Caspar David Friedrich: Frau vor der auf-/untergehenden Sonne (um 1818); Essen; Museum Folkwang (für die Großansicht einfach anklicken) |
Caspar David Friedrich (1774–1840) gehört nach wie
vor zu den bekanntesten deutschen Malern, in seiner Beliebtheit vielleicht nur
noch von Albrecht Dürer übertroffen. Er gilt als der romantische
Landschaftsmaler schlechthin. Seine Gemälde werden Jahr für Jahr in
großformatigen Kalendern nachgedruckt oder für Buchumschläge verwendet, und
beinah ebenso regelmäßig erscheint neue Literatur zu Friedrichs Leben und Werk. Die meisten schätzen seine Bilder als melancholisch-ruhige Stimmungslandschaften, mit
faszinierenden Sonnenuntergängen, grandiosen Wolkenschauspielen, erhebenden
Ausblicken ins Hochgebirge oder auf die Weite des Meeres. Woher rührt diese ungebrochene Popularität, die sich auch im Friedrich-Jubiläumsjahr 2024 an einer restlos ausgebuchten Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle gezeigt hat?
Jost Hermand bietet eine nachvollziehbare Erklärung an: ,,Angesichts der zersiedelten, verwüsteten Natur unserer eigenen Umwelt empfinden viele dieser Menschen seine Berg-, Wiesen-, Wald- und Seestücke wie eine einzige große Augenweide oder seelische Labsal. Schließlich ist auf ihnen alles noch unberührt, noch rein.
[…]
Denn wo – wenn nicht bei Friedrich – gibt es noch soviel schöne Nur-Natur? Seine Landschaften gleichen Naturschutzgebieten, die noch nicht vom
»grässlichen«
Fortschritt der Industrialisierung gezeichnet sind, wo alles noch zeitlos, ewig, göttlich wirkt“ (Hermand 2001, S. 217). Florian Illies betont dagegen vor allem den ,,Zauber der Stille“, die Friedrichs Bilder ausstrahlen und in einer reizüberfluteten Gesellschaft so anziehend machen.
Heutige
Betrachter erkennen allerdings weit seltener als Friedrichs Zeitgenossen, dass seine
Bilder mehr zeigen als stille Abenddämmerungen, verträumte Mondnächte,
vertraute Küsten und die grünen Gefilde der deutschen Heimat. Zu Friedrichs
Lebzeiten war man sich bewusst, dass seine Werke mehr sind als Abbilder real erlebter
Natur, dass sie keine ,,idealen Landschaften“ präsentieren, sondern viele
Bilddetails als Symbole zu verstehen sind, die eine Botschaft enthalten.
Es hat in der kunstgeschichtlichen
Forschung immer wieder unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben, wie die
sinnbildliche oder ,,allegorische Landschaft“, die Friedrichs Kunst
kennzeichnet, gemeint ist. Der Friedrich-Spezialist Helmut Börsch-Supan ist der
Ansicht, dass es sich um ,,religiöse Landschaftsallegorien“ handelt. Friedrich
habe gemalte Gleichnisse geschaffen, Sinnbilder, deren religiöse Aussage
geradezu ,,entschlüsselt“ werden müsste. Als Beispiel soll hier eines
seiner Gemälde aus dem Museum
Folkwang in Essen vorgestellt werden.
Das kleinformatige Bild (22 x 30 cm)
zeigt die Rückenfigur einer Frau – vor auf- oder untergehender Sonne? Das ist eine unter Kunsthistorikern ebenfalls bis heute umstrittene Frage, denn sie bestimmt wesentlich die Deutung des Bildes. Die weibliche Gestalt steht, zwei Drittel der Bildhöhe
durchmessend, mit leicht
abgespreizten Armen im
Vordergrund und genau in der Mittelachse der Komposition. Sie trägt ein fußlanges blaues Kleid und hat die offenen Handflächen gegen eine weite Landschaft und
die Sonne gewendet. Offenbar auf einem Weg, der unmittelbar vor ihr endet und
der beiderseits von großen Felsblöcken gesäumt wird, verharrt sie regungslos in
ihrer Betrachtung des aufstrahlenden Lichts. Jenseits des Weges erstreckt sich eine
Wiese, in die sich im Mittelgrund links Bäume und Sträucher, rechts ein Hügel
hineinschieben; dahinter staffeln sich zunächst ein Waldstreifen, der links
zwischen den Bäumen eine Kirche erkennen lässt, dann weitere Hügelketten, die
zuletzt von einem breiten Bergrücken überragt werden. Unsichtbar noch steht
hinter diesem fernsten Landschaftselement die Sonne, deren deutlich markierte
Strahlen über den gold-orangefarbenen, mehr als die Hälfte der Bildfläche
einnehmenden Himmel flammen. „Streng axial aufeinander bezogen sind die Frau
und das Gestirn, dessen Strahlen in der Bildfläche Haupt und Oberkörper der
Frau umgeben, sodass anschaulich außer Zweifel steht, dass deren schauende
Hinwendung und die gebreiteten Arme der Sonne gelten“ (Noll 2011, S. 282).
Spiegelsymmetrisch komponiert erscheint
aber auch die Landschaft insgesamt: von den Felsblöcken beiderseits des Weges im
Vordergrund über die auf gleicher Höhe platzierten Bäume, Sträucher und Hügel
im Mittelgrund bis zu den fernen, an der Mittelachse orientierten Höhenrücken,
alles in braun-dunkelgrünen Tönen gehalten. Die Symmetrie wird durch
Variationen und Unregelmäßigkeiten nur insoweit aufgelockert, dass nicht der
Eindruck von Starrheit und Leblosigkeit entsteht. Unübersehbar bleibt jedoch
das Zusammengefügte, Gebaute der Komposition, in deren Zentrum oder genauer:
leicht unterhalb des Zentrums die durch ihre Strahlen indirekt sichtbare Sonne
als formaler und inhaltlicher Mittelpunkt des Bildes zu denken ist.
