Tilman Riemenschneider: Jakobus d.Ä. (um 1505); München, Bayerisches Nationalmuseum |
Sie vielen Jahrhunderten gilt dem Apostel Jakobus d.Ä. eine besondere Verehrung. Unter König Herodes Agrippa enthauptet (Apostelgeschichte 12,1-2), soll sein Leichnam der Legende ins spanische Galizien überführt und dort beigesetzt worden sein. Dann geriet das Grab in Vergessenheit. Nach seiner Wiederentdeckung im 9. Jahrhundert wurde darüber eine Kapelle, später eine Kirche und schließlich die Kathedrale errichtet, um die herum sich der Pilgerort Santiago de Compostela entwickelte. Die Wallfahrt zu diesem Grab entwickelte sich im 11. und 12. Jahrhundert zu einer der größten Pilgertraditionen des christlichen Westens. In diesem Zusammenhang änderte sich auch die bildnerische Wiedergabe des Apostels. Als Patron der Pilger verehrt, wurde er nun selbst als Pilger präsentiert; breitkrempiger Hut und Pilgerstab, Tasche und Pilgerflasche zeichnen in nun auf zahllosen Darstellungen aus. Außerdem erhält er postum eine an Hut, Tasche oder Mantel befestigte Kammmuschel als Erkennungszeichen. Aufgrund dieses Attributes wurde die „Jakobsmuschel“ bereits im Mittelalter zum Symbol der Santiago-Pilger.
Von Tilman Riemenschneider (1460–1531) haben sich zwei Jakobus-Darstellungen aus Lindenholz erhalten (gemeint ist im Folgenden immer Jakobus d.Ä.). Die eine befindet sich heute im Bayerischen Nationalmuseum München und die andere im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart. Beide Figuren gehen in ihrer Gewand- und Kopfgestaltung auf Steinskulpturen aus dem zwischen 1500 und 1506 in der Werkstatt Riemenschneiders entstandenen Apostelzyklus für die Würzburger Marienkapelle zurück und werden etwa zeitgleich um 1505 entstanden sein.Auf beschwerlicher Wanderschaft: Frontalansicht der Münchner Jakobus-Figur |
Die 148 cm hohe Jakobsfigur aus München ist rückseitig ausgehöhlt und war ursprünglich gefasst. Der ältere bärtige Apostel mit schulterlangem Haar und Pilgerhut auf dem Kopf hat seinen rechten Fuß leicht nach vorn gesetzt. Locker liegt sein Umhang über den Schultern, wird von seiner rechten Hand, die den heute nur noch im mittleren Teil erhaltenen Pilgerstab hält, vor dem Körper fixiert, während die Linke den schweren Stoff über die linke Schulter zieht. Durch diese Gewandführung schließen sich Gesicht, Hände und Oberkörper einerseits optisch zu einem Oval zusammen, andererseits gibt der Umhang in weiten Teilen den Blick frei auf das in der Taille gegürtete Pilgergewand, die Pilgertasche mit Umhängeriemen und die nackten Füße.
Riemenschneiders Darstellung wirkt wie eine Momentaufnahme: Mit seinem vorgesetzten rechten Fuß scheint der Pilger nur kurz im Gehen innezuhalten, seinen Umhang vor dem Herunterrutschen zu sichern und Luft holen zu wollen, bevor er seine beschwerliche Wanderschaft fortsetzt. Zum Durchatmen hat er den Mund leicht geöffnet. Die deutlich vortretenden Jochbögen und die zusammengezogenen Brauen geben dem Gesicht einen asketischen und ermüdeten Ausdruck.
Da die halbrund gearbeitete Figur auch einen schrägen Blick auf ihre Seiten zulässt, sich weder zur rechten noch zur linken Seite neigt und frontal ausgerichtet ist, kann man bei ihr eine Aufstellung als Einzelwerk vermuten. Solche separaten Jakobusdarstellungen wurden als Andachtsbilder an jenen Orten aufgestellt, an denen Pilger auf ihrem Wallfahrtsweg rasteten, also vornehmlich an Kirchen und Spitälern.
Tilman Riemenschneider: Jakobus d.Ä. (um 1500/1506); Würzburg, Museum für Franken |
Tilman Riemenschneider: Jakobus d.J. (um 1500/1506); Würzburg, Museum für Franken |
Die Münchner Jakobsfigur findet im Werk Riemenschneiders Parallelen in zwei überlebensgroßen Apostelfiguren aus der Würzburger Marienkapelle. Alle vierzehn Skulpturen der Folge sind aufgrund ihres sehr hohen und beengten Aufstellungsortes in den Nischen der Strebepfeiler recht flach und auf Untersicht gearbeitet. Der Kopf des Würzburger Jakobus weist mit seinen ebenfalls asketischen Gesichtszügen, den betonten Jochbögen und eingefallenen Wangen große Ähnlichkeiten mit dem Antlitz des Münchner Jakobus auf. Bei beiden ist das Haupt leicht nach links geneigt, Haar- und Barttracht sowie die ausgeprägten Augen- und Stirnfalten stimmen weitgehend überein. Allerdings stimmt die Gesamtanlage der Münchner Figur nicht mit der des Würzburger Jakobus überein. Sie folgt vielmehr der des dortigen Jakobus d.J., einer im Gesicht jugendlichen Gestalt, die ihren rechten Fuß vorgesetzt hat, mit der Linken den Umhang über die Schulter zieht, den sie auf der anderen Seite mit der rechten, auf einen Walkerbaum gestützten Hand vor den Körper legt.
