Samstag, 30. Januar 2021

Endkampf der Engel – „Der hl. Michael“ von Luca Giordano (1663)

Luca Giordano: Der hl. Michael (1663); Berlin, Gemäldegalerie
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Das Himmelswesen Michael wird sowohl im Alten wie im Neuen Testament erwähnt – und als einziges ausdrücklich „Erzengel“ genannt (Judas 9). In der Johannes-Offenbarung tritt Michael im eschatologischen Endkampf als Bezwinger des Teufels auf, den er auf die Erde hinabstürzt: „Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel, und er siegte nicht, und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel. Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt. Er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen“ (Offenbarung 12,7-9; LUT). Michael erhielt deswegen in der Patristik eine herausragende Rolle beim Weltgericht: Als Herold Gottes ruft er die Toten mit der Posaune aus den Gräbern, als Seelenwäger entscheidet er über Seligkeit und Verdammnis, und außerdem wacht er über das Paradies.

In der christlichen Kunst wird Michael als junger, bartloser Mann mit androgynen Zügen, schulterlangem blondem Haar und großen weißen Schwingen dargestellt. Seit dem 16. Jahrhundert bildet sich ein männlich-kraftvoller Typus heraus, doch bleibt der androgyne Zug für ihn charakteristisch: Die Perfektion von Mann und Frau vereinend, verkörpert er die Schönheit der göttlichen Schöpfung. Ein eindrückliches Beispiel für die barocke Gestaltung des Erzengels ist Der hl. Michael von Luca Giordano (1634–1705) in der Berliner Gemäldegalerie, den ich hier näher vorstellen will.

Guido Reni: Der Erzengel Michael besiegt Satan (1635);
Rom, Santa Maria della Concezione
Für Giordanos Gemälde von 1663 gibt es zwei direkte Vorbilder: Unmittelbare Anregung dürfte Der Erzengel Michael besiegt Satan von Guido Reni (1575–1642) gewesen sein, das 1635 entstanden ist und sich noch heute an seinem ursprünglichen Aufstellungsort in der römischen Kirche Santa Maria della Concezione befindet. Darauf verweisen neben der Gesamtkomposition der jugendliche Engelstypus mit wehenden blonden Locken, die Kleidung und ebenso die Farbzusammenstellung: der im Licht links hellrosa, im Schatten rechts weinrot-violett gebauschte Mantel, das Blau des antikischen Panzers und die goldblonden Töne im Haar. Hinzu kommen die vergleichbare diagonale Anlage des Engels mit den ausgebreiteten, von den Bildgrenzen beschnittenen Flügeln und der Kopfwendung nach rechts zum Teufel hin. Die Anleihen zeigen sich außerdem in der Modellierung der Arme und Hände Michaels sowie in der Tönung des Inkarnats.

Giordano weicht jedoch trotz dieser Verwandtschaften in einigen Elementen deutlich von Reni ab: Sein Michael führt eine Lanze statt des Schwerts, und zwar in einer Haltung, bei der sein linker Arm den Körper überschneidet. Außerdem präsentiert er ihn nicht stehend, sondern heranfliegend, sozusagen gerade auf einem Fuß „landend“. Diese Züge gehen zurück auf das zweite Vorbild, das sowohl für Reni wie auch für Giordano gleichermaßen als der maßgebliche Ausgangspunkt gelten muss: Raffaels Hl. Michael von 1518. Dessen Bildfassung hat den Typus des antikisch gerüsteten Kriegerengels für den Hl. Michael gültig gemacht und ihn zudem erstmals mit jenen kurzen blonden Locken dargestellt, die ihm eine besondere, fast mädchenhafte Schönheit verleihen. Dabei ist die seltsame Schleife im Haar wohl am ehesten so zu erklären, dass von Raffael ein Frisurdetail des antiken Apolls vom Belvedere – die emporstehende Hauptlocke – in eine Siegerbinde verwandelt wird. Die Verbindung zwischen dem Erzengel und dem Apoll vom Belvedere besteht aber nicht nur darin, dass die Skulptur in der Renaissance als Vollendung des antiken Schönheitsideals galt – sie besteht auch durchaus inhaltlich, da der Sonnengott den Drachen Python bezwang.

