Samstag, 29. Mai 2021

Der Söldnerführer von Padua – Donatellos Reiterdenkmal des Condottiere Gattamelata

Donatello: Reiterstandbild des Condottiere Gattamelata (um 1443-1453);
Padua, Piazza del Santo (für die Großansicht einfach anklicken)
Der italienische Bildhauer Donatello (1386–1466, eigentlich Donato di Niccolò di Betto Bardi) gehört zusammen mit Filippo Brunelleschi (1377–1466) und Masaccio (1401–1428) zu den herausragenden Künstlern des Florentiner Quattrocento. Seine auf der Piazzo del Santo vor der Antoniusbasilika in Padua aufgestellte Statue des Condottiere Gattamelata ist nicht nur das früheste freistehende, bronzene Reiterdenkmal nachantiker Zeit – sie wurde auch zum Vorbild nahezu aller späteren Reitermonumente, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.
Die Planung des Standbilds scheint bis in das Todesjahr des venezianischen Söldnerführers 1443 zurückzureichen. Eine postume Ehrung, wie sie der einfache Kriegsmann Erasmo da Narni (Gattamelata war sein Spitzname und bedeutet „gefleckte Katze“) mit dieser monumentalen Freiplastik erfuhr, war zuvor ausschließlich Herrschern und bedeutenden Adligen vorbehalten gewesen. Gewaltig ist die Skulptur schon von den Ausmaßen her: Allein der Sockelpfeiler ist nahezu acht Meter hoch, die Bronzefigur selbst misst nochmals 390 x 340 cm. Obwohl ab 1447 Arbeiten am Gattamelata bezeugt sind – man fing zu diesem Zeitpunkt bereits an, das Postament aufzumauern und einzelne Bronzeteile zu gießen –, wurde die Skulptur erst 1453 auf ihrem Sockel platziert.
Das einzige erhaltene Reiterstandbild der Antike: der Marc Aurel auf dem Kapitol in Rom
Wesentliche Impulse für die Gestaltung des Monuments hat Donatello ohne Zweifel aus der antiken Kunst erhalten – die Bezüge zum Reiterstandbild des Marc Aurel in Rom sind offensichtlich (siehe meinen Post Erhabene Überlegenheit). In Pavia könnte Donatello zudem damals noch das 1796 zerstörte antike Reitermonument des Regisole gesehen haben. 
Das antike Reitermonument des Regisole wurde 1796 zerstört
und ist nur noch durch Zeichnungen überliefert
Bei den Umrisslinien des Pferdes wäre als mögliches Vorbild auch die berühmte römische Quadriga von San Marco zu nennen, die 1204 als Kriegsbeute aus Konstantinopel nach Venedig gelangte. „Als Zugtiere zeigen die venezianischen Rösser allerdings ein anderes Kräftebild als ein Reitpferd (...) Ohne von einer Last niedergedrückt zu sein, schreiten sie freier aus und sind viel schlanker proportioniert als das Pferd des Gattamelata“ (Beuing 2010, S. 161/162).
Die Quadriga von San Marco
Raphael Beuing verweist außerdem auf die beiden antiken Pferdeköpfe, die heute in den Archäologischen Museen von Florenz und Neapel ausgestellt sind, sich früher aber beide in der Stadt am Arno befanden. „Von diesen Köpfen dürfte sich Donatello das reiche Relief der unterliegenden Knochenstruktur und Hautoberfläche sowie die Gestaltung der Mähne abgeschaut haben, bei der zwei feine Haarreihen einen höheren stehenden Grat säumen“ (Beuing 2010, S. 162). Donatello variierte die Vorbilder aber, indem er die Mähne weniger als massiven Keil formte, sondern sie in lockere, leichte Strähnen zerlegte.
