Michelangelo: Moses (Grabmal Papst Julius II.); Rom, San Pietro in Vincoli |
Der Kopf der Moses-Statue mit deutlich sichtbaren Hörnern |
Bei der Rückkehr zu den Israeliten befällt das Volk wegen seines strahlenden Hauptes Furcht. Als Moses die Israeliten zu sich befiehlt, verhüllen sich die Herantretenden die Augen, weil sie der helle Schein blendet. Wenn Moses in der Folgezeit mit dem Volk spricht, bedeckt er seinen Kopf mit einem Tuch, das er jedoch abnimmt, wenn Gott zu ihm redet (2. Mose 34,33-35). Aufgrund eines Übersetzungsfehlers der lateinischen Vulgata, „quod cornuta esset facies sua“, wurden aus dem strahlenden Antlitz zwei Hörner, denn das hebräische Wort „karan“ kann sowohl „Horn“ wie auch „Ausstrahlung“ oder „nimbusartiges Licht“ heißen.
Michelangelo zeigt Moses also nach seinem zweiten Abstieg, darauf verweisen die beiden Hörner – und zwar während oder kurz nach einer Unterredung mit Gott. Denn auf seinem rechten Bein liegt das Tuch, das Moses bei Ansprachen an das Volk vor das Gesicht und im Dialog mit Gott auf den Schoß legt. Franz-Joachim Verspohl geht davon aus, dass Michelangelo seinen Moses in dem Moment zeigt, als Gott ihm seinen nahenden Tod und damit die Versagung seines Lebenszieles verkündet. Dann entfernt sich Gott wieder; Moses blickt ihm nach, erschüttert darüber, das Gelobte Land nicht betreten zu dürfen (5. Mose 31,2).
Es sind vor allem die stark kontrahierten Muskeln über den Brauenbögen, die entsetzt blickenden Augen und die fest aufeinander gepressten Lippen mit den heruntergezogenen Mundwinkeln, in denen sich für Verspohl diese Gottesbegegnung spiegelt. Während Moses eben noch mit den Fingern in seinen eindrucksvollen Bartlocken spielte, den rechten Handballen auf die beiden geschlossenen Gesetzestafeln gestützt, hat er seinen Kopf jetzt zur Seite gedreht, sodass sich das Barthaar den Fingern entwindet. Die vernommene Botschaft, so die Deutung Verspohls, habe ihn aus seiner gelassenen Haltung aufgestört und den Griff der linken Hand zum Unterleib ausgelöst. Denn dort befinde sich nach damaligem Verständnis nicht nur der Sitz der Gefühle, sondern auch das Zentrum der vitalen Lebenskraft. Der Blick des Moses sei in eine unbestimmte Ferne und zugleich nach innen gerichtet. Trotz seiner eindrücklichen körperlichen Präsenz wirke er abwesend. Gott lasse Moses mit einer ihm geltenden unheilvollen Botschaft zurück, die seinen „Lebensnerv“ trifft.
Augenbrauen und Mundwinkel sprechen eine klare Sprache |
Sabine Poeschel hat dieser Sicht des Moses als Todgeweihtem deutlich widersprochen. Der gesamten Exodus-Generation (mit Ausnahme Kalebs und Josuas) durfte wegen ihres Ungehorsams gegen Gott nicht in das Gelobte Land einziehen. Moses selbst wurde aufgrund von Glaubensschwächen, die nicht näher ausgeführt werden, der Gang über den Jordan verweigert (5. Mose 20,12); Gott ließ ihn aber vor seinem Tod das Land Kanaan, in das Josua die Israeliten führte, vom Berg Nebo aus noch sehen (5. Mose 32,48-53). Dort starb Moses dann.
Die Androhung dieser Strafe darzustellen wäre für ein Papstdenkmal, so Poeschel, denkbar ungeeignet gewesen. „Dieses Konzept würde nämlich eine Parallele zwischen dem Propheten, den Gott nicht in das Gelobte Land gelangen lässt, und dem Papst, der nicht in den Himmel einzieht, implizieren. (...) Da der Tod des Moses aber direkt mit dem Ausschluß aus dem Gelobten Land verbunden ist, muß jede Anspielung darauf bei der Skulptur ausgeschlossen bleiben. Ein solcher Bezug kann an einem päpstlichen Grabmal auch nicht unterschwellig intendiert gewesen sein“ (Poeschel 2001, S. 62).