In feierlichem Ernst und stiller
Hingabe steht die weibliche Gestalt vor der ruhig lagernden, in sanft
ondulierenden Horizontalen gestaffelten Landschaft. Die Armhaltung der Frau
kann als Orantengestus verstanden werden: Hier geht es offenbar um eine dem
Gebet vergleichbare religiöse Ausrichtung auf das strahlende Gestirn.
Umstritten ist allerdings, ob diese in der Natur sich entfaltende Religiosität
genauer bestimmt werden kann: Handelt es sich um einen Pantheismus, oder sind
einzelne Bildgegenstände wie etwa die Felsblöcke im Vordergrund, der abrupt endende
Weg oder die Kirche im Hintergrund sinnbildlich, und das heißt vor allem:
explizit christlich zu verstehen? Jörg Traeger sieht in Friedrichs Gemälde nicht das Verschmelzen oder Einswerden mit der Natur oder dem Universum dargestellt, sondern „die Sehnsucht nach dieser Verschmelzung bzw. nach diesem Einswerden“ (Traeger 1979, S. 108). Für eine christliche Deutung plädiert Helmut
Börsch-Supan: Die Frau habe, geleitet von ihrem festen Glauben (symbolisiert
durch die Felsblöcke), das Ziel ihres Lebensweges erreicht und wende sich an der
Schwelle zur Ewigkeit vertrauensvoll der vor ihr aufgehenden Gnadensonne Gottes
zu. Die Rückenfigur ist dabei ein Stellvertreter des Betrachters, den der
Künstler auf diese Weise auffordert, die gleiche innere Haltung wie die Frau
vor ihm einzunehmen. Dieselbe Funktion übernehmen auch andere Rückenfiguren in
Gemälden von Friedrich, so etwa im Wanderer
über dem Nebelmeer (Hamburg) oder in der Frau
am Fenster (Berlin).
Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818); Hamburg, Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken) |
Caspar David Friedrich: Frau am Fenster (1822), Berlin, Nationalgalerie (für die Großansicht einfach anklicken) |
Reinhard Zimmermann verweist wie schon Börsch-Supan auf die kompositorische Nähe des Essener Gemäldes zu Friedrichs berühmtem Tetschener Altar (siehe meinen Post „Der große Mittler“): Die Inszenierung der hinter einem Berggipfel stehenden Sonne mit ihren Strahlenbahnen entspreche sich weitgehend, und da Friedrich die Sonne des Tetschener Altars ausdrücklich als untergehende Sonne bezeichnet habe, „liegt es nahe, dies auch auf das Essener Bild zu übertragen“ (Zimmermann 2014, S. 28). Eine ganz ähnliche Bildstruktur erkennt Zimmermann auch in Friedrich Gemäldes Zwei Männer in Betrachtung des Mondes: ein Weg im Vordergrund, dann zwei Betrachterfiguren und wiederum eine Himmelserscheinung, nämlich der Mond mit dem Abendstern. Auch dieses Gemälde sei ein Indiz dafür, „dass es sich auf dem Essener Bild um einen Sonnenuntergang handelt; denn wenn eine prinzipielle Analogie besteht, dann müsste sie sich auch darauf beziehen, dass der Morgen erst noch bevorsteht, wie es auf dem Dresdner Bild der Fall ist“ (Zimmermann 2014, S. 28). Die untergehende Sonne sei einerseits als Todessymbol gemeint, zugleich aber auch Zeichen einer Jenseitsverheißung, weil auf die hereinbrechende Nacht des Todes der Tag der Auferstehung folge. Zimmermann kommt im Übrigen das Verdienst zu, in einer eigenen Studie die Forschungsgeschichte zu Friedrichs Folkwang-Gemälde minutiös zusammengefasst zu haben, insbesondere die hin und her wogenden Ansichten, ob denn nun eine auf- oder eine untergehenden Sonne dargestellt sei.
Caspar David Friedrich: Tetschener Altar (1807/08); Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden |
Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (um 1819); Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden |
Literaturhinweise
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David
Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987, S. 114;
Hermand, Jost: Caspar David Friedrichs
»Eiche im Schnee«
im Umkreis der Befreiungskriegsthematik. In: Ekkehard Mai (Hrsg.), Die Zukunft der Alten Meister. Perspektiven und Konzepte für das Kunstmuseum von heute. Böhlau Verlag, Köln 2001, S. 217-242;
Illies, Florian: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023;
Noll, Thomas: Die allegorische
Landschaft bei Caspar David Friedrich. Möglichkeiten und Grenzen der
Interpretation. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 72 (2011), S. 281-296;
Sugiyama, Akane: Wanderer unter
dem Regenbogen – die Rückenfigur Caspar David Friedrichs. Diss., Berlin 2009;
Traeger, Jörg: Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich. In: Hamburger Kunsthalle (Hrsg.), Runge. Fragen und Antworten. Ein Symposion der Hamburger Kunsthalle. Prestel-Verlag, München 1979, S. 96-114;
Wilks, Guntram: Das Motiv der Rückenfigur und dessen Bedeutungswandlungen in der deutschen und skandinavischen Malerei zwischen 1800 und der Mitte der 1940er Jahre. Diss., Greifswald 2004, S. 110-113;
Zimmermann, Reinhard: Caspar David Friedrich – Frau vor der untergehenden Sonne. Das Bild und seine Deutung. Edition Lioncel. Lindenberg 2014.
(zuletzt bearbeitet am 5. April 2024)