Antiker Pferdekopf („Protome Carafa“); Neapel, Museo Archeologico Nazionale
Vermutlich war Donatello mit der „Protome Carafa“ vertraut
Donatellos Gattamelata verbindet beeindruckend die Rückbesinnung auf die Antike mit erstaunlichem Naturalismus. Die Lebendigkeit, mit der das schnaubende, kräftig gebaute Pferd und die stolze Entschlossenheit des Reiters wiedergegeben sind, wurden schon von dem Künstlerbiografen Giorgio Vasari (1511–1547) gerühmt. Dass Erasmo da Narni im Vergleich zu seinem Pferd eher klein erscheint, hat man als bewussten Kunstgriff Donatellos gedeutet, um desto nachdrücklicher dessen Kraft und Führungsqualitäten zu betonen. Das massige Reittier ist im Schritt begriffen, doch kommt seine Bewegung auf der Kanonenkugel zur Ruhe, auf die es die Spitze des linken Vorderhufes setzt. Eines strammen Zügels bedarf das Tier offensichtlich nicht. 
Erasmo da Narni sitzt ganz geschmeidig, mit lockeren Gelenken und leicht nach vorne gebeugt in seinem Sattel. Sein rechter Arm ist nach vorne ausgestreckt und weist mit dem langen Kommandostab schräg über den Kamm des Pferdes nach links, wohin auch das Ross seinen Kopf wendet. „Das herabhängende Schwert an der linken Seite des Feldherrn fügt dem Gefüge der Körperachsen eine vermittelnde Diagonale hinzu und erhebt diese Flanke zur Hauptansichtsseite des Denkmals“ (Beuing 2010, S. 153). Kontrastreich heben sich vom mächtigen Leib des Pferdes das Zaumzeug sowie der ornamentale Schmuck des Sattels und der Rüstung des Heerführers ab. Die Rüstung zieren Muscheln, Eroten und auf seinen Namen anspielende Katzen, auf der Sattellehne treiben Putten ihre Rösser in weitem Sprung aufeinander zu, und auf der Harnischbrust prangt ein großes Medusenhaupt.
Donatello hat dem Waffenrock einen betont antiken Charakter verliehen, der an römische Kaiserrüstungen erinnert. Als antikisierende Bestandteile sind insbesondere das Gorgoneion auf der Brust sowie die Laschen am Rock und an den Schultern zu nennen. „Unverkennbar war die Absicht, den Dargestellten dadurch in eine ideale Sphäre zu erheben, ihn wie einen antiken Heerführer und Imperator erscheinen zu lassen“ (Poeschke 2008, S. 164). Donatello kombiniert diese Elemente aber mit Rüstungsteilen des 15. Jahrhunderts wie Arm- und Beinschutz oder dem Langschwert. An diesen Details lässt sich ablesen, dass es ihm nicht um archäologische Genauigkeit ging, „denn nach antikem Brauch dürfte der Gattamelata seinem Ross nicht mit Sattel und Steigbügel aufsitzen“ (Wirtz 1998, S. 93). 
Zu den zeitgenössischen Attributen des venezianischen Condottiere gehört auch der Kommandostab, der ihm 1438 von der Republik verliehen worden war. Der Bastone ist die eigentliche Insignie des Heerführers, Zeichen seiner besonderen Befehlsgewalt und Würde und dementsprechend von Anfang an ein fester Bestandteil der Condottieren-Ikonographie (Poeschke 2008, S. 168). Den Stab mit der ausgestreckten Rechten nach vorn reckend, präsentiert sich Erasmo da Narni als Handelnder, als der mitten im Kampfgeschehen stehende und das Kampfgeschehen umsichtig lenkende Befehlshaber seiner Truppen. Diese besondere Situation wird nicht nur durch die Geste des Condottiere betont, sondern auch durch das Motiv der Kanonenkugel: Sie soll das Schlachtfeld andeuten. 