Raffael: Hl. Michael (1518); Paris, Louvre

Bei Raffael wie bei Giordano sind die Arme des Erzengels nach links ausgestreckt und umfassen beidhändig die Lanze. Auf beiden Bildern tritt Michael mit dem rechten Fuß auf den Körper des sich windenden Luzifer, während das andere Bein graziös schräg nach hinten abgespreizt ist. Renis Engel steht dagegen mit dem rechten Standbein auf einem Felsen und mit dem Fuß des linken Spielbeins auf dem Haupt Luzifers. Raffael zeigt den Erzengel, kurz bevor er zusticht; bei Reni holt er mit dem Schwert in der Rechten zum Stoß aus, während er in der Linken eine große Kette hält, mit der er den Satan angebunden hat. Dieses Motiv ist dem 20. Kapitel der Johannes-Offenbarung entnommen: „Und ich sah einen Engel vom Himmel herabfahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand. Und er ergriff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und der Satan, und fesselte ihn für tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund“ (Offenbarung 20,1-3; LUT). Bei Giordano fehlt die Kette – er hat sich, was die Wahl der Waffe und das Bewegungsmotiv betrifft, an Raffael orientiert. Doch in der Gesamterscheinung steht sein Bild Reni sehr viel näher. Das mag auch damit zusammenhängen, dass er Renis Gemälde bei mehrfachen Romaufenthalten selbst vor Augen hatte, während er Raffaels Komposition nur aus Stichen kennen konnte.

Halb schwebend steht Giordanos Michael auf nichts anderem als auf der Brust seines Widersachers, dem er in diesem Moment den Lanzenstich versetzt. Sein Bild ist erfüllt von einem „mitreißenden barocken Überschwang“ (Schleier 1971, S. 512), gegen den die Komposition Renis statisch, fast steif wirkt. Das entschlossene Auftreten auf den Leib Satans bei Raffael gewinnt bei Giordano etwas regelrecht Tänzerisches. Der stürmische, triumphale Schwung des Engels wird verstärkt durch seine lichte Farbigkeit – sie verleiht Giordanos Bild „den Eindruck des Festlichen“ (Schleier 1971, S. 512).

Laokoon-Gruppe, Rom, Vatikanische Museen
Barberinischer Faun (um 220 v.Chr.); München, Glyptothek
Verblüffend ist, wie unterschiedlich Giordanos Gemälde in der Nah- und in der Fernsicht wirkt: Je näher man vor das Bild tritt (oder einst gar vor dem erhöhten Altarbild kniete), desto beherrschender gerät die untere Partie mit den Teufeln ins Gesichtsfeld. Nur aus der Ferne kann der Engel dominieren. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zu Reni und Raffael dieser mittlere schreiende Teufel in Gebärde und Körperhaltung ein großes Pathos zeigt. Zusammen mit dem schlangenumwundenen Arm kommen hier Bildformeln zum Einsatz, die an die berühmte Laokoon-Gruppe im Vatikanischen Belvedere denken lassen. Dies gilt vor allem für das besonders hervorgehobene Thorax-Motiv. Der Laokoon ist von der Kunsttheorie der Gegenreformation wegen seines Leidensausdrucks für die Maler von Märtyrerszenen als „Exemplum dolorosis“ empfohlen worden, was dann auch oft so – bis hin zum leidenden Christus – umgesetzt wurde. Dass Giordano für seinen Satan auf dieses Vorbild zurückgreift, mag damit zusammenhängen, dass Luzifer  ursprünglich einer der oberen Engel war, der erste der Cherubim – der schönste und mächtigste von allen, der aber wegen seines Ungehorsams gegen Gott gestürzt wurde. Der angewinkelte linke Arm des Teufels könnte aber auch, so Andreas Haus, vom Barberinischen Faun übernommen sein und die Figur damit in die antike Kategorie der Tiermenschen, wie etwa den Marsyas, einordnen.

Besiegter Satan in Laokoon-Pose
Bei Raffael ist der Teufel ein gehörnter Dämon, der sich bäuchlings und schlangenhaft am Boden windet, sodass man sein Gesicht kaum sehen kann. Reni präsentiert den Satan zwar deutlicher, aber umso drastischer auch seine Bauchlage: Damit verstärkt er den Eindruck, dass die Figur nach unten aus dem Bild gedrückt wird. In Raffael Gemälde dreht sich der Blick Satans gequält nach oben und erkennt seinen frontal und lebensgroß gezeigten Bezwinger, während er bei Reni ausschließlich nach unten in die Tiefe geht. Sein Teufel ist der rohe Gegensatz zur der sich darüber erhebenden, mühelos-eleganten Siegergestalt Michaels. Giordano wiederum zeigt den „Engelsturz“, ein Thema, das vor ihm insbesondere Peter Paul Rubens (1577–1640) behandelt hat (1621/22; Alte Pinakothek, München). Der italienische Künstler versieht seine Szene jedoch mit einer geringeren Figurenzahl und zoomt sozusagen an das dramatische Geschehen heran: Er hat seinem Satan zwei weitere, nur fragmentarisch abgebildete Teufel an die Seite gestellt und sie zu einem zusammenhängenden Getümmel arrangiert. Was man von der einen Figur nicht sieht, zeigt die andere: Der hochgereckte, schlangenumwundene Arm des linken Teufels ergänzt z. B. die Hand in der rechten unteren Ecke des Bildes zu einer ausgebreiteten Gesamtgebärde, „die ein höllisches Echo zu den Flügeln des Engels bildet“ (Haus 1999, S. 81).