Der wesentliche Aspekt beim Verständnis des Moses sei hingegen, dass er im Gespräch mit Gott gezeigt ist, dessen Stimme er vernimmt: „ Der Herr aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2. Mose 33,11). Moses hat keine Furcht mehr vor Gott wie bei seiner Berufung, bei der er sein Gesicht verhüllte. In der unmittelbaren Gegenwärt des Höchsten hat der „Freund Gottes“ das Tuch von seinem Haupt genommen. „Der Gedanke der Nähe Gottes paßt zum Grabmal und zum Konzept des Nachlebens des verstorbenen Papstes, nicht aber die Todesahnung des Moses, den Gott für seine Glaubensschwäche straft“ (Poeschel 2001, S. 62).
Annette Weber wiederum ist der Ansicht, dass Michelangelos Skulptur die Kapitel 33 und 34 aus dem 2. Buch Mose zusammenfasst: Hier wird die Gotteschau beschrieben, die ausschließlich Moses gewährt wurde; kein Mensch ist Gott je näher gekommen. Moses begehrt, die Herrlichkeit Gottes zu sehen, und Gott antwortet ihm: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen“ (2. Mose 33,20-23; LUT).
Weber sieht in der Kopfdrehung des Moses genau diesen Moment veranschaulicht: „Moses wendet sein Haupt dezidiert zu seiner Linken, richtet es nach oben und blickt in äußerster Anspannung zutiefst aufgewühlt der gerade an ihm vorbeigezogenen Herrlichkeit Gottes in die Ferne nach“ (Weber 2009, S. 242). Die asymmetrisch angebrachten Hörner betonen, so Weber, diese Blickrichtung zusätzlich. „Dabei trägt Moses die gehorsam zuvor vorbereiteten Tafeln noch unter dem Arm und quasi weggesteckt, denn ihre Beschriftung wird erst nach der Gottesschau und dem Bundesschluss erfolgen. Ebenso wird das über das rechte Knie gefaltete Tuch erst nach der Rückkehr seinen Zweck erfüllen und im Wechsel von Ver- und Enthüllen zum eigentlichen Zeichen des beständigen Gottesumgangs“ (Weber 2009, S. 243). Bis 1816 befand sich die Sitzfigur des Moses, wie von Michelangelo geplant, tief in der Mittelnische des Wandgrabes. Weber sieht darin einen zusätzlichen Hinweis auf die in 2. Mose 33,22 erwähnte Felsspalte.
Das nenne ich einen gut definierten Oberarm |
Michelangelo: Der Prophet Jonas (1511); Rom, Sixtinische Kapelle |
Michelangelo: Der Prophet Jeremias (1511); Rom, Sixtinische Kapelle (für die Großansicht einfach anklicken) |
Raffael: Der Prophet Jesaja (1512); Rom, Sant’Agostino |
Michelangelo: Sterbender Sklave (1513-1516, Fragment); Paris, Louvre |
Michelangelo: Brutus (um 1546-48); Florenz, Museo Nazionale del Bargello |
Michelangelo: Grabmal des Giuliano de’ Medici (um 1526-1534); Florenz, San Lorenzo (für die Großansicht einfach anklicken) |
Michelangelo: Gottvater erschafft die Gestirne (1511); Rom, Sixtinische Kapelle |
Donatello: Johannes der Evangelist (1408-15); Florenz, Opera del Duomo (für die Großansicht einfach anklicken) |
Apollonios: Torso vom Belvedere; Rom, Vatikanische Museen |
Laokoon-Gruppe; Rom, Vatikanische Museen |
Michelangelo: Grabmal für Julius II. (1505-1545); Rom, San Pietro in Vincoli |
Valentin de Boulogne: Moses (um 1628); Wien, Kunsthistorisches Museum |
Anders als sein skulpturales Vorbild ist
Valentins Moses mit einer lacerna bekleidet, einem auf der rechten
Schulter mit einer Brosche gehaltenen Mantel, der in der Antike auch
von Feldherren und Kaisern getragen wurde. Als „Korrektur“
an Michelangelo ist der Nimbus seiner Figur zu versehen: Wie
oben ausgeführt, hatte sich Michelangelo bei seiner Darstellung an den Text
der Vulgata gehalten, in der von einem gehörnten statt von einem
strahlenden Antlitz die Rede ist. Valentin präsentiert Moses nun mit
einem Lichtphänomen hinter seinem Haupt, dass aber immer noch an
Hörner und speziell an die Hörner von Michelangelos Figur erinnert.