Tilman Riemenschneider: Jakobus d.Ä. (um 1505); Stuttgart, Landesmuseum Württemberg; Bildnachweis: Landesmuseum Württemberg, Bildarchiv |
Auch die Stuttgarter Jakobusfigur hat den Apostelzyklus der Würzburger Marienkapelle zum Vorbild. Sie ist 121,6 cm hoch, 40 cm breit und 14 cm tief, ebenfalls rückwärtig ausgehöhlt und ursprünglich gefasst. Der Pilgerhut, die unter dem rechten Arm sichtbare Pilgertasche, die nackten Füße und der heute mit der linken Hand verlorene Pilgerstab weisen das Bildwerk eindeutig als Jakobus aus. „Nicht nur auf Grund ihres geringeren Formates wirkt die Stuttgarter Skulptur gegenüber der Münchner Jakobus-Darstellung graziler und bewegter, denn ihr fehlt der geschlossene, in sich ruhende, monumentale Gesamteindruck, der für die Münchner Figur so charakteristisch ist“ (Lichte 2006, S. 58).
Der Stuttgarter Jakobus hat die Hüfte zu seiner linken Seite ausgestellt, die Schulter neigt sich nach rechts. Sein rechtes Bein ist angewinkelt, sodass sich das Knie unter dem Gewand durchdrückt. Es scheint, als wollte der Apostel gerade zu einem Schritt nach vorn ausholen. Die Gewandführung unterstützt mit ihren betonten Faltengraten und bewegten Nestern den dynamischen Gesamteindruck der Figur. Der in üppiger Stofffülle über den Schultern liegende Umhang wird auf der Brust von einer Agraffe zusammengehalten und fällt zu beiden Seiten der Gestalt herab. Dabei umspielt er faltenreich den angewinkelten linken Arm mit der heute verlorenen Hand und wird vor den Körper gezogen. Der rechte Arm tritt dagegen unter dem Umhang hervor und versucht den Faltenwurf über der linken Schulter zu bändigen, wobei die Hand nach links oben weist. In diese Richtung wendet sich auch der Kopf, dessen jugendliches Gesicht in die Ferne blickt bzw. in sich versunken wirkt. Die jugendliche Physiognomie ist in der des Jakobus d.J. aus der Würzburger Marienkapelle vorgebildet. Von dort sind das ovale, faltenlose Gesicht mit den Jochbögen, das schulterlange Haar sowie der kurze Kinn- und Schnauzbart übernommen. Auch die Gewandanlage des Stuttgarter Jakobus scheint von der des Würzburger Jakobus d.J. inspiriert, ohne ihr direkt zu folgen.
Wahrscheinlich eine Schreinskulptur: Frontalansicht der Stuttgarter Jakobus-Figur; Bildnachweis: Landesmuseum Württemberg, Bildarchiv |
Mit seiner auffälligen Wendung zur linken Seite sucht die Stuttgarter Jakobusfigur optisch nach einem links stehenden Bildwerk. Diese Ausrichtung wie auch die nicht ausgearbeiteten Seiten sprechen für eine Aufstellung in einem Altarschrein; die Figur ist eher wie ein Relief denn wie eine Skulptur aufgefasst und auf Frontalansicht gearbeitet. Im Schrein eines Flügelaltars galt die Verehrung nicht ausschließlich Jakobus, sondern ebenso den anderen dargestellten Aposteln und Heiligen. Dementsprechend steht bei der Stuttgarter Figur nicht die Darstellung der mühsamen Wanderschaft im Vordergrund. Dagegen ist der Münchner Jakobus ganz durch das Motiv der Wallfahrt charakterisiert: Der erschöpfte Gesichtsausdruck, das kurze Innehalten im gleichzeitigen Voranschreiten erzählen vom langen und ermüdenden Unterwegsssein. Als Einzelfigur war diese Skulptur ganz auf die Verehrung herantretender Pilger ausgerichtet.
Man hat Riemenschneiders Jakobus-Figuren als „vorreformatorisch“ bezeichnet, weil der Künstler gänzlich darauf verzichtet, manche der Jakobus-Legenden mit darzustellen oder auf sie anzuspielen (wie etwa das sogenannte „Hühnerwunder“ oder die Überführung seines Leichnams nach Galizien) Deswegen haben diese Bildwerke wohl auch den frühreformatorischen Bildersturm mit seiner Ablehnung der Heiligenverehrung überstanden. Weil Martin Luther im damaligen Bilderstreit Kunstwerke mit Heiligendarstellungen zu „adiaphora“ erklärte, also zu tolerablen Nebensächlichkeiten, „konnten solche in den Kirchengebäuden der evangelisch-lutherisch gewordenen Gemeinden sogar eher überdauern als in vielen katholischen, wo nicht wenige Kunstschöpfungen des Mittelalters durch solche der Renaissance, des Barock und noch jüngerer Stilformen ersetzt wurden oder gar verschiedenen Purifikationswellen zum Opfer fielen“ (Soder 2006, S. 104).
Literaturhinweise
Lichte, Claudia (Hrsg.): Tilman Riemenschneider – Werke seiner Blütezeit. Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2004, S. 325-326;
Lichte, Claudia: Zwei Jakobusfiguren Riemenschneiders aus Münchner und Stuttgarter Museumsbesitz. In: Paul Ludwig Weinacht (Hrsg.), Der heilige Jakobus im Werk von Tilman Riemenschneider. KunstSchätzeVerlag, Gerchsheim 2006, S 52-63;
Soder von Güldenstubbe, Erik: Zum Jakobskult in Zeitalter der Reformation. In: Paul Ludwig Weinacht (Hrsg.), Der heilige Jakobus im Werk von Tilman Riemenschneider. KunstSchätzeVerlag, Gerchsheim 2006, S 98-105.
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