Die Gestalt Luzifers ist die auffallendste Neuerung Giordanos gegenüber seinen beiden Vorbildern Raffael und Reni. In der unteren Zone, wo der Satan und Michael zusammentreffen, ereignet sich das eigentliche Drama des Bildes – dort dringt die Lanzenspitze in den Leib Luzifers, das Blut rinnt; daneben setzt Michael beinahe zart seinen Fuß auf, während der Teufel mit schmerzverzerrt geöffnetem Mund zu brüllen beginnt, was sich wiederholt in dem zum Geheul aufgerissenen Rachen des Höllenhundes. Dabei bildet der pathetisch sich windende Leib Luzifers das ziemlich genaue Spiegelbild zum Körper des Erzengels: „Dessen Thorax zeigt – wenn auch im Gegensinn – die gleiche Haltung, eine ähnliche Masse, sehr vergleichbare Proportionen und ähnlich betonte Elemente wie der Teufelsleib: Thoraxfurche und Brustwarze“ (Haus 1999, S. 83). Bei solcher anatomisch-formalen Spiegelbildlichkeit fallen allerdings die Unterschiede umso deutlicher ins Gewicht.

Jusepe de Ribera: Studie von Nasen und Mündern (1622); Radierung

Den größten Kontrast bilden die Physiognomien: schreiende Fratze und liebevoll geneigtes Engelshaupt. Grundsätzlich wird die unterschiedliche Wesensart von Engel und Teufel durch die Farbwahl verdeutlicht. Gegenüber Raffael und Reni zeigt Giordano nur noch eine in weichen dünnen Stoff und Fransen übertragene Version des römischen Soldatenpanzers, die die Muskeln modelliert. Das Himmelsblau des Engelskörpers hebt sich erhaben gegen das nackte, krude Schwarzrot des Teufelstorsos ab. Allerdings weicht die Körperbildung von Giordanos Michael von der apollinischen Schlankheit bei Reni ab – sie ist gedrungener und damit dem Teufel ähnlicher. „Giordano zeigt nicht so sehr einen absoluten Gestaltkontrast zwischen der Engels- und Teufelsfigur, sondern tendiert zu einer komplementären Gegenbildlichkeit im Körper von Engel und Teufel“ (Haus 1999, S. 84). Die Teufelsphysiognomie hat Giordano übrigens von seinem früheren Lehrer Jusepe de Ribera (1591–1652) übernommen. 

Brüder Limburg: Der hl. Michael legt den Teufel in Ketten
(um 1405/09; Les Belles Heures, 158r);
New York, Metropolitan Museum

In der mittelalterlichen Kunst wurde der Teufel zunächst als abstoßend ausssehendes, tier- bzw. bestienartiges Wesen dargestellt. In „menschlicher“ Gestalt taucht Satan zum ersten Mal in dem farbig illuminierten Stundenbuch Les Belles Heures auf, dass die Brüder Limburg zwischen 1405 und 1409 für den Herzog von Berry anfertigten. Satan hat wohl auch hier Krallen, kleine Fledermausflügel und einen kurzen Schwanz, aber sein Antlitz und Körper sind die eines Menschen – weil er ein Luzifer nach dem Engelsturz ist, also der rebellische Engel, der mit seinem Gefolge aus dem Himmel verstoßen wird (Lukas 10,18). Bald schon übernahmen die Künstler diesen neuen „Prototyp“, so auch Raffael in seinem Gemälde von 1518: „Technisch hat Raffaels Satan mit dem der Limburgs überhaupt nichts zu tun, wohl aber in seiner Konzeption, denn sein Satan hat Menschengestalt und steht piktural auf derselben existentiellen Ebene wie der Erzengel“ (Link 1997, S. 199).

