Gewichten und weitere Goldmünzen. Links vorn befindet sich ein großes offenes Rechnungsbuch, in dem Streichungen vorgenommen wurden. Das Kostüm des Alten ist altertümlich – die Form des Baretts und des Mühlsteinkragens waren zu Zeiten Rembrandts bereits aus der Mode.
Was auf den ersten Blick wie die Darstellung eines alten Wucherers aussieht, der sich einzig und allein für sein Geld und seine Buchhaltung interessiert, dürfte sich aber sehr wahrscheinlich eher auf eines der Gleichnisse Jesu aus dem Lukas-Evangelium beziehen. Es handelt sich um das Gleichnis vom reichen Kornbauer, das hier mit seinen sechs Versen zitiert sei: „Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Land hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Und wem wird dann gehören, was du bereitet hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott“ (Lukas 12,16-21; LUT). Die nächtliche Szenerie, die Rembrandt für sein Gemälde wählt, entspricht dabei ganz der biblischen Vorlage; ebenso sind die pseudo-hebräischen Schriftzeichen als Hinweis darauf zu sehen, dass Rembrandt hier ein biblisches Ereignis wiedergibt. Vor allem aber umschließt der Aufbau aus Büchern und Papieren den reichen Toren derart bedrohlich, geradezu wie eine Zange oder ein gefräßiges Maul, dass dessen bevorstehender Untergang unmissverständlich ins Bild gesetzt ist. Auf dem Ofen am linken Bildrand steht eine Uhr – sie könnte die ablaufende Zeit des alten Mannes symbolisieren.
Gerrit van Honthorst: Alte Frau mit Münze (um 1620/21); Amsterdam, The Kremer Collection
Im Gleichnis vom reichen Kornbauer wendet Rembrandt erstmals die besonderen Helldunkel-Effekte an, die später ein viel gerühmter, fester Bestandteil seines Stils werden sollten. Das virtuose Spiel von Licht und Schatten, das er hier vorführt, ist eng mit den nächtlichen Kerzenlicht-Szenen der Utrechter Caravaggisten verwandt (siehe meinen Post „Gehaltene Augen“). Ein Gemälde von Gerrit van Honthorst (1592–1656) aus dem Jahr 1624, auf dem eine alte Frau mit Brille in genau der gleichen Weise eine Münze in das Kerzenlicht hält wie Rembrandts alter Mann, kann wohl als direkte Inspirationsquelle für den jungen Leidener Künstler angesehen werden.
Rembrandt: Darbringung im Tempel (1627/28); Hamburg, Kunsthalle
Die Farbgebung auf Rembrandts kleinformatiger Darstellung (31,9 x 42,5 cm) ist überwiegend auf Braun- und Grautöne beschränkt. Die Begrenzung der Farbskala auf wenige benachbarte Farbtöne zeigt sich auch in Rembrandts wenig später entstandenem Bild Darbringung im Tempel von 1627/28 (siehe meinen Post „,Meine Augen haben deinen Heiland gesehen‘“). Die Farbe selbst ist in unserem Berliner Gemälde auf der gesamten Bildfläche sehr gleichmäßig aufgetragen – nur um die Lichtquelle herum wurde ein Impasto verwendet. Vereinzelt nutzte Rembrandt auch den Pinselstiel, um die noch feuchte Farbe wieder abzukratzen und so etwa die Schnittkanten der Blätter des großen aufgeschlagenen Buches links im Vordergrund darzustellen. Besonders gelungen sind dem Malers die im Hintergrund, im Halbdunkel liegenden Partien: „Das ist es, was Caravaggio und seinen Nachfolgern weniger glückte: Fehlt das Licht, herrscht bei ihnen Dunkelheit. Rembrandt ist der erste Maler in der Geschichte der Kunst, der einen verdunkelten Raum glaubwürdig und mit Erhalt der Tiefenwirkung darzustellen wusste“ (van den Boogert 2001, S. 213). 
Jan Lievens: Der Federschneider (1627); Köln, Wallraf-Richartz-Museum
Wohl im gleichen Jahr entstanden und motivisch eng angelehnt an Rembrandts Gleichnis vom reichen Kornbauer ist das Kölner Gemälde Der Federschneider von Jan Lievens (1607–1674). Es zeigt einen älteren Mann, einen Kaufmann oder Bankier, der im Kontor hinter einem ungeordneten Haufen voluminöser Geschäftsbücher sitzt und in die Betrachtung seiner Schreibfeder in der linken Hand versunken ist, die er mit dem Messer in seiner Rechten zuspitzen will. Eine ausladende Geldbörse, bestehend aus mehreren an einem Stockgriff befestigten Schnürbeuteln, hält sein Barvermögen zusammen, darüber hängt an einer Schnur ein Stapel loser Papiere, Wechsel, Quittungen und andere Belege. Die geschärfte Feder als Instrument der Buchhaltung wird hier zum Sinnbild eines ungehemmten Gewinnstrebens, das den Mann in Bann hält. Die Sanduhr in der Dämmerung des Hintergrunds warnt davor: Sie erinnert an die verrinnende Zeit, die Endlichkeit des irdischen Lebens und stellt den Sinn der Raffgier des mürrisch-einsamen Kaufmanns in Frage.
Lievens und Rembrandt haben sich gut gekannt und in ihrer gemeinsamen Leidener Zeit wohl gegenseitig inspiriert, aber auch als Konkurrenten wahrgenommen. (Rembrandt siedelte 1631 nach Amsterdam über.) Ihre beiden Gemälde zeigen nicht nur thematisch eine große Nähe, sondern auch durch die Lichtgestaltung, die ähnlich gealterten  Bücher, die nahezu identischen Stapel zerknitterter Papiere und vor allem die übereinstimmende Geldbörse – offensichtlich ein gemeinsam benutztes Requisit. Andererseits wählte Lievens für seine Darstellung mit einer lebensgroßen Figur eine großzügig bemessene Leinwand von 127 x 107,5 cm; Rembrandt dagegen begnügte sich mit einer Malfläche, die nur ein Zahntel derjenigen von Lievens Gemälde beträgt.

Impasto ist eine Maltechnik, bei der die Farben sehr dick aufgetragen werden; man kann die Pinselstriche oder die Abdrücke des Malmessers deutlich erkennen.

Literaturhinweise
Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 242;
Schnackenburg, Bernhard: Neu im Wallraf: Der Federschneider von Jan Lievens. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 74 (2013), S. 293-298;
Neumeister, Mirjam: Das Nachtstück mit Kunstlicht in der niederländischen Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2003, S. 232-234; 
Tümpel, Christian: Rembrandt. Mythos und Methode. Karl Robert Langewiesche, Königstein i.Ts. 1986, S. 31;
van den Boogert, Bob: Rembrandt Harmensz. van Rijn – Ein alter Wucherer betrachtet eine Münze, 1627. In: Ernst van de Wetering/Bernhard Schnackenburg (Hrsg.), Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001, S. 210-213;
van Thiel, Pieter: Der Reiche aus dem Gleichnis vom reichen Toren. In: Christopher Brown u.a. (Hrsg.), Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 128;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 24. Juli 2023) 

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