Mittwoch, 26. Oktober 2022

Ein Schöner will die Schönste – Antonio Canovas „Paris“-Skulptur in München

Antonio Canova: Paris (1816 vollendet); München, Neue Pinakothek
Paris, in der griechischen Mythologie Sohn des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe, wird von dem Götterboten Hermes auf den Berg Ida zu einem Schiedsspruch zwischen den Göttinnen Aphrodite, Athena und Hera gerufen. Er soll bestimmen, welche von ihnen die Schönste ist und als Zeichen seiner Wahl der Preisträgerin einen Apfel überreichen. Jede der drei Göttinnen macht ihm zuvor Versprechungen. Aphrodite verspricht ihm die schönste Frau der Welt, Helena, die Gattin des Menelaos, woraufhin sich Paris für sie entscheidet. Die Entführung Helenas durch Paris löste den Trojanischen Krieg aus, in dem Aphrodite die Trojaner unterstützt, während die im Wettstreit unterlegenen Hera und Athena zugunsten der vereinigten Griechen eingreifen.

Antonio Canova: Hebe (1796); Berlin, Alte Nationalgalerie
In München ist eine klassizistische Skulptur des Paris zu bewundern, die der italienische Bildhauer Antonio Canova (1757–1822) geschaffen hat. Das Gipsmodell der Figur entstand 1807, eine Marmorversion wurde von 1809 bis 1812 im Auftrag von Joséphine de Beauharnais ausgeführt, der ersten Ehefrau Napoléons. Sie befindet sich heute in der Eremitage (St. Petersburg). Kronprinz Ludwig von Bayern bestellte 1811 eine weitere Fassung des Paris. Ludwig hatte Canova 1805 auf seiner Reise nach Italien kennengelernt. Die Begegnung mit dessen Figur der Hebe (1796; Berlin, Alte Nationalgalerie) war für den jungen Kronprinzen ein Schlüsselerlebnis, weil sie in ihm die Begeisterung für die antike Kunst weckte. 1816 wurde der Paris schließlich vollendet; gemeinsam mit Bertel Thorvaldsens Adonis (siehe meinen Post „Ein König bestellt sich einen schönen jungen Mann“) flankierte sie seit 1830 den Eingang im „Saal der Neueren“ in der Münchner Glyptothek. Seit 1920 ist sie in der Neuen Pinakothek ausgestellt.

Erst in der Seitenansicht erkennt man den Apfel
Vor uns steht ein nackter junger Mann im Kontrapost: Der Fuß des linken Spielbeins ist zurückgestellt und berührt nur leicht die Plinthe. Den linken Arm hat Paris auf einen Baumstamm links neben ihm gestützt, den Unterarm angewinkelt und dabei die Hand an den Kopf geführt. Der ausgestreckte Zeigefinger ist mit sanftem Druck über dem linken Ohr angelegt. Paris trägt eine phrygische Mütze und hat seinen Kopf ganz ins Profil gedreht, wo die drei Göttinnen zu vemuten sind, die er mit nachdenklichem Blick mustert, bevor er im nächsten Moment seine Entscheidung treffen wird. In der rechten Hand, auf die Hüfte gestützt, hält Paris den Apfel. Seine Chlamys hat er auf dem Baumstamm links neben ihm abgelegt. Daran lehnt das das Pedum, ein Stab mit einer keulenartigen Verdickung, den Paris als Hirte und Jäger mit sich führt. Canovas Paris ist mehransichtig angelegt, denn der für das Verständnis der Figur wichtige Apfel ist in der Vorderansicht dem Betrachter verborgen und wird erst erkennbar, wenn man um sie herumgeht. Die Beinstellung mit dem zurückgesetzten linken Fuß gibt eines der Vorbilder Canovas zu erkennen: den berühmten Diadumenos des antiken Bildhauers Polyklet.

Polyklet: Diadumenos (röm. Marmorkopie); Madrid, Prado
Canova war in den Jahren nach 1800 der höchstgeschätzte und meistgefragte Bildhauer Europas. Ab den 1770er Jahren bis um 1820 schuf er ein Meisterwerk nach dem anderen und erhielt deswegen mehr Aufträge von hochgestellten Persönlichkeiten (insbesondere von Napoléon und dessen Familie), als er ausführen und vollenden konnte. Wie viele Zeitgenossen sah auch Ludwig I. in Canova wegen seiner virtuosen Bearbeitung des Marmors den Erneuerer der Skulptur und den einzigen Bildhauer, der mit den antiken Meistern auf einer Stufe stand. Sein Stil orientiert sich einerseits stark an der Antike, tendiert dabei jedoch zu großer Anmut und Eleganz; typisch ist auch eine sehr glatte, perfekte Oberflächenbearbeitung des Marmors. Er gilt als Bahnbrecher des klassizistischen Stils, seine Werke hatten einen großen Einfluss nicht nur auf andere Bildhauer, sondern auch auf die Malerei. In einem ähnlichen Stil arbeitete Bertel Thorvaldsen (1770–1844), ein Däne, der viele Jahre in Rom verbrachte und der sich in der künstlerischen Qualität als einziger mit Canovas Kunst messen konnte.

Bertel Thorvaldsen: Adonis (1808/1831); München, Neue Pinakothek
Antonio Canova: Amor und Psyche (1793); Paris, Louvre
Antonio Canova: Perseus (1800/01); Rom, Vatikanische Museen
Antonio Canova: Drei Grazien (1813/16); St. Petersburg, Eremitage
Canova schuf u.a. zwei bedeutende Papst-Grabmäler (für Clemens XIV., 1787 vollendet, und für Clemens XIII., 1792 vollendet); am bekanntesten ist aber sicherlich seine 1793 fertiggestellte Marmorgruppe Amor und Psyche (Paris, Louvre), die in der Darstellung jugendlicher nackter Körper Anmut und Sinnlichkeit verbindet. Weitere berühmte Werke Canovas sind sein Perseus (1800/01; Rom, Vatikanische Museen) sowie, wiederum im Auftrag von Joséphine de Beauharnais, die Drei Grazien (1816 vollendet, St. Petersburg, Eremitage).

 

Literaturhinweis

Bayerische Staatsgemäldesammlungen München (Hrsg.): Bayerische Staatsgemäldesammlungen. Neue Pinakothek. Katalog der Skulpturen – Band I: Die Sammlung Ludwigs I. Deutscher Kunstverlag, Berlin und München 2021, S. 58-68.