Donnerstag, 28. Februar 2013

Claude Monet, der Raffael des Wassers

Claude Monet: Die Küste von Fecamp (1881); Privatsammlung
Claude Monet: Ufer der Seine bei Jenfosse (1884); Privatsammlung
Claude Monet: Wellen (1881); San Francisco, Fine Arts Museum
Claude Monet: Die Küste bei Étretat (1885); Williamstown, Clark Art Institute
Claude Monet: Venedig, Palazzo da Mula (1908); Washington, D.C., National Gallery of Art
Claude Monet: Ombres sur la mer à Pourville (1882); Kopenhagen, Carlsberg Glyptotek
Claude Monet: La mer vue des falaises (1881); Privatsammlung
Claude Monet: Steilküste von Aval (1885); Privatsammlung
Claude Monet: Ebbe bei Varengeville (1882); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza

„Il est le Raphaël de l’eau. Il la connaît dans ses mouvements, dans toutes ses profondeurs, à toutes ses heures.“

Édouard Manet


   Was aber zum Vorschein kommt, wenn man den ganzen Monet in den Blick nimmt, ist die atemberaubende, vibrierende Schönheit einer Welt, die sich immer nur im Augenblick, im ephemeren Funkeln des Sonnenlichts offenbart. Die niemals zu bannen, nur im raschen Vorüberhuschen zu ahnen ist. Die Schönheit der diesseitigen Welt – und die Melancholie, die Verlustangst, die ihre Erscheinungen hervorruft, weil sie uns stets wieder entgleitet, obwohl wir sie fast verzweifelt festzuhalten suchen. Wir lieben Monet, weil er die Welt als Fluchtpunkt unserer Wunschträume malt, unserer Vorstellungen von Frieden und Glück, von einem sonnendurchfluteten Dasein. Claude Monet, der immer von Sorgen getrieben wurde, der erst arm war und dann immerzu unzufrieden, niemals so recht zu Hause in der Welt, hat in seinen Gemälden Sehnsuchtsorte entworfen, Zufluchtsorte für heimatlose und gequälte Seelen.
   Das ist das Geheimnis seiner Kunst. Monet hat gültige Bilder vom Glück geschaffen, aber mit der Sehnsucht eines Verzweifelten. Sie sind deswegen so anziehend, so überwältigend und überzeugend, weil es sich um Wunschbilder handelt – seine Idyllen sind Verzweiflungstaten. In den schwärzesten Momenten seines Lebens, in den Jahren der größten mteriellen Not, der Einsamkeit und Bedrückung malt er die hellsten und heitersten Landschaftsbilder, die impressionistischen Idyllen von der Seinelandschaft vor den Toren von Paris. Und am Sterbebett der Gefährtin, der qualvoll verstorbenen ersten Ehefrau Camille, beginnt er ihre Züge auf Papier so inspiriert festzuhalten, als würde er vor einer reizvollen Landschaft stehen. Gerade hier, in diesem Moment, offenbart sich die Triebkraft seines obsessiven Schaffensdrangs, seines unermüdlichen »Welt-Erraffens«: im paradoxen, letztlich zutiefst tragischen Wunsch, dem Transitorischen Dauer zu verleihen. Claude Monet, dessen große künstlerische Tat in der »Heroisierung der Flüchtigkeit« liegt, jagte immerzu – und ganz vergeblich – dem Überzeitlichen hinterher. Dem einen schönen, brillanten Augenblick wollte er Ewigkeit verleihen.“
Manfred Schwarz
(DIE ZEIT, 17. September 2009, S. 65)

