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Gregor Erhart: Maria Madgalena (um 1516/20); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken)
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Maria Magdalena wird im Neuen Testament als eine
der Begleiterinnen Jesu und Zeugin seiner Auferstehung erwähnt. Nachdem sie mit
anderen Frauen am Ostermorgen das leere Grab Christi entdeckt hatte, berichtete
sie als Erste den Jüngern von dessen Auferstehung (Johannes 20,11-18). Im 3.
Jahrhundert verlieh ihr deswegen Hippolyt von Rom die ehrenvolle Bezeichnung Apostola apostolorum („Apostelin der
Apostel“). Papst Gregor I. setzte im Jahr 591 (darin Hippolyt folgend) in einer
Predigt Maria von Magdala mit der anonymen Sünderin gleich, die Jesus die Füße
wusch (Lukas 7,36-50). Obwohl diese Zuschreibung nicht sicher ist, wurde sie
Teil der katholischen Überlieferungstradition. Im Text des Lukas wird Maria
Magdalena als „Sünderin“ bezeichnet; später deutete man diese Benennung als
„Prostituierte“. Der Legenda aurea
des Jacobus de Voragine zufolge, dem bekanntesten und am weitesten verbreiteten
religiösen Volksbuch des Spätmittelalters, soll die geläuterte Maria Magdalena
ihre letzten dreißig Lebensjahre in freiwilliger Buße als Einsiedlerin in einer
südfranzösischen Höhle verbracht haben.
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Hier wird mehr ent- als verhüllt
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Von Gregor Erhart (1470–1540), einem
führenden Bildhauer der Dürerzeit, stammt eine 177 cm hohe Holzfigur der Maria
Magdalena, die zu den wichtigsten Beispielen der süddeutschen Renaissance-Skulptur
zählt. Gregor Erhart war 1494 von Ulm nach Augsburg übergesiedelt und hatte die
Figur zwischen 1516 und 1520 für die dortige Dominikanerkirche geschaffen.
Heute ist die Statue im Louvre zu bewundern, wohin man sie 1902 verkauft hatte und
wo sie seither auch „La Belle Allemande“ genannt wird.
Die etwas überlebensgroße,
vollplastisch gestaltete Maria Magdalena ist in aufrechter Haltung und
ausgeprägtem Kontrapost dargestellt. Die Büßerin steht auf dem linken
Standbein, winkelt das rechte Bein als Spielbein ab und setzt den rechten Fuß
nach hinten. Die linke Hüfte ist nach oben gezogen, die rechte, etwas tiefer
sitzende, nach vorn gekippt; die linke Schulter wirkt leicht nach unten
genommen und die rechte nach oben geschoben. Durch die zusätzliche Drehung der
Schultern erfährt die Figur eine leichte Wendung nach rechts; dorthin weisen
auch die etwa auf Bauchhöhe im Gebetsgestus zusammengelegten Hände. Der Kopf
Maria Magdalenas ist dagegen zur linken Schulter geneigt. Das Gesicht der
Heiligen zeichnet sich durch hochstehende Wangen, ein markantes Kinn und
sinnlich geschnittene Lippen aus. Ihr Blick ist aus den melancholisch
wirkenden, halb geschlossenen Augen nach links unten gerichtet.
Maria Magdalena ist gänzlich nackt.
Ihre Scham wird jedoch von einer rechts diagonal über die Schulter verlaufenden
breiten Haarsträhne verdeckt. Die rechte Brust der Heiligen wird dabei
beidseitig vom Haar so umflossen, dass die spitz vorstehende Brustwarze
freiliegt. Eine weitere Strähne fällt von der linken Schulter hinunter über den
Oberarm, teilt sich und läuft über die linke Armbeuge bis zur Hüfte hinab. Über
Schultern und Rücken reicht das gewellte Haar bis weit über das Gesäß Maria
Magdalenas. Überhaupt ist das glanzvoll goldene Haar mit besonderer Sorgfalt
bis in die Strähnen erhaben ausgearbeitet, dazu sind einzelne Locken und
Spitzen vom Körper abgesetzt worden. Die milchig-bleiche Haut der jungen Frau
kontrastiert mit den zart geröteten Wangen und den dunkelroten Lippen. Kunstvoll
aufgemalt sind im Gesicht und am vorn verlaufenden Haar einzelne dünne
Strähnen, ebenso auch die Augenbrauen.