Wer auf dem hohen Ross sitzt, muss den Spott der Tauben fürchten
Der Kopf des Erasmo da Narni zeigt wiederum Anklänge an römische Porträt-Plastik. Der Condottiere trägt weder Helm noch Barett, wie es bei damaligen Reiterdarstellungen üblich war. Sich Wind und Wetter ohne Kopfbedeckung auszusetzen, wurde von den Humanisten gerne als Beweis für eine durch Selbstbeherrschung erworbene robuste körperliche Verfassung betrachtet. Barhäuptig mitten im Kampfgeschehen zu stehen – diese Illusion strebt Donatellos Reitermonument ja an –, signalisiert nicht nur Ausdauer und Robustheit, sondern auch Mut, Furchtlosigkeit und Unerschütterlichkeit. 
Ohne Kopfschutz mitten im Kampfgeschehen
Römische Porträtplastik (1. Jh. v.Chr.); New York, Metropolitan Museum of Art
Donatello knüpft hier an antike Schlachtensarkophage an, auf denen die Hauptfigur – derjenige, für den der Sarkophag bestimmt war – im Zentrum des Kampfgetümmels steht. So wird z. B. auf dem Ludovisi-Sarkophag in Rom der Feldherr zwischen lauter behelmten Kriegern mit ungeschütztem Haupt gezeigt und so besonders hervorgehoben. Joachim Poeschke verweist in diesem Zusammenhang auch auf den römischen Geschichtsschreiber Sueton, der von Cäsar zu berichten weiß, dass dieser stets unbedeckten Hauptes dem Heer vorangeritten oder vorangeschritten sei.
Ludovisi-Sarkophag (3. Jh. n.Chr.); Rom, Museo Nazionale Romano
Umstritten ist, ob und inwieweit der Kopf des Reiters tatsächlich dem wirklichen Aussehens Erasmo da Narnis entspricht. Als die Arbeit am Denkmal aufgenommen wurde, war der Condottiere bereits tot, und es gibt keine Hinweise darauf, dass sich Donatello an einem zeitgenössischen Porträt von ihm oder an einer Totenmaske orientiert hätte. Die Physiognomie des Reiters scheint eher Bestandteil des Idealbildes zu sein, dass Donatellos Gattamelata vermitteln will: Nicht Schönheit, Ebenmäßigkeit oder aristokratische Feinheit werden hier betont – die Gesichtszüge sollen vielmehr als „Merkmale einer löwenhaften Natur“ (Poeschke 2008, S. 171) verstanden werden.
Auch der Sockel des Gattamelata ist von Donatello entworfen worden. In seinem oberen Abschnitt sind in zwei Reliefs trauernde Genien dargestellt, die auf das Wappen des Verstorbenen hinweisen bzw. dessen Rüstung präsentieren (die stark verwitterten Originalreliefs wurden 1854 durch Kopien ersetzt). Im unteren Teil des Sockels sind zwei marmorne Scheinportale angebracht, die zweifellos Hadestüren von antiken Sarkophagen zum Vorbild haben und den Grabmalscharakter des Monumentes unterstreichen“ (Poeschke 1990, S. 113).
Die imponierende Wirkung des Reiterdenkmals liegt nicht zuletzt in der souveränen Leichtigkeit, mit der Erasmo da Narni sein Pferd mit lockerer Hand scheinbar mühelos dirigiert. Donatello lässt mit seiner Skulptur des willensstarken Condottiere vergessen, dass der Heerführer in seinem Leben nicht ganz so erfolgreich war, wie man angesichts des Denkmals vermuten könnte: Die Mehrzahl der Schlachten, in die er zog, wurde verloren.
