Samstag, 29. Juni 2024

Was zählt, sind die Taten der Liebe – Caravaggios „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ in Neapel

Caravaggio: Sieben Werke der Barmherzigkeit (1606);
Neapel, Pio Monte della Misericordia
(für die Großansicht einfach anklicken)

Am 28. Mai 1606 tötet der italienische Barockmaler Caravaggio (1571–1610) bei einer bewaffneten Auseinandersetzung in Rom einen seiner Kontrahenten namens Ranuccio Tomassoni. Der Künstler flieht, um seiner Bestrafung zu entgehen, auf die Güter Don Marzio Colonnas (dies wegen bestehender älterer Verbindungen: Caravaggios Vater Fermo Merisi hatte einem Zweig der Familie gedient). Anfang Oktober trifft Caravaggio dann in Neapel ein, der damals größten Stadt Italiens. Das erste Bild, das er dort malt, ist ein großformatiges Altargemälde, für das sich die Bezeichnung Sieben Werke der Barmherzigkeit eingebürgert hat. Auftraggeber war die 1602 gegründete Stiftung des Pio Monte della Misericordia, die sich noch heute karitativen Aufgaben widmet. Deren Kirche war Ende 1606 fertiggestellt worden, und für sie wurde das Altarbild bei Caravaggio bestellt.

Die sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit sind zunächst sechs: „den Hungrigen zu essen geben“, „den Durstigen zu trinken geben“, „die Nackten bekleiden“, „die Fremden aufnehmen“, „die Kranken besuchen“, „die Gefangenen trösten“. Im Spätmittelalter kam als siebtes „die Toten begraben“ hinzu. Grundlage sind die Worte Jesu aus Matthäus 25,31-45 (LUT):

 

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.

 

Das Matthäus-Evangelium verbindet die Ausübung der leiblichen Barmherzigkeit mit dem Jüngsten Gericht – das wiederum eng mit dem katholischen Dogma vom Fegefeuer verknüpft war. „Der gegenreformatorischen Rechtfertigungslehre nach konnte der Gläubige diesem nur durch tätige Nächstenliebe entgehen, dadurch aber auch helfen, die Qualen bereits verstorbener Seelen zu verkürzen“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 202). Hierbei half die Fürsprache der Gottesmutter als Madonna della Misericordia, der die neu erbaute Kirche geweiht war. Denn Maria konnte seit dem Mittelalter als barmherzige Gegenmacht zu dem richtenden Christus oder dem strafenden Gottvater auftreten.

Im oberen Teil des Gemäldes sind entsprechend Maria und das Jesuskind in Halbfigur dargestellt, Maria im Hintergrund und im Dreiviertelprofil. „Durch den Kunstgriff abrupter perspektivischer Verkleinerung erscheint der Kopf des Christuskindes größer und ungleich prominenter als der seiner Mutter“ (Preimesberger 2009, S. 78). Beide blicken herab, doch Caravaggio hat offensichtlich die barmherzige Anteilnahme und Zuwendung von Maria auf den kindlichen Jesus übertragen: Mit ihrer linken Hand umfasst Maria die Schulter ihres Sohnes – und betont durch diese Geste dessen intensives Zurück- und Herabblicken und damit seine besondere Anteilnahme am irdischen Geschehen. Getragen werden Mutter und Kind von zwei geflügelten Engeln, die, einander umarmend, in einer dynamisch rotierenden Bewegung in den Bildraum hineinfahren.

Das fast vier Meter hohe Altargemälde in situ

Alle sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit werden im unteren Teil des Gemäldes präsentiert; sie sind in vier Handlungen zusammengefasst, die Caravaggio in die nächtlichen Gassen Neapels verlegt hat. Die Nackten bekleiden und die Kranken besuchen: Ein vornehmer junger Mann im linken Vordergrund, bekleidet mit Mantel, Degen, Federhut und Handschuhen, ist zwei Gestalten zu seinen Füßen zugewandt. Er hat den Degen gezückt und teilt seinen Mantel mit einem der am Boden kauernden Männer – eine deutliche Anspielung auf die St.-Martins-Legende. Die Rückenfigur des nackten Bedürftigen, der den Mantel ergriffen hat, ist von einer antiken Skulptur abgeleitet, nämlich dem berühmten Sterbenden Gallier. Links neben ihr erkennt man im Dunkel eine zweite Gestalt mit gefalteten Händen, zwischen deren Beinen eine Krücke sichtbar ist. Auch ihm, dem Kranken, wendet sich der Jüngling zu, der damit zugleich zwei Werke der leiblichen Barmherzigkeit übt. Direkt hinter dem jungen Mann mit dem Federhut steht eine weitere, fast vollständig verdeckte Figur, deren linkes Ohr im Dunkel aufscheint.

Sterbender Gallier, röm. Marmorkopie eines hell. Bronzeoriginals; Rom, Musei Capitolini

Am linken Bildrand wird ein Pilger, erkennbar an der an seinem Hut befestigten Jakobsmuschel und einem Pilgerstab, von einem korpulenten Gastwirt aufgenommen; hinter dem Wirt ist die alttestamentliche Figur des Simson abgebildet, der aus der Eselskinnbacke trinkt (Richter 15,15-19). Die Szene steht für das Aufnehmen der Fremden und das Tränken der Durstigen. Ein Toter wird mit den Füßen voran um die Ecke getragen. Der Priester im Rochett, das Birett auf dem Kopf, die Doppelkerze in der Rechten, singt und macht „aus dem stummen ein lautes Bild“ (Preimesberger 2005, S. 79). Das Werk der leiblichen Barmherzigkeit selbst vollbringt jedoch ein Laie, dessen Gefährte unsichtbar bleibt. Die Figurengruppe auf der rechten Seite des Gemäldes veranschaulicht in einer einzigen Handlung nicht weniger als drei Werke der leiblichen Barmherzigkeit: „den Hungrigen zu essen geben“, „den Durstigen zu trinken geben“ und „die Gefangenen besuchen“. Dabei greift Caravaggio auf eine berühmte Erzählung aus der heidnischen Antike zurück: Pero, die Tochter des zum Hungertod im Kerker verurteilten Athener Bürgers Cimon, besucht ihren greisen Vater im Gefängnis und nährt ihn, von den Wächtern unbemerkt, wie ein Kind an der eigenen Brust. Damit rettet sie ihm nicht nur das Leben, sondern erwirkt dem alten Mann auch Begnadigung und Freiheit.