Hubert Gerhard: Der hl. Michael besiegt Satan (1588);
München, St. Michael

Nach Raffael erscheint das Thema des hl. Michael im Kampf gegen einen menschenförmigen Satan bzw. Luzifer mit geringfügigen Veränderungen in zahllosen Darstellungen. Selbst Hubert Gerhards Münchner Bronzestatue von 1588 ist ohne Raffaels Gemälde kaum denkbar.


Literaturhinweise

Haus, Andreas: Luca Giordanos Hl. Michael in der Berliner Gemäldegalerie. Laokoonrezeption und die künstlerische Konstruktion der Moral. In: Jahrbuch der Berliner Museen 41 (1999), S. 77-88;

Mai, Ekkehard/Repp-Eckert, Anke (Hrsg.): Triumph und Tod des Helden. Europäische Historienmalerei von Rubens bis Manet. Electa Spa, Milano 1987, S. 171-172;

Link, Luther: Der Teufel. Eine Maske ohne Gesicht. Wilhelm Fink Verlag, München 1997;

Schleier, Erich: Der Heilige Michael: ein unbekanntes Hauptwerk Luca Giordanos. Zu einer Neuerwerbung des Kaiser-Friedrich-Museums-Vereins für die Berliner Gemäldegalerie. In: Pantheon 29 (1971), S. 510-518.

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 6. Juni 2024) 


Dienstag, 12. Januar 2021

Die Macht des Körpers – Hans Baldung Griens „Judith“ (1525)

Hans Baldung Grien: Judith (1525);
Nürnberg, Germanisches Nationalmusuem
Mit der Geschichte der Judith, die in einem apokryphen Buch des Alten Testaments erzählt wird, habe ich mich schon mehrfach beschäftigt (siehe meine Posts „Ein äußerst kopfloser Heerführer“ und „Barock-Splatter“). Das hochformatige Gemälde von Hans Baldung Grien (1480–1545) verkürzt – wie bei vielen anderen Künstlern auch – ihre Errettungstat auf die Darstellung der siegreichen Heldin mit dem abgeschlagenen Haupt des Holofernes. Seine überlebensgroße Judith ist gänzlich nackt und steht vor einem tiefschwarzen Hintergrund; sie hat ihren Körper leicht nach rechts gedreht, der Kopf jedoch ist frontal zum Betrachter gewandt. Judith schlägt die Augen nieder, ihr Blick richtet sich aber aus den Winkeln auf den abgetrennten Kopf, den sie als Trophäe mit ihrer linken Hand an den Locken gepackt hat. Dabei spiegeln ihre Gesichtszüge kalt lächelnden Triumph. Judith trägt ein perlenbesetztes Stirnband, dem in der Mitte ein blauer Stein in goldener Fassung eingefügt ist; ihr gescheiteltes und gelocktes messingblondes Haar weht ihr um die Schultern und reicht bis zum Rücken herab. Baldung hat es überall mit Glanzlichtern versehen, ebenso das feingelockte Schamhaar.

In der mehrfach beringten Rechten hält Judith den sogenannten Malchus, ein Kurzschwert mit gekrümmter Klinge, die an der Spitze doppelt konkav angeschnitten ist. Die Bezeichnung „Malchus“ leitet sich vom Knecht des Hohepriester her, der Christus am Ölberg gefangennehmen ließ und dem Petrus mit eben dieser Waffe ein Ohr abschlug (Johannes 18,10-11). Der kalte, blutbefleckte Stahl „steht in scharfem Kontrast zum warmen Inkarnat des unverhüllten weiblichen Körpers“ (Hess 2004, S. 146). Der Kopf des Holofernes zeigt einen milden, leidenden, aber keinen schmerzverzerrten Ausdruck. Er ist nicht leichenblass, sondern rotbraun; Blut rinnt noch aus dem Hals. Der frauliche Körper Judiths – sie war ja bereits Witwe (Judith 8,1) – verfügt über „eine besonders fleischliche, vitale Präsenz“ (Bonnet/Kopp-Schmidt, S. 306) und wird über der rechten Hüfte so gut wie gar nicht durch einen transparenten Stoffstreifen bedeckt. Das Tuch folgt der Drehung des Körpers und schlängelt sich hinter ihm neben dem abgeschlagenen Haupt herab zum linken Fuß Judiths.