Mittwoch, 27. Februar 2013

Der gelehrte Asket – Caravaggio malt den Kirchenvater Hieronymus


Caravaggio: Hl. Hieronymus (1605/06); Rom, Galleria Borghese
Der Hl. Hieronymus aus der Galleria Borghese ist wahrscheinlich das letzte Werk, das Caravaggio in Rom geschaffen hat – vor seiner Flucht nach einer bewaffneten Auseinandersetzung, bei der ein Gegner des streitlustigen Künstlers tödlich verwundet wurde. Gemalt hat er das Bild für Scipione Borghese, den Neffen des 1605 neu gewählten Papstes Paul V., der im Juli des gleichen Jahres zum Kardinal ernannt wurde.
Dargestellt ist der völlig in seine Arbeit vertiefte Kirchenvater Hieronymus, der die Bibel aus dem Hebräischen und dem Griechischen ins Lateinische übersetzt. Die daraus hervorgegangene Vulgata wurde zur wichtigsten Bibelübersetzung des Mittelalters. Die protestantische Bewegung lehnte die Vulgata jedoch wegen zahlreicher Mängel ab; das Konzil von Trient wiederum erklärte sie 1546 zum einzig gültigen Bibeltext. Deswegen gehörte Hieronymus seit der Gegenreformation zu dem am häufigsten dargestellten Heiligen – galt es doch, die Vulgata, aber auch Hieronymus als Autor gegen die Kritik der Protestanten zu verteidigen. „Gleichzeitig grenzte die gegenreformatorische Kirche ihr Bild des Hieronymus von dem der Humanisten ab, die in dem gelehrten Heiligen ihr Vorbild sahen, hatte er es doch verstanden, die bonae litterae und die sacrae litterae zu vereinigen“ (Held 2007, S. 132).
Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514); Kupferstich
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In der bildenden Kunst hatten sich zwei Bildtraditionen bei der Darstellung des Hieronymus entwickelt: Die eine Linie, vertreten z. B. von Albrecht Dürer und Antonello da Messina, zeigt den Kirchenvater als Gelehrten in einem Studierzimmer mit vielen Büchern. In Dürers Hieronymus-Kupferstich von 1514 sitzt der Heilige in einer profanen Wohnstube, die geradezu bürgerliche Behaglichkeit ausstrahlt. Zwar hat Hieronymus ein Kruzifix auf seinem Schreibtisch und einen Totenkopf auf der Fensterbank, doch ist der Gelehrte gedanklich nicht mit diesen Jenseitsverweisen beschäftigt. Auch sonst fehlt eine Verbindung zur Kirche. Dürer bietet uns ein Bild frommer, aber selbstständiger humanistischer Gelehrsamkeit.
Antonello da Messina: Hieronymus im Gehäus (um 1474); London, National Gallery
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Der zweite Hieronymus-Typus, der büßende Heilige in der Wildnis, entstand in der venezianischen Malerei, vor allem durch Tizian, und fand seit dem späten 16. Jahrhundert weite Verbreitung. Verständlich, dass die katholische Kirche nicht den Bildtyp des gelehrten Humanisten, sondern den büßenden Heiligen favorisierte. Während der Dürersche Hieronymus vollkommen seinen Forschungen hingegeben ist, hat sich der Heilige hier in eine andere Einsamkeit zurückgezogen, die des stadtfernen Waldes, in dem er als büßender Eremit lebt. „Nicht nur der kirchlichen Ehren, auch der Gelehrsamkeit hat er entsagt, um sich ausschließlich auf das Jenseits vorzubereiten“ (Held 2007, S. 136).
Tizian: Der hl. Hieronymus in der Wildnis (um 1575); Madrid, Escorial
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Caravaggio schloss sich keiner dieser Bildtraditionen an, sondern entwickelte eine neue Darstellungsform, indem er den oftmals kleinfigurigen Halbakt aus der Landschaft herauslöst und Hieronymus als lebensgroße Halbfigur in das Scheinwerferlicht stellt, für das er bekannt ist. Er entwirft dabei das Bild eines asketisch lebenden Gelehrten, dessen geistige Kräfte ungebrochen sind.
Sein Hieronymus aus der Galleria Borghese sitzt an einem einfachen Holztisch, der von drei großen Folianten bedeckt ist. In dem dunklen Raum ist kein weiterer Gegenstand zu erkennen – Caravaggio verzichtet gänzlich auf die Wohnlichkeit des Dürerschen Kupferstichs. Hieronymus hat sich in einen einfachen Umhang gehüllt, der ikonographisch den antiken Gelehrten wie den Aposteln zukommt. Sein Rang innerhalb der Kirche ist nicht erkennbar, wird höchstens durch das Kardinalrot des Mantels angedeutet. Der Greisenbart und das spärliche Haupthaar sind zerzaust, der Oberkörper ist entblößt. Bei der symmetrischen Komposition, deren Mittelachse die Bindung des aufgeschlagenen Folianten bildet, antwortet der Totenschädel dem kahlen Kopf des Kirchenvaters – eine Mahnung an die eigene Sterblichkeit. „Stilleben und Figur, Weiß und Rot sind miteinander verbunden durch einen überlangen Arm, der wie fremdbestimmt die Feder eintaucht“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 187).
Mit großer Genauigkeit gibt Caravaggio die Zeichen des Alters und der Askese wider: den mageren Oberkörper, die sehnigen Arme und geschwollenen Hände mit gespannter und runzliger Haut, das zerfurchte, schmale Gesicht, das schüttere Haar und den kurzsichtigen Blick. Trotz seiner asketischen Züge zeigt Caravaggio den Kirchenvater aber nicht in ausgesprochener Bußhaltung. Er entsagt seinen Studien nicht, sondern ist mit der gezückten Feder in seiner Rechten offensichtlich mitten in seiner Übersetzungsarbeit. Dabei erhält er keinen sichtbaren himmlischen Beistand, „vielmehr verläßt er sich ganz auf seine Geisteskraft“ (Held 2007, S. 137). Die asketische Haltung des Heiligen ist bei Caravaggio nicht Ausdruck einer ausschließlich auf das Jenseits gerichteten Frömmigkeit, sondern bleibt der durch den Humanismus geprägten Gelehrsamkeit verbunden, stellt also eine Art innerweltliche Askese dar.