Armour, Peter: Michelangelo’s Moses: A Text in Stone. In: Italien Studies 48 (1993), S. 18-43;
Blum, Gerd: Zur Rezeptionsgeschichte von Michelangelos Moses:
Vasari, Nietzsche, Freud, Thomas Mann. In: Zeitschrift für Ästhetik und
allgemeine Kunstwissenschaft 53 (2008), S. 73-106;
Blum, Gerd: „In foramine petrae.“ Michelangelos wörtliche Auslegung der Vulgata und die Hörner seines Moses in San Pietro in Vincoli. In: Vulgata in Dialogue 4 (2020), S. 45-78;Bredekamp, Horst: Michelangelo. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, S. 294-305 und 578-579;
Echinger-Maurach, Claudia: Michelangelos Grabmal für Papst Julius II. Hirmer Verlag, München 2009, S. 101-113;
Frommel, Christoph Luitpold: Das Grabmal Julius’ II.: Planung, Rekonstruktion und Deutung. In: Christoph Luitpold Frommel, Michelangelo – Marmor und Geist. Das Grabmal Papst Julius’ II. und seine Statuen. Schnell und Steiner, Regensburg 2014, S. 19-70;
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Myssok,
Johannes: Monolith und weiß. Die Oberflächen von Michelangelos
Skulpturen. In: Magdalena Bushart/Andreas Huth (Hrsg.), superficies.
Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher
Neuzeit. Böhlau Verlag, Wien/Köln 2022, S. 57-74;
Poeschel, Sabine: Moses und die Frauen des Jakob. Das Konzept des Julius-Grabes von 1545. In: Sabine Poeschel u.a. (Hrsg.), Heilige und profane Bilder. Kunsthistorische Beiträge aus Anlass des 65. Geburtstages von Herwarth Röttgen. VDG, Weimar 2001, S. 55-78;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2. Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 99-100;
Satzinger, Georg: Michelangelos Grabmal Julius’ II. in S. Pietro in Vincoli. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 64 (2001), S. 177-222;
Swoboda, Gudrun (Hrsg.): Idole & Rivalen. Künstlerischer Wettstreit in Antike und Früher Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2022, S. 134-135;
Poeschel, Sabine: Moses und die Frauen des Jakob. Das Konzept des Julius-Grabes von 1545. In: Sabine Poeschel u.a. (Hrsg.), Heilige und profane Bilder. Kunsthistorische Beiträge aus Anlass des 65. Geburtstages von Herwarth Röttgen. VDG, Weimar 2001, S. 55-78;
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Verspohl, Franz-Joachim: Der Moses des Michelangelo. In: Städel-Jahrbuch 13 (1991), S. 155-176;
Verspohl, Franz-Joachim: Der „Torso“ des Apollonios und der „Moses“ des Michelangelo – Von der Genauigkeit des Künstlers. In: Daidalos 59 (1996), S. 92-97;
Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Julius II. Moses – Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker. Wallstein Verlag, Göttingen 2004;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Weber, Annette: Michelangelos Sitzstatue des Moses und ihre Ikonographie im Vergleich zu biblischen Quellen. Fragen zur Textumsetzung. In: Trumah 18 (2008), S. 238-250;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007, S. 421;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 18. August 2024)
Verspohl, Franz-Joachim: Der „Torso“ des Apollonios und der „Moses“ des Michelangelo – Von der Genauigkeit des Künstlers. In: Daidalos 59 (1996), S. 92-97;
Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Julius II. Moses – Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker. Wallstein Verlag, Göttingen 2004;
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LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 18. August 2024)
Antonello, noch nicht genesen
Zum Stendhal-Syndrom
„Ich befand mich schon bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase. Ich war in die Betrachtung edelster Schönheit versunken, die ich ganz dicht vor mir sah und gleichsam berühren konnte. Meine Erregung war an dem Punkt angelangt, wo sich die himmlischen Gefühle, die uns die Kunst einflößt, mit den menschlichen Leidenschaften vereinen. Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“
Stendhal (Florenz, 22. Januar 1817)
(aus: Stendhal, Rom, Neapel und Florenz. Rütten & Loening, Berlin
1985, S. S. 229/230)
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