Hans Baldung Grien: Zwei Hexen (1523); Frankfurt,
Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Auffallend ist die Beinstellung Judiths: Der linke, überlängte Oberschenkel ist über das rechte Standbein geschlagen, der linke, nur mit den Zehen aufgesetzte Fuß hinter die Ferse des rechten Fußes gestellt – ein instabiler Stand, der die Schamregion zwar ein wenig verschattet, aber nicht wirklich verbirgt. Verfolgt man die Linie vom linken Fuß bis zur messerhaltenden Hand, „scheint sich die Figur wie eine Schlange um sich selbst zu winden und mit dieser Anspielung auf die List und Verführungskunst Judiths hinzuweisen“ (Hess 2004, S. 147). Der labile Stand, insbesondere aber die übereinandergeschlagenen Beine verweisen möglicherweise bei weiblichen Aktfiguren im 16. Jahrhundert auf sexuelle Aktivität, wie verschiedene Darstellungen von „Buhlerinnen“, Hexen oder Eva nach dem Sündenfall belegen (z. B. in Albrecht Dürers Kleiner Passion oder Baldungs Zwei Hexen).
Albrecht Dürer: Sündenfall (1511; Kleine Passion);
Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
Donatello (1386–1466) stellte Judith in seiner Bronzestatue vor dem Palazzo Vecchio (1453-1457) als Tyrannenmörderin dar, ein Symbol für die Selbstbehauptung der Stadt Florenz, und verlagerte das Geschehen damit aus seinem religiösen in einen zeitgeschichtlich-politischen Kontext. Die Judith von Baldung wird ohne diese theologischen oder politischen Zusammenhänge wiedergegeben. Sie ist keine Tugendheldin – sondern repräsentiert vielmehr wie Eva und Venus, Bathseba, Delila, Phyllis und Salome die weibliche Spezies der Verführerinnen, denen es gelingt, mit Hilfe ihrer körperlichen Reize den Mann um den Verstand oder gar um sein Leben zu bringen. Judith ist damit ein Beispiel für die im Mittelalter und der Frühen Neuzeit oft dargestellte „Weiberlist“. Thema dieser Abbildungen sind Macht und Gefahr weiblicher Sinnlichkeit in ihren unterschiedlichen Formen. Denn Judiths Erscheinung drängt doch die Vorstellung auf, dass sie sich, um ihr Ziel zu erreichen, Holofernes sexuell hingegeben hat. Baldung inszeniert ihre offen zur Schau gestellte Erotik als bedrohlich, indem er sie mit dem blutbeschmierten Mordinstrument kombiniert. Judiths verdrehter, unsicherer Stand betont darüber hinaus die Unberechenbarkeit der Frau.

Hans Baldung Grien: Eva (1525); Budapest,
Szepmüveszeti Muzeum
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Hans Baldung Grien: Venus und Amor;
(1525); Otterlo, Kröller-Müller-Museum
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Baldung Griens Judith war Teil eines Zyklus von vier Gemälden, die als Raumausstattung für ein Straßburger Privathaus angefertigt wurden. Die drei anderen Bilder befinden sich in Otterlo (Venus und Amor) und in Budapest (Adam und Eva). Die Darstellung des weiblichen Aktes vor dunklem Grund konnte Baldung bei Dürers Gemälden des ersten Menschenpaares von 1507 (Madrid, Prado) und bei Lucas Cranachs Eva- und Venusbildern finden (siehe meinen Post „,Nicht Adam wurde verführt...‘“). Was er seinen drei Frauengestalten jedoch eigenständig hinzufügt, ist die volle Plastizität ihrer Körper und dessen starke erotische Ausstrahlung, der runde Bauch, die mächtigen Oberschenkel und der kleine Kopf. Wie bei vielen Frauendarstellungen Baldungs mischen sich die künstlerischen Intentionen: Ihre Nacktheit dienen dem Voyeurismus des männlichen Betrachters, der die sinnlichen Reize dieser Akte goutieren soll; gleichzeitig wird er gemahnt, seine Triebe zu zügeln, um nicht der vorgeblich zerstörerischen Macht weiblicher Sexualität zu erliegen.

 

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010; S. 306;

Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Hrsg.): Die Gemälde des 16. Jahrhunderts. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1997, S. 53-55;

Hess, Daniel: Hans Baldung Grien, Judith mit dem Haupt des Holofernes. In: Germanisches Nationalmuseum (Hrsg.), Faszination Meisterwerk. Dürer – Rembrandt – Riemenschneider. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2004, S. 146-148;

von der Osten, Gert: Hans Baldung Grien. Gemälde und Dokumente. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1983, S. 169-171.