Andrea del Verrocchio: Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni (1480-1488); Venedig,
Campo Santi Giovanni e Paolo (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Wirkungsgeschichte des Standbilds ist umso beeindruckender: Die bedeutendsten Anlehnungen sind die Reitermonumente des Bartolomeo Colleoni von Andrea del Verrocchio in Venedig (1480–1488), Cosimo I. von Giambologna 
Giambologna: Reiterstandbild Cosimo I. (1581–1594); Florenz, Piazza della Signoria © Lee Sandstead
auf der Piazza della Signoria in Florenz (1581–1594); die Reiterstatue des englischen Königs Charles I. am Trafalgar Square in London (1630–1633), ein Werk des französischen Bildhauers Hubert Le Sueur; der Große Kurfürst von Andreas Schlüter im Ehrenhof von Schloss Charlottenburg in Berlin (1696–1698); das Standbild des Fürsten Jósef Poniatowski von Berthel Thorvaldsen (1817–1828) vor dem Präsidentenpalast in Warschau; die Reiterfigur Maximilians I. auf dem Wittelsbacher Platz in München, ebenfalls von Berthel Thorvaldsen (18301836), der Louis XIV. von Pierre Cartellier/Louis Petitot auf der Place dArmes in Versailles (1836) sowie das George-Washington-Monument des amerikanischen Bildhauers Henry Kirke Brown (1856). Etwas näher eingehen will ich an dieser Stelle auf Verrocchios Reiterdenkmal des Söldnerführers Bartolomeo Colleoni (1400–1475), der den Stadtoberen von Venedig testamentarisch eine ansehnliche Summe Dukaten für ein ihn ehrendes Monument zukommen ließ.
Drama, Baby, Drama!
Auf auffälligsten im Vergleich zu Donatellos
deutlich statischer wirkendem Gattamelata ist Verrocchios entschiedene Dramatisierung des Reiterstandbilds. Gegenüber dem ruhigen Passgang in Padua ist das Ross auf dem Campo Santi Giovanni e Paolo in stürmischem Vorwärtsdrängen dargestellt, wobei die dynamische Bewegung des Tieres gesteigert wird durch den über die Sockelplatte hinausragenden Kopf sowie das weit angezogene linke Vorderbein. Aufgeblähte Nüstern sowie deutlich hervortretende Adern, Sehnen und Muskelpartien betonen zusätzlich den kraftvollen Eindruck des Pferdes. Den im zeitgenössischen Harnisch gepanzerten Feldherrn charakterisierte Verrocchio nicht nur physiognomisch, sondern auch in seiner Körperhaltung als herrisch gebietende, von wilder Entschlossenheit und Angriffslust angetriebene Gestalt. Der Condottiere hat sich in den Steigbügeln aufgerichtet, die linke Schulter ist energisch nach vorn geschoben, sein behelmter Kopf mit den zusammengezogenen Augenbrauen zur Seite gewendet. Was man, am Fuß des hohen Sockels stehend, kaum wahrnimmt, macht erst die Nahsicht deutlich: „die fast grimassierende Anspannung aller Gesichtsmuskeln, besonders aber den gorgonenhaften Blick, der apotropäisch die Feinde bannen und in Schach halten soll“ (Schneider 2017, S. 81). Dabei wird der stechende Blick durch den spitz zulaufenden Helm nochmals verstärkt.
Hubert Le Sueur: Charles I. (1630–1633); London, Trafalgar Square  