Die nackte Brust ist für ein Altargemälde durchaus gewagt
Michelangelo: Bekehrung des Paulus (1542-1545); Rom, Cappella Paolina

Auffallend ist der linke niederstürzende Engel mit seiner pathetischen Gebärde: Als einzige der vier überirdischen Gestalten betrachtet sie nicht nur, sondern zeigt eine heftige Reaktion. Sie gilt der rechten unteren Ecke des Bildes. Ihr ist der Engel zugewendet; sein dorthin gerichteter Blick, die schräg nach rechts führende Achse, die dieser Blick durch das Gemälde legt, und die ausfahrende Geste beider Arme lenken auch den Blick des Betrachters auf die junge Frau, die dem eingekerkerten Alten ihre Brust reicht. Die extrem verkürzte Figur des Engels hat ein bedeutendes Vorbild: Sie ist von Michelangelos herbeifliegendem Christus in der Bekehrung des Paulus in der Cappella Paolina im Vatikan abgeleitet (siehe meinen Post „Michelangelos letzte Fresken“). Physiognomie und Lockenpracht sind allerdings Caravaggios Engel aus seinem Matthäus-Gemälde in der römischen Contarelli-Kapelle verwandt, das 1602 entstanden ist (siehe meinen Post Matthäus, der Analphabet“).

Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602), Rom, San Luigi dei Francesi

Caravaggio hat das Engelspaar differenziert in einen muskulösen, männlich-aktiven und einen androgyn wirkenden Engel, der ihn umschlingt. Dessen Blick ist zur linken Hälfte des Gemäldes gerichtet. Er sieht, wie der Nackte bekleidet und die Fremden aufgenommen werden. Er reagiert nicht heftig, sondern sieht ruhig herab. Jutta Held vermutet, dass das Jesuskind zunächst ebenfalls einen Engel darstellen sollte und Caravaggio die Madonna auf Wunsch seiner Auftraggeber hinzufügte. Denn Maria wird von den Figuren der unteren Sphäre nicht wahrgenommen, niemand blickt zu ihr auf. „Es fehlt die unterwürfige Religiosität, die wenig später die hochbarocken Bilder demonstrieren werden, auf denen die irdischen Personen mit Gesten der Unterwerfung und des Gehorsams emporblickend auf den Anruf einer Himmelsmacht reagierten“ (Held 2006, S. 165/166).

Held vor allem hat auf einige Inkonsequenzen in Caravaggios Bilderfindung hingewiesen: Dem biblischen Simson werde nicht durch menschliche Nächstenliebe geholfen, sondern durch ein Wunder, und für den Kranken am Boden sei keine Hilfe in Sicht. „Es fehlt bei diesen beiden Beispielen das deutliche exemplum virtutis und beim Samson darüber hinaus der klare moralische Appell, der beispielsweise bei der Totenbestattung oder der Kleidung des Frierenden gegeben ist“ (Held 2006, S. 163). Außerdem seien die kleinen Szenen in der unteren Bildhälfte in einer fast raumlosen Komposition zusammengepfercht, ohne jedoch Bezug aufeinander zu nehmen. „Die einzelnen Gestalten bedrängen und verunklären einander gegenseitig“ (Held 2006, S. 164). Der Handlungsradius einer jeden Person ist gering bemessen und werde durch den einer benachbarten Gestalt regelrecht durchkreuzt; die korrekte Zuordnung der Beine und Arme stelle fast schon die Lösung eines Puzzles dar.

Himmliche Anteilnahme am irdischen Geschehen

Caravaggio hat mit diesem fast vier Meter hohen Altarbild (390 x 260 cm) eine vielfigurige, zentrumsfreie Komposition ohne dominanten narrativen Fokus geschaffen. Es wundert daher nicht, dass später zwar einzelne Motive seines Gemäldes nachgeahmt wurden, nicht aber die Komposition in ihrer Ganzheit. Es ist die Madonna mit ihrem Sohn, durch die die verschiedenen Figurengruppen gedanklich zusammengeschlossen werden. Und es ist die Umarmung der beiden Engel, die darauf verweist, was Mutter und Kind bewegt: die alles umfassende Liebe.

 

Literaturhinweise

Bologna, Ferdinando: Caravaggio, the final years (1606-1610). In: Silvia Cassani/Maria Sapio (Hrsg.): Caravaggio. The Final Years. Electa Napoli, Neapel 2005, S. 16-47;

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 201-202;

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio in Neapel. Kurz Zeit, große Wirkung. In: Peter Forster u.a. (Hrsg.), Caravaggios Erben. Barock in Neapel. Hirmer Verlag, München 2016, S. 49-65;

Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 162-166;

Preimesberger, Rudolf. Textfaszination. Caravaggio liest Valerius Maximus. In: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 11 (2009), S. 75-87;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 186-193

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


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