Caravaggio: Der ungläubige Thomas (um 1600); Potsdam, Bildergalerie von Schloss Sansscouci (für die Großansicht einfach anklicken) |
Caravaggio präsentiert die vier Männer als nah gesehene Halbfiguren, in einer streng symmetrischen, zu einem Halbkreis gefügten Komposition mit klarer Mittelachse. Christus nimmt die linke Bildhälfte ein. Sein dunkel gelockter Kopf und sein Hals sind stark vorgebeugt, Antlitz und die darunter liegende Brustpartie werden durch diese Haltung verschattet; die Wange ist gerötet, der Mund leicht geöffnet. Thomas und zwei andere Apostel drängen von rechts heran, sodass sein Kopf und der Schädel eines zweiten Jüngers die Mittelachse des Bildes betonen. Christus selbst führt dem Zweifler die Hand, mit dem ausgestreckten Zeigefinger bohrt er geradezu in der Seitenwunde, als könne tatsächlich nur der Tastsinn letzte Gewissheit vermitteln. Angespannt ist die Aufmerksamkeit der vier Männer auf diesen Vorgang gerichtet, „bei dem es sich fast um eine naturwissenschaftliche oder medizinische Untersuchung zu handeln scheint“ (Held 2007, S. 63).
Alles ist auf die Seitenwunde konzentriert, alles Überflüssige weggelassen. Das Licht fällt auf den sein Grabtuch wie eine Toga tragenden Christus und auf die Hand, mit der er Thomas geradezu zur Berührung nötigt. Glenn W. Most sieht in Jesu linker Hand das eigentliche „Energiezentrum des Bildes“: sie hat Thomas’ Rechte am Gelenk gepackt „und hält sie mit männlich, ja übermenschlich kräftigem Griff, der in scharfem Kontrast zu Jesu zarter Konstitution steht“ (Most 2007, S. 209). Behutsam zieht Christus sein Gewand zur Seite; sein Mund deutet an, dass die Berührung der Wunde schmerzt. Denn Thomas’ Finger scheint dort langsam immer tiefer einzudringen. Dabei bildet wiederum seine sonnenverbrannte, derbe Hand mit dem schmutzigen, schwarzgeränderten Daumennagel einen deutlichen Kontrast zur weichen, hellen Haut des Auferstandenen. Das ist so naturalistisch geschildert, dass sich die Haut oberhalb des in die Seitenwunde eindringenden Fingers faltig aufwirft.
Die Geste des Handführens ist nicht Caravaggios Erfindung; bereits Dürer hatte sie im themengleichen Holzschnitt seiner Kleinen Passion von 1511 eingeführt. Allerdings ist Christus dort eindeutig als der Auferstandene dargestellt: Das Haupt von einem Strahlenkranz hinterfangen, mit einem athletischen Idealkörper versehen und in den Bildmittelpunkt gerückt, erscheint Christus vor seinen Jüngern. Caravaggio hingegen vermeidet alle Anzeichen von Göttlichkeit – so fehlt z. B. der Segensgestus, den wir auf Dürers Holzschnitt sehen und der auch die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio kennzeichnet (Florenz, Orsanmichele; siehe meinen Post „Reiche deinen Finger her!“).
Albrecht Dürer: Der ungläubige Thomas; Holzschnitt aus der Kleinen Passion (1511) |
Andrea del Verrocchio: Der ungläubige Thomas (um 1470-1479); Florenz, Orsanmichele |
Thomas ist von Staunen überwältigt. Die Furchen auf seiner Stirn sind so tief eingeschnitten und durch Licht-Schatten-Kontraste so stark betont, dass sie nach Jesu Seitenwunde das markanteste Stück Haut auf dem ganzen Gemälde bilden. Sie zeigen, dass Thomas die Augen so weit aufgerissen und die Brauen so weit hochgezogen hat, wie es überhaupt nur geht. „Thomas himself strains forward with wide open eyes as if to look as closely as possible at what he himself is doing and feeling, as if he cannot quite believe the witness of his sense of touch without the further confirmation of sight“ (Fried 2010, S. 84). Vor allem aber verdeutlichen die Stirnfalten die Anstrengung, das Auferstehungswunder zu begreifen.
Im Gegensatz dazu haben die beiden anderen Jünger die Augenbrauen zur Nasenwurzel hin zusammen- und nach unten gezogen. Sie wirken beinahe wie gewissenhafte empirische Forscher, die sich einem ungewöhnlichen Phänomen gegenübersehen; sie wollen sicher sein, dass ihnen auch nicht die kleinste Einzelheit entgeht. „Mit gutem Grund hat Caravaggio alle Einzelheiten ihrer Gestalt, die nicht direkt mit ihrer Sehtätigkeit zusammenhängen, im dunkeln gelassen: ihr Wesen erschöpft sich im Sehen. Sie sind Beobachter und Zeugen, stehen kraft ihres Sehvermögens für die Wahrheit des Wunders ein, während Thomas mit dem Tastsinn an dem Wunder teilhat“ (Most 2007, S. 246).