Andreas Schlüter: Der Große Kurfürst (1696–98, 1703 errichtet); Berlin, Schloss Charlottenburg
Berthel Thorvaldsen: Fürst Józef Poniatowksi (1817–1828); Warschau, Präsidentenpalast
Berthel Thorvaldsen: Kurfürst Maximilian I. (1830-1836); München, Wittelbacher Platz

Pierre Cartellier/Louis Petitot: Louis XIV. (1836); Versailles, Place dArmes

Henry Kirke Brown: George Washington (1856); New York, Union Square

Literaturhinweise
Baumstark, Reinhold: Das Nachleben der Reiterstatue. Vom caballus Constantini zum exemplum virtutis. In: Marc Aurel. Der Reiter auf dem Kapitol. Hirmer Verlag, München 1999, S. 78-115;
Bergstein, Mary: Donatello’s Gattamelata and its Humanist Audience. In: Renaissance Quarterly 55 (2002), S. 833-868;
Beuing, Raphael: Reiterbilder der Frührenaissance. Monument und Memoria. Rhema-Verlag, Münster 2010, S. 152-164; 
Hunecke, Volker: Europäische Reitermonumente. Ein Ritt durch die Geschichte Europas von Dante bis Napoleon. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2008, S. 78-85;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 1: Donatello und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1990, S. 112-113;
Poeschke, Joachim: Reiterbilder und Wertesymbolik in der Frührenaissance. Zum Gattamelata-Monument Donatellos. In: Joachim Poeschke u.a. (Hrsg.), Praemium Virtutis III. Reiterstandbilder von der Antike bis zum Klassizismus. Rhema, Münster 2008;
Pope-Hennessy, John: Donatello. Sculptor. Abbeville Press Inc., New York 1993, S. 199-210;

Schneider, Norbert: Kunst der Frührenaissance in Italien. Exemplarische Interpretationen. Band 1: Skulptur. LIT Verlag, Karlsruhe 2017, S. 74-81;

Windt, Franziska: Andrea del Verrocchio und Leonardo da Vinci. Zusammenarbeit in Skulptur und Malerei. Rhema-Verlag, Münster 2003, S. 182-185;

Wirtz, Rolf C.: Donatello. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998;
Zitzlsperger, Philipp: Kleiderbilder und die Gegenwart der Geschichte. Gattungsübergreifende Überlegungen zum Verhältnis von Personaldenkmal, Historienbild und der Kleidung in der Kunst. In:
David Ganz/Marius Rimmele (Hrsg.), Kleider machen Bilder. Vormoderne Strategien vestimentärer Bildsprache. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2012 , S. 117-138. 

(zuletzt bearbeitet am 21. März 2023)

Donnerstag, 27. Mai 2021

Caspar Davids Friedrichs Blick ins Tal des Todes – „Gebirgslandschaft mit Regenbogen“ (1810)

Caspar David Friedrich: Gebirgslandschaft mit Regenbogen (1810); Essen, Museum Folkwang
(für die Großansicht einfach anklicken)
Ein einsamer Wanderer in heller Hose und rotem Wams blickt, an einen Fels gelehnt und sich auf seinen Stock stützend, in eine tiefe Schlucht. Die Sohle des Tales ist verborgen, nur Nebel wird unten sichtbar. Darüber dehnt sich ein wolkenschwerer Nachthimmel. Jenseits des Tales ragt in der Mitte ein dunkler Berg auf — eine Ansicht des Rosenberges in der Sächsischen Schweiz —, über dem ein die ganze Bildbreite durchmessender, hell und farbig leuchtender Regenbogen erstrahlt.

Wie in den meisten Gemälden von Caspar David Friedrich (1774–1840) haben wir es bei dieser streng symmetrisch aufgebauten Komposition mit keiner „erlebten Landschaft“ zu tun, die naturgetreu abgebildet wurde, sondern mit einer symbolischen. Darauf verweist ein besonderes Naturphänomen: Wenn es der Mond ist, der im Hintergrund durch die Wolken am Nachthimmel bricht – woher kommt dann das Licht im Vordergrund, das eine von Laubgebüschen flankierte, grasbewachsene Kuppe bestrahlt und dessen Ursprung links vorn außerhalb des Bildes zu suchen wäre? Es hebt den Wanderer hell aus der Finsternis heraus, wie von einem Scheinwerfer angestrahlt steht er da. Hinzu kommt: Ein Regenbogen kann nur gesehen werden, wenn sich die Lichtquelle im Rücken der Betrachtenden befindet. Vermutlich war das Bild zunächst als Nachtlandschaft mit dem Mond hinter Wolken gedacht, so die Erklärung von Helmut Börsch-Supan – der Regenbogen wäre dann später von Friedrich hinzugefügt worden, um die eigentliche Bildaussage zu unterstreichen.