Caravaggio: Hl. Hieronymus (1605/06); Montserrat, Klostermuseum
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In Montserrat befindet sich eine weitere Fassung des Hl. Hieronymus: ein Hochformat, wohl ebenfalls um 1605/06 entstanden, für das derselbe Greis Modell gestanden haben dürfte wie für die Borghese-Fassung. Er ähnelt außerdem der mittleren Figur im Hintergrund des Ungläubigen Thomas und dem Petrus im Christus am Ölberg (siehe auch meinen Post „Den Finger in die Wunde legen“). Auch in diesem Hochformat sitzt der Kirchenvater in Schrägansicht vor einem nicht näher bezeichneten dunklen Hintergrund an einem Holztisch. Er ist wiederum nur mit einem ausgreifenden kardinalsroten Umhang bekleidet, dessen unteres Ende auf dem Tisch liegt, sowie mit einem weißen Tuch um die Lenden. In melancholisch-meditativer Pose, den Kopf gesenkt und die Stirn zerfurcht, greift er sich gedankenverloren mit der rechten Hand in den Bart, den Totenschädel vor ihm nicht beachtend. Auf sein Haupt, die Arme, den faltigen Oberkörper und das leuchtende Manteltuch fällt aus unsichtbarer Quelle ein gebündelter Lichtstrahl, der tiefe Schatten hervorruft. Caravaggios Fähigkeit, die gealterte Haut überaus naturalistisch darzustellen, fasziniert auch hier. Sie hat vor allem den spanischen Maler Jusepe de Ribera (1591–1652) stark beeinflusst, von dem zahlreiche Hieronymus-Bilder in ähnlicher Manier überliefert sind. Auffallend an den beiden Hieronymus-Gestalten von Caravaggio ist außerdem, dass Gesicht und Hände ein dunkleres Inkarnat zeigen – als ob der Maler verdeutlichen wollte, dass er ein Modell verwendet hat.
Jusepe de Ribera: Hl. Hieronymus (1648); Mexico City, Péréz Simón Collection
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Es existiert auch noch ein späteres Hieronymus-Gemälde von Caravaggio, das für die italienische Kapelle der Johanniter-Konventskirche bestimmt war, der heutigen Ko-Kathedrale in Valletta. Das Bild ist wohl um 1607/08 entstanden, als Caravaggio von Neapel nach Malta übersiedelte; als Modell diente wahrscheinlich der Malteserritter Fra Antonio Martelli, den Caravaggio 1608 auch in seiner Malteser-Uniform porträtierte. Der Totenschädel in dieser wiederum querformatigen Fassung ist zur Seite gerollt, ebenso wie die erloschene Kerze verweist er auf die Vergänglichkeit des irdischen Lebens. Der Kirchenvater hat sich von seiner Bettstatt hinter dem Tisch aufgerichtet; ein Tintenfass in der Linken, hält er in der Rechten eine dünne Feder und schreibt damit seine Gedanken nieder, „von der göttlichen Inspiration so absorbiert, daß er es unterläßt, sich gerade hinzusetzen“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 159/160). Caravaggio hat sein Gemälde geometrisch aufgebaut: Die Sitzfigur des Hieronymus bildet mit dem nach rechts gewendeten Bein und dem nach links gedrehten Oberkörper sowie dem Totenkopf ein Dreieck. Gerahmt wird es am rechten Bildrand von der Vertikale des Pfostens (oder der Tür) und der horizontalen Tischplatte.
Caravaggio: Hl. Hieronymus (1607/08), Valletta, Ko-Kathedrale Saint John
Caravaggio: Porträt des Malteserritters Fra Antonio Martelli (1608); Florenz, Palazzo Pitti
Die Folianten der Borghese-Fassung fehlen, die Hieronymus dort noch wie ein humanistischer Gelehrter vergleichend studierte. Das Kruzifix liegt am Rand des Tisches in einer labilen Position, die man fast als Markenzeichen des Künstlers bezeichnen kann (wie z. B. im Londoner Emmausmahl). 
Ein echter Caravaggio: Früchtekorb in instabiler Lage (1601/02); London, National Gallery
Kruzifix und Stein verweisen hier weit deutlicher als in den beiden ersten Fassungen auf den büßenden Heiligen. Links hängt verschattet der Kardinalshut, der an die Führungsrolle in der römischen Kirche erinnert, auf die der Heilige verzichtet hat. In der italienischen Kapelle war das Gegenstück zu Caravaggios Hieronymus eine Maria Magdalena – sodass von diesem Bilderpaar ein unübersehbarer Appell zu Buße und Umkehr ausging. Das Andachtsbild enthält gleichwohl eine Anspielung für den Kunstkenner: Die Pose des Hieronymus ist dem antiken Sterbenden Gallier entliehen.
Sterbender Gallier, röm. Kopie nach hellenistischem Original; Neapel, Museo Archeologico Nazionale
Simon Vouet: Der hl. Hieronymus mit dem Engel (um 1620/21); Washington, National Gallery of Art
Der französische Caravaggist Simon Vouet (1590–1649) hat um 1620/21 einen Hl. Hieronymus mit dem Engel gemalt, der seine Nähe zu Caravaggios Gemälde in der Galleria Borghese nicht leugnen kann: Die nächtliche Szene spielt  im Studierzimmer des Kirchenvaters, den ein sich von hinten nähernder Engel beim Schreiben unterbrochen hat. Vor allem der nackte Oberkörper des alten Mannes und insbesondere der Kopf mit der gerunzelten Stirn und dem von der Sonne gegerbten Gesicht erinnern an das Vorbild.