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Magdalenas Rückseite ist etwas züchtiger bedeckt
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Der heutige Zustand der Skulptur ist
maßgeblich das Resultat einer Überarbeitung, die vor dem Ankauf durch den Louvre
durchgeführt wurde. Ergänzt wurden damals ein rückseitiges Verschlussbrett, der
felsenartig geschnitzte Sockel mit dem vorderen rechten Fuß vertikal von der Beuge
ab und der Vorderteil des linken Fußes. Ursprünglich war die Figur wohl als
hängendes Bildwerk gedacht. Dafür spricht insbesondere die große Bohrung im
Haupt, die zu einer hochrechteckigen Aussparung im Torso führt. Hier muss ehemals
eine Hängevorrichtung montiert gewesen sein. „Zudem scheint die ,Belle
Allemande‘ auf eine Betrachtung in Untersicht konzipiert worden zu sein, worauf
unter anderem der leicht gesenkte Blick der Heiligen hindeutet“ (Teget-Welz
2021, S. 238).
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Tilmann Riemenschneider: Erhebung der Maria Magdalena (um 1490/92); München, Bayerisches Nationalmuseum
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Entsprechend der Darstellungstradition
um 1500 im süddeutschen Raum wird die allansichtige Figur von einer Engelschar
umgeben gewesen sein. Als eines der schönsten Vergleichsbeispiele sei hier auf die
Maria Magdalena aus Tilman Riemenschneiders Münnerstädter Altar verwiesen (München,
Bayerisches Nationalmuseum (1490/92 entstanden). Gezeigt wird die wundersame „Erhebung“
der Maria Magdalena, von der Jacobus de Voragine in der Legenda aurea berichtet. Dort heißt es, die Heilige zog, „begierig
nach höherer Betrachtung, in die wildeste Einöde und blieb dreißig Jahre
unerkannt an diesem von Engelshänden bereiteten Ort. (...) Jeden Tag wurde sie
zu den kanonischen Stunden von Engeln in die Lüfte gehoben und hörte die glorreichen
Chöre der himmlischen Heerscharen auch mit leiblichen Ohren. Jeden Tag wurde
sie mit dieser köstlichen Speise gesättigt, darauf wurde sie von denselben Engeln
an ihren Wohnort zurückgebracht und bedurfte so keinerlei irdischer Nahrung“ (de
Voragine 2014, S. 1247/1249).
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Albrecht Dürer: Erhebung der Maria Magdalena (um 1504/05); Holzschnitt
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Hans Multscher: Erhebung der Maria Magdalena (um 1430); Berlin, Bode-Museum
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Anregung für seine Komposition dürfte
Erhart durch Albrecht Dürers gleichnamigen Holzschnitt von 1504/05 erhalten
haben. Mit ihm stimmt nicht nur das Konzept der nackten, vom Kopfhaar partiell
verhüllten Büßerin überein, sondern auch einzelne Details in der Körperhaltung
und die Anordnung der Haarsträhnen. Auffälligste Gemeinsamkeit ist aber, dass
beide Künstler auf das bis dahin gängige Fellkleid der Heiligen verzichten, wie
es unter anderem noch bei Riemenschneiders Münnerstädter Maria Magdalena
begegnet oder bei Hans Multschers Version der Erhebung in Berlin. Erharts Skulptur erhält durch diese Gestaltung
einen deutlich sinnlich-erotischen Einschlag, „die durch die Gestaltung des
Haars, das die Brust lediglich seitlich umfließt und so mehr ent- als
eigentlich verhüllt, weiter akzentuiert wird“ (Teget-Welz 2021, S. 242).
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Albrecht Dürer: Adam und Eva (1507); Madrid, Museo del Prado (für die Großansicht einfach anklicken)
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Lucas Cranach d.Ä.: Venus und Amor (1509); St. Peterburg, Eremitage
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Inhaltlich legitimiert wird die Darstellung
der Heiligen als schöne Sünderin duch den Legendenbericht, der von Maria
Magdalenas zunächst lasterhaftem Lebenswandel erzählt. Sinnlich anziehende
Aktdarstellungen in voller Lebensgröße entwickelten sich im deutschen
Kulturraum spätestens seit Albrecht Dürers Adam-und-Eva-Tafeln von 1507
(Madrid, Prado; siehe meinen Post „,Nicht Adam wurde verführt ...‘“) zu einem
neuen Geschäftszweig der Künstler. Wie lukrativ er war, lässt sich insbesondere
am Werk von Lucas Cranach d.Ä. ablesen: Zwei Jahre nach Dürers Gemälden schuf er
seine erste Venus-und-Amor-Tafel (St. Petersburg, Ermitage), der rasch unzählige
Aktbilder in den verschiedenesten Themen folgten. Als lasziv gestaltete Aktfigur
im Kirchenraum dürfte Erharts Skulptur schon zur Entstehungszeit als regelrecht
skandalös empfunden worden sein: Zu unbekanntem Zeitpunkt wurde die Figur
offensichlich mit Tüchern verhüllt, um ihre erotische Ausstrahlung abzumildern.
Literaturhinweise
Teget-Walz, Manuel: Ingeniosus Magister. Der
Augsburger Bildhauer Greegor Erhart. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2021, S.
238-247;
de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Zweiter Teilband. Einleitung,
Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder,
Freiburg i.Br. 2014, S. 1235-1259.
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