Der Fels, der Halt gibt: bei Friedrich Symbol für den christlichen Glauben

Der am Rand der dunklen Schlucht stehende Wanderer ist offensichtlich ein Städter, wie seine Kleidung zeigt – ein Fremdling also in dieser Umgebung. Der jähe Abgrund, in den er hinabsieht, erinnert nach Ansicht von Börsch-Supan an das Ende des Lebens, das uns in jeder Minute ereilen kann. Friedrich lässt uns mit diesem Mann in das Tal des Todes blicken, das wir alle durchqueren müssen. Finster und nebelverhangen ist es dort – doch diese Dunkelheit wird erhellt durch Christus, das Licht in der Nacht, symbolisiert durch den in der nächtlichen Finsternis aufscheinenden Mond. Er erleuchtet die Wirrnis und Angst des menschlichen Herzens angesichts des Todes.

Der Regenbogen wiederum, der die Gebirgslandschaft wie eine Kuppel überspannt, verheißt Versöhnung, Hoffnung und Zukunft für alle, die sich Christus anvertrauen – so lässt sich nach Börsch-Supan der religiöse Symbolgehalt des Bildes zusammenfassen. Der gewölbte Regenbogen korrespondiert mit dem kleinen Wiesenstück in Form eines Kreisegments ganz vorne im Bild. Der Berg, der hinter der Schlucht erscheint, ist ein Gottessymbol bzw. meint die jenseitige Welt: „Der Wanderer muss das Tal durchqueren, wenn er zu diesem Ziel seines Weges gelangen will“ (Börsch-Supan 1987, S. 90). Die Spitze des Berges und die Gestalt des Wanderers befinden sich beide etwa in der Mittelachse des Bildes und sind auf diese Weise aufeinander bezogen.

Börsch-Supan geht davon aus, dass sich Friedrich in der Vordergrundfigur selbst dargestellt hat – sein Gemälde könne deswegen als Bekenntnis aufgefasst werden. Der Wanderer hat seinen Hut zu Boden gelegt, was als Geste der Ehrfurcht angesichts des Todes zu verstehen sei – und der Demut vor dem, der allem Leben sein Ende setzt. Der Fels aber, an den er sich lehnt, meint den inneren Halt, den der christliche Glaube gibt: Er lässt uns darauf hoffen, dass der Abstieg in dieses dunkle Tal nicht das Ende bedeutet, weil uns die Verheißung ewigen Lebens gegeben ist.

Caspar David Friedrich: Frau vor der auf-/untergehenden Sonne (um 1818); Essen, Museum Folkwang
(für die Großansicht einfach anklicken)
Das Essener Museum Folkwang beherbergt noch ein weiteres Ölgemälde von Caspar David Friedrich: die Frau vor der auf-/untergehenden Sonne (um 1818; siehe meinen Post „Abenddämmerung oder Morgensonne?“). Wer im Ruhrgebiet wohnt, sollte sich die beiden Bilder unbedingt im Original anschauen – zumal die Dauerausstellung des Museum Folkwang nach wie vor bei freiem Eintritt zu bewundern ist.

 

Literaturhinweise

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel Verlag, München 41987, S. 90;

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Seine Gedankengänge. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2023, S. 37;

Gaßner, Hubertus (Hrsg.): Caspar David Friedrich – Die Erfindung der Romantik. Hirmer Verlag, München 2006, S. 279 und 282-283;

Hofmann, Werner (Hrsg.): Caspar David Friedrich 1774 – 1840. Kunst um 1800. Prestel-Verlag, München 1974, S. 167;

Jensen, Jens Christian: Caspar David Friedrich. Leben und Werk. Verlag M. DuMont Schauberg, Köln 1974, S. 112-113;

Märker, Peter: Caspar David Friedrich – Geschichte als Natur. Kehrer Verlag, Heidelberg 2007 (zuerst erschienen 1974), S. 109-112.

 

(zuletzt bearbeitet am 2. Februar 2024)