Sonntag, 21. März 2021

Die Chemie einer Ehe – Jacques-Louis David porträtiert Antoine-Laurent und Marie-Anne Lavoisier

Jacques-Louis David: Antoine-Laurent und Marie-Anne Lavoisier (1788);
New York, Metropolitan Museum of Art (für die Großansicht einfach anklicken)

Wenn sich Naturwissenschaftler und Ärzte im 18. bei ihrer Tätigkeit bzw. ihren Experimenten porträtieren ließen, dann trugen sie keine weißen Laborkittel, sondern mit Knopfrabatten doppelreihig besetzte Stutzfräcke, weiße Hemden mit gekräuselten Jabots, Kniehosen, Seidenstrümpfe, Schnallenschuhe und eine gepuderte Perücke. Als Paradebeispiel sei hier das Doppelporträt von Antoine-Laurent Lavoisier und seiner Frau Marie-Anne vorgestellt, ausgeführt 1788 von dem französischen Maler Jacques-Louis David (1748–1825).

Lavoisier gilt als einer der Begründer der modernen Chemie: 1743 geboren und zunächst als Jurist ausgebildet, widmete er sich schon früh den Naturwissenschaften und wurde nach ersten Erfolgen 1768, im Alter von nur 24 Jahren, in die Académie royale des sciences aufgenommen. Gemeinsam mit Claude-Louis Berthollet (1748–1822), Antoine-François Comte de Fourcroy (1755–1809) und Louis-Bernard Guyton de Morveau (1737–1816) erarbeitete er eine neuen Nomenklatur der Chemie und schuf damit die Grundlage für einen Verständigungskanon, aufgrund dessen die neue Disziplin überhaupt erst wissenschaftlich effizient werden konnte. Durch empirische Forschungen, die insbesondere auf einer bis dahin unbekannten Präzision von meist selbstentworfenen Messinstrumenten und minutiös protokollierten Messverfahren beruhten, entdeckte er u. a. die chemische Zusammensetzung von Luft und Wasser, die zu dieser Zeit noch immer als Elemente galten. Er isolierte deren Bestandteile Sauerstoff und Wasserstoff, entwickelte seine Theorien zu Respiration und Oxidation und formulierte das auch heute noch gültige Gesetz der Massenerhaltung.

Auf seiner Entdeckung baute Lavoisier seine Theorie der prozessualen Einheitlichkeit von Oxidation, Kalzination und Atmung auf, die er zwischen 1787 und 1788 in zahlreichen Aufsätzen publizierte. 1789 erschien sein bahnbrechendes Lehrbuch „Traité élémentaire de chimie“; 1790 verwaltete er die von der Konstituierenden Versammlung beschlossene Reform der Maße und Gewichte; er war außerdem Vorsitzender eines Normenausschusses, dessen Tätigkeit zur Einführung der seither geltenden Raum- und Zeitmaße geführt hat. Dennoch wurde Lavoisier als Repräsentant der verhassten Steuerverwaltung während der jakobinischen Schreckensherrschaft vor ein Revolutionstribunal gestellt und im Mai 1794 auf der Guillotine hingerichtet. Als Generalpächter der Steuern eines großen Staatsgutes in der Loire-Region war Lavoisier äußerst wohlhabend; ab 1791 wurde er deswegen von dem Arzt und revolutionären Publizisten Jean-Paul Marat (1743–1793) heftig angegriffen, den er sich 1780 zum Feind gemacht hatte, als er dessen fehlerhafte Schrift über Verbrennung („Recherches physiques sur le feu“) abkanzelte.

David, der Porträtist Lavoisiers, saß damals im Konvent, als man den Wissenschaftler in einem öffentlichen Schauprozess zum Tode verurteilte und sein Vermögen konfiszierte. Zu denen, die für die Hinrichtung seines prominenten Modells stimmten gehörte er nicht. Er musste sich aber sicherlich „hüten, etwas von der Existenz seines Gemäldes laut werden zu lassen; es wäre sein eigenes Todesurteil gewesen“ (Roters 1998, S. 99). Das Bild blieb in Privatbesitz und deshalb fast zwei Jahrhunderte lang der Forschung verborgen. Erst 1977 gelangte es durch eine Schenkung in das Metropolitan Museum of Art in New York.