Es ist das zweifache Eindringen von Zeigefinger und Blick in die Wunde Jesu, das die Berührung des Thomas so schockierend eindrücklich macht |
Mieke Bal hat in ihrer Deutung von Caravaggios Ungläubigem Thomas allerdings auch auf die homosexuelle Dimension des Bildes hingewiesen: Sie ergibt sich durch das frappierende Motiv der Penetrierung, das noch verstärkt wird, indem Christus das Handgelenk von Thomas ergreift, um ihn anzuleiten. Leicht zu übersehen und deswegen verdeckt anstößig ist der freigelegte rechte Oberschenkel Jesu: „Der Betrachter wird quasi auf den zweiten Blick, die Draperie des Stoffes auf dem Körper Christi nachvollziehend, unerwartet die Möglichkeit der Nacktheit seines uns verborgenen Gesäßes realisieren“ (Suthor 2002, S. 271). Auch der Altersunterschied zwischen Jesus und den deutlich älteren Jüngern trägt nach Mieke Bal zur homosexuellen Spannung des Gemäldes bei: Ihre stierende Blicke seien unmissverständlich auf den Körper Jesu als Objekt des Begehrens fixiert. So weit möchte ich dann aber doch nicht gehen: Auch wenn die Szene latent sexualisiert ist, kann ich ein Begehren im Balschen Sinne bei den Jüngern nicht entdecken.
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599); Kriegsverlust |
Caravaggio: Christus am Ölberg (um 1605), Kriegsverlust; für den Petrus hier im Vordergrund und den hinteren Apostel im Ungläubigen Thomas hat Caravaggio offensichtlich das gleiche Modell eingesetzt |
Caravaggio: Brustbildnis einer jungen Frau (um 1601); Kriegsverlust |
Hendrik ter Brugghen: Der ungläubige Thomas (um 1622); Amsterdam, Rijksmuseum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Matthias Stomer: Der ungläubige Thomas (um 1641/49); Museo del Prado, Madrid (für die Großansicht einfach anklicken) |
Mattia Preti: Der ungläubige Thomas (um 1656/60); Wien, Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Lo Spadarino: Christus zeigt seine Wunden (um 1625/35); Perth/Schottland, Perth Museum |
Literaturhinweise
Bal, Mieke: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History. University of Chicago 1999, S. 32 ff.;
Benay, Erin E.: Touching is Believing: Caravagio’s Doubting Thomas in Counter-Reformatory Rome. In: Lorenzo Pericolo/David M. Stone (Hrsg.), Caravaggio. Reflections and Refractions. Ashgate, Burlington 2014, S. 59-82;
Bicker, Jonathan: Hendrick ter Brugghen, Der ungläubige Thomas. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 161;
Ebert-Schifferer, Sybille:
Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Fried, Michael: The Moment of Caravaggio. Princeton
University Press, Princeton and Oxford 2010, S. 83-86;
Harten, Jürgen: Bei Caravaggio. Die
Annäherung des im Bild Erblickten an den Betrachter. In: Nike Bätzner (Hrsg.),
Die Aktualität des Barock. Diaphanes, Zürich/Berlin 2014, S. 23-41;
Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007
(zweite Auflage);
Hurttig,
Marcus
Andrew: Caravaggios Ungläubiger Thomas. Eine ikonographische Untersuchung.
Verlag Valentin Koerner, Baden-Baden 2014;
Koos, Marianne: Kunst und
Berührung. Materialität versus Imagination in Caravaggios Gemälde des
„Ungläubigem Thomas“. In: Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Passion, Affekt und
Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Band 2. Harrossowitz Verlag, Wiesbaden
2005, S. 1135-1151;
Koos, Marianne: Haut als mediale Metapher
in der Malerei von Caravaggio. In: Daniela Bohde/Mechthild Fend (Hrsg.), Weder
Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. Gebr. Mann Verlag,
Berlin 2007, S. 65-85;
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des
Unsichtbaren. Ästhetische Illusionen in der Kunst der frühen Neuzeit in
Italien. Wilhelm Fink Verlag. München 2001, S. 259-261;
Krüger, Klaus: Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in Caravaggios Frühwerk. In: Jürgen Harten und Jean-Hubert Martin (Hrsg.), Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 24-35;
Most,
Glenn W.: Der Finger in der Wunde. Die Geschichte des ungläubigen Thomas. C.H. Beck, München 2007, S. 201-258;
Özel, Çiğdem: Mattia Preti, Der ungläubige Thomas. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio
& Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 163;
Pericolo, Lorenzo: Painting and Meta-Narrative in Caravaggio’s The Incredulity of Saint Thomas and The Martyrdome of Saint Ursula. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 447-479;
Pichler, Wolfram: Die Evidenz und ihr Doppel. Über Spielräume des Sehens bei Caravaggio. In: Vera Beyer u.a. (Hrsg.), Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, S. 126-156;
Squarzina, Silva Danesi (Hrsg.): Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie. Mailand 2001;
Suthor, Nicola: Bad touch? Zum
Körpereinsatz in Michelangelos/Pontormos ›Noli me tangere‹ und Caravaggios
›Ungläubigem Thomas‹. In: Valeska von Rosen u.a. (Hrsg.): Der stumme Diskurs
der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit.
Deutscher Kunstverlag, Berlin 2003, S. 261-281;
LUT
=
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche
Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt
bearbeitet am 1. Dezember 2024)
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