Rembrandt: Auferweckung des Lazarus (1632); Radierung, 3. Zustand (für die Großansicht einfach anklicken) |
In Rembrandts druckgrafischem Werk stellt die um 1632 entstandene Radierung Auferweckung des Lazarus aus mehreren Gründen einen Meilenstein dar. Sie weist das bis dahin größte Format auf (36,6 x 25,8 cm) und ist das früheste Beispiel einer bildhaft komponierten, sorgfältig durchgestalteten Komposition. Der hohe technische und künstlerische Anspruch dieses Blattes kommt auch in der dunklen, wie ein Bildrahmen wirkenden Umrandung zum Ausdruck. Den intensiven Arbeitsprozess dokumentieren insgesamt fünf Druckzustände.
Rembrandt: Auferweckung des Lazarus (1630/1631); Los Angeles, County Museum of Art |
1630/31 hatte Rembrandt ein Gemälde zum gleichen Thema ausgeführt. Es entstand am Ende seiner Leidener Jahre (1625–1631) in einem künstlerischen Wettstreit mit Jan Lievens (1607–1774). Die beiden jungen Künstler hatten 1625 in Leiden eine gemeinsame Werkstatt gegründet. Lievens malte 1631 ebenfalls einen Lazarus-Bild und schuf im Anschluss daran eine großformatige Radierung. Während Lievens aber in seiner Radierung die Komposition des Gemäldes in großen Zügen wiederholte, wich Rembrandt in seiner Druckgrafik erheblich von der gemalten Fassung ab.
Jan Lievens: Auferweckung des Lazarus (um 1631); Radierung |
Beide Künstler beziehen sich auf die im Johannes-Evangelium beschriebene Geschichte der Aufweckung des verstorbenen und vier Tage zuvor begrabenen Lazarus: „Jesus spricht: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich’s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.“ (Johannes 11,39-45; LUT)
Sowohl in seinem Gemälde wie in der Radierung gibt Rembrandt den Augenblick wieder, in dem der schon von beginnender Verwesung gezeichnete Tote sich zu erheben beginnt. Bei Lievens sind dagegen nur die aus dem Grab hochgereckten Hände sichtbar. Der größte Unterschied zwischen Gemälde und Grafik besteht in der Position des stehenden Christus. Im Gemälde platziert ihn Rembrandt in frontaler Stellung hinter dem geöffneten Grab, während er ihn in der Radierung sozusagen um 180 Grad dreht und die im Vordergrund stehende Rückenfigur nun hoch aufragend die Szene wie eine mächtige Skulptur beherrscht. Wie bei vielen Auferstehungsszenen steht Christus deutlich über unserem Blickpunkt auf einer Steinplatte, die den Sarkophag bedeckt hat. Die rechte Hand in die Seite gestemmt, wendet er sich mit der gebieterisch erhobenen Linken vom Betrachter ab und dem Verstorbenen zu, „dessen Oberkörper sich wie von unsichtbaren Fäden gezogen aus dem Grab erhebt“ (Bevers 2006, S. 60).
Mittelpunkt des Geschehens ist „die theatralische Verkettung der von Christus gesprochenen Worte mit dem sich vollziehenden Wunder“ (Schröder/Bisanz-Prakken 2004, S. 222), das wiederum die höchst emotionalen Reaktionen der umstehenden Männer und Frauen auslöst. Hell ausgeleuchtet werden das geöffnete Grab mit dem halb aufgerichteten Lazarus und die direkt daneben befindlichen Menschen, deren aufgerissene Münder und Augen und pathetisch ausgebreiteten Arme ihr Erstaunen und Entsetzen spiegeln. Dabei entsteht der Eindruck einer nicht lokalisierbaren Lichtquelle, fällt doch das Licht einerseits von rechts oben auf die Szene, während es andererseits so wirkt, als würde die Wand hinter Lazarus von sich aus strahlen. Die Szene gewinnt dadurch eine „Aura des Phantastischen“ (Seidlitz 1922, S. 125). Im Übergangsbereich von Licht und Dunkel befindet sich der plastisch herausgearbeitete Christus im verlorenen Profil; auch die Menschengruppe hinter ihm wird von diesem Helldunkel modelliert.
Das Geschehen wirkt beinahe wie eine Theaterinszenierung, denn über der Grabszene hat Rembrandt eine Draperie angebracht und Waffen aufgehängt. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, „als wäre das tiefliegende Grab lediglich ein von Vorhängen umfriedetes Himmelbett“ (Kayser 2017, S. 170). Damit würde Christi Aussage, dass Lazarus nur schlafe und er ihn aufwecken wolle (Johannes 11,11), sinnbildlich dargestellt. Jesu Erscheinung wiederum, die überlebensgroß alle anderen Personen überragt, verdeutlicht in ihrer Monumentalität den Triumph Christi über den Tod, womit seine Worte „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Johannes 11,25) inhaltlich zum zentralen Thema des Blattes werden.
Rembrandt: Auferweckung des Lazarus (1632); Radierung, 2. Zustand |
Bei der sich nach vorne beugenden Gestalt am rechten unteren Bildrand handelt es sich um Martha, die Schwester des Lazarus: Rembrandt hat sie in dieser Haltung erst im dritten Zustand angebracht; in den ersten beiden Zuständen der Radierung schreckt sie vor Lazarus zurück. „Nicht mehr in korrespondierender Gegenbewegung zu der zurückweichenden Gestik des Mannes hinter dem Grab sich zurückbeugend, bewegt sie sich nun als deutliche Schattensilhouette auf den auferstehenden Lazarus zu“ (Bevers 1991, S. 186). Eine weitere Überarbeitung traf den Mann mit den ausgestreckten Armen, der eine Kappe erhielt; die Schattenpartie der Mütze setzt einen deutlichen Akzent und schließt so die Figurengruppe gegen den hell gehaltenen Hintergrund ab. Gleichzeitig verlieh Rembrandt dem Gesicht Maria Magdalenas mehr Individualität: Zusammen mit ihrer Schwester Martha hatte sie Jesus zu Hilfe geholt – sie ist dem Auferweckten am nächsten, als das Wunder geschieht, und reißt ebenso erschrocken wie fassungslos ihre Arme in die Höhe. Schließlich hat Rembrandt außerdem die Männer hinter den beiden genannten Figuren überarbeitet.
Marcantonio Raimondi (nach Raffael): Predigt des Paulus (1510/1560); Kupferstich |
Als Anregung für die voluminöse Statuarik Christi wie für seine ebenso knappe wie eindrucksvolle Gestik wurde in der Forschung auf Marcantonio Raimondis Nachstich der Predigt des Paulus von Raffael hingewiesen. Aber auch die effektvolle Lichtregie der Utrechter Caravaggisten dürfte den jungen Künstler beeinflusst haben, wie der Einsatz des dramatischen Helldunkels in seinem Kupferstich belegt. 1645 hat sich Rembrandt dann das Lazarus-Thema noch einmal in einer weiteren Radierung umgesetzt.
Literaturhinweise
Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 185-187;
Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik. SMB DuMont, Köln und Berlin 2006, S. 60;
Kayser, Florian: Die Erweckung des Lazarus (großes Format), um 1632. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 170-171;
Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 130;
Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 222-223;
Seidlitz, Woldemar von: Die Radierungen Rembrandts. Mit einem kritischen Verzeichnis und Abbildung sämtlicher Radierungen. E. A. Seemann, Leipzig 1922;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
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