David zeigt das Ehepaar in bürgerlicher Kleidung: Lavoisier im schwarzen Rock mit seidener culotte, spitzenbesetztem Hemd, schwarzen Strümpfen und ebensolchen Schuhen mit silberner Schnalle; Madame Lavoisier im hellen, gleichfalls spitzenbesetzten Musselinkleid, um das ein blaues Band geschlungen ist. Auf dem Kopf trägt sie eine Perücke, die einige Strähnen bis weit auf den Rücken fallen lässt. Der Chemiker sitzt an einem Tisch, bedeckt mit roter, Falten werfender Samtdraperie, auf dem drei teils gefüllte Behältnisse aus Glas und Messing als Attribute seines Berufs zu sehen sind. Mit der rechten Hand setzt er schreibend eine Feder auf einige vor ihm ausgebreitete Blätter, aller Wahrscheinlichkeit nach soll es sich hier um das Manuskript seines „Traité élémentaire de chimie“ handeln, den er nur wenige Monate später im April 1789 veröffentlichen wird. Sein rechtes Bein hat er am Tischbein vorbei ausgestreckt; zu seinen Füßen sind weitere Apparate zu einem zweiten Stillleben arrangiert: ein gläserner Rundkolben auf geflochtener Halterung und ein zylindrisch geformtes Gefäß aus Messing.

Lavoisier schaut über seine rechte Schulter zurück, hebt Kopf und Blick zu seiner Frau, die seitlich und etwas hinter ihm steht und sich in leicht vorgebeugter Haltung einerseits mit den Fingern ihrer rechten Hand auf den Tisch stützt, während sie den linken Unterarm auf die Schulter ihres Mannes legt. Ihr Blick ist auf den Betrachter „als Zeugen der Bildsituation“ (Fleckner 2014, S. 547) gerichtet. Hinter ihr ist am linken Bildrand ein Stuhl zu erkennen, über den ein Tuch geworfen wurde; darauf liegt ein großes Portfolio, wie es Künstler zum Aufbewahren von Zeichnungen oder Grafiken benutzen. Die beiden Figuren befinden sich in einem großen, saalartigen Innenraum, dessen lichte Höhe und überaus repräsentative Ausstattung mit aufragenden Pilastern und marmorner Wandtäfelung ebenso wenig zum bürgerlichen Habit der Personen passen will wie der üppige rote Überwurf des Tisches, der weder zum Schreiben noch zum Hantieren mit chemischen Geräten taugen dürfte. Wir haben es hier keineswegs mit einer authentischen Aufnahme der Wohnräume Lavoisiers oder gar seines Labors zu tun, mit einem Einblick in den Arbeitsalltag des Chemikers, sondern mit einer „durch und durch komponierten Anordnung aussagekräftiger Bildelemente“ (Fleckner 2014, S. 547).

Lavoisiers Gasometer
Die chemischen Geräte, die auf Davids Gemälde abgebildet sind, weisen auf einige der entscheidenden Entdeckungen Lavoisiers hin und markieren den wissenschaftstheoretischen Bruch, den der Chemiker zu genau dieser Zeit in seinem „Traité élémentaire de chimie“ auch publizistisch vorbereitete: Zu sehen ist rechts unten im Bild ein Aerometer zur Bestimmung der Dichte von Gasen, wie ihn Lavoisier bereits seit den späten 1760er Jahre bei seinen Experimenten verwendete. Der Glasballon, der sich neben dem Messingkolben befindet, diente der Aufnahme und Gewichtsbestimmung von Gasen. Beide Apparate sind mit der Figur des Chemikers kompositorisch deutlich verbunden: Dessen Bein sowie die auffallende diagonale Falte der roten Draperie leiten unseren Blick vom Dargestellten auf die glänzenden Gegenstände und verbinden diese mit der Figur des Mannes sowie mit den übrigen Geräten auf dem Tisch. Dort, rechts vom Bildrand leicht angeschnitten, ist eine hohe, teils mit Wasser gefüllte Glasglocke zu sehen, die unter anderem der Bestimmung des Sauerstoffverbrauchs bei Verbrennung oder menschlicher Atmung diente. Links daneben befindet sich ein schlichtes Objekt, dessen geschlossenes Glasrohr teilweise mit Quecksilber gefüllt ist und dem Chemiker erlaubte, bei Oxidationsversuchen freigesetzten Wasserstoff zu isolieren – eine simple Anordnung, mit der Lavoisier 1784 die Zusammensetzung von Wasser aus zwei gasförmigen Bestandteilen belegen konnte. Der prominenteste Gegenstand auf dem Tisch ist ein Gasometer aus Glas und Messing, versehen mit zwei Ventilen und zu etwa einem Viertel mit Quecksilber gefüllt, mit dessen Hilfe der Wissenschaftler Sauerstoff auffangen, messen und gezielt in seine diversen Versuchsanordnungen einleiten konnte.

Marie-Anne Lavoisier: zu Recht selbstbewusst
Marie-Anne Lavoisier spielt auf Davids Doppelporträt keineswegs eine untergeordnete Rolle. Dafür spricht ihr Blick aus dem Bild, die dominante Präsenz ihrer stehenden Ganzfigur ebenso wie deren Betonung durch den mittleren Wandpilaster. Der selbstbewusste Habitus und der kompositorische Anteil, den Madame Lavoisier am gemeinsamen Bildnis hat, entsprechen ihrer historisch überlieferten Persönlichkeit: Sie übersetzte wissenschaftliche Literatur aus dem Lateinischen, Italienischen und Englischen, die von ihr teilsweise mit eigenen Kommentaren versehen und herausgegeben wurden, wie auch die Schriften ihres Mannes. Anne-Marie Lavoisier unterhielt zudem eine weitverzweigte intellektuelle Korrespondenz und führte in Paris einen Salon, in dem regelmäßig internationale Wissenschafter, Politiker und Künstler zu Gast waren. Sie war nicht nur Lavoisiers Ehefrau, sie war auch seine engste Mitarbeiterin. Sie übersetzte für ihren Gatten ins Französische, darunter den Essay sur la phlogistique, und fertigte die Zeichnungen zu Lavoisiers Abhandlungen an, worauf die Zeichenmappe am linken Bildrand verweist. Sie soll eine begabte Schülerin Davids gewesen sein.

Jean-Honoré Fragonard: Die Inspiration (1769); Paris, Louvre
Die Arbeitsgeräte der beiden, die chemischen Apparate und die Zeichenmappe, weisen auf die geistige Kooperation hin, wobei die Ehefrau als inspirierende Muse erscheint. Denn die Kopfwendung des Mannes mit verklärtem Blick und zur Seite gedrehten Augäpfeln ist ein vom mittelalterlichen christlichen Autorenbild übernommenes Gestaltungsmuster, das den Moment der göttlichen Inspiration markiert. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wird diese Kopfhaltung immer wieder in Porträts von Künstlern, Dichtern, Philosophen und Musikern verwendet.

Hyacinthe Rigaud: Ludwig XIV. (1701); Paris, Louvre
(für die Großansicht einfach anklicken)

Erstaunlich sind die Maße des Doppelporträts von David: Auf 286 x 224 cm Leinwand sind die beiden Figuren lebensgroß dargestellt – ein Format, das bis zum 18. Jahrhundert in der französischen Bildnismalerei ausschließlich dem adligen Standesporträt und insbesondere dem prunkvollen portrait d’apparat, dem herrscherlichen Repräsentationsporträt vorbehalten war. Als das geradezu klassische Beispiel dieser Gattung in der französischen Malerei gilt Hyacinthe Rigauds berühmtes Bildnis Ludwig XIV. von 1701, das den Monarchen, ausgestattet mit allen Insignien seiner Macht, im Thronsaal vor Säule und Vorhang zeigt. Das Werk ist mit 277 x 194 cm sogar noch etwas kleiner als das Porträt der Eheleute Lavoisier.

 

Literaturhinweise

Fleckner, Uwe: Respiration und Inspiration. Jacques-Louis Davids Bildnis des Chemikers Antoine-Laurent Lavoisier und seiner Frau Marie-Anne. In. Zeitschrift für Kunstgeschichte 77 (2014), S. 545-564;

Gaus, Joachim: Ingenium und Ars – das Ehepaarbildnis von David und die Ikonographie der Museninspiration. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 36 (1974), S. 199-228:

Roters, Eberhard: Malerei des 19. Jahrhunderts. Themen und Motive. Band I. DuMont Buchverlag, Köln 1998, S. 97-101.


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