Literaturhinweise 
Cassani, Silvia/Sapio, Maria (Hrsg.): Caravaggio. The Final Years. Electa Napoli, Neapel 2005, S. 114;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Gash, John: The identity of Caravaggio’s ‘Knight of Malta’. In: The Burlington Magazine 139 (1997), S. 156-160;
Harten, Jürgen (Hrsg.): Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 227; 
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007, S. 131-139;
Lechner, Sonja: NUDA VERITAS – Caravaggio als Aktmaler. Rezeption und Revision von Aktdarstellungen in der römischen Reifezeit. scaneg Verlag, München 2006, S. 139-151; 
Squarzina, Silvia Danesi (Hrsg.): Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie. Ausstellungskatalog Rom/Berlin 2001, Mailand 2001, S. 294.

(zuletzt bearbeitet am 30. Juli 2024)



Samstag, 16. Februar 2013

Da kriegst du doch‘n Horn! – Rembrandts Berliner „Mose“


Rembrandt van Rijn: Mose zerbricht die Gesetzestafeln (1659); Berlin, Gemäldegalerie
Nachdem Mose von Gott auf dem Berg Sinai die beiden Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten empfangen hat und danach wieder herabsteigt, muss er mitansehen, wie das Volk Israel das Goldene Kalb anbetet: „Als Mose aber nahe zum Lager kam und das Kalb und das Tanzen sah, entbrannte sein Zorn, und er warf die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berge“ (2. Mose 32,19; LUT). Rembrandts Gemälde von 1659 aus der Berliner Gemäldegalerie zeigt den Moment, in dem Mose die beiden Gesetzestafeln emporhebt, um sie zu zerschmettern. Eingefasst von den emporgereckten Armen und den dunklen Steinplatten – auf der vorderen stehen in hebräischen Schriftzügen die letzten fünf der Zehn Gebote –, bildet sein erleuchtetes Haupt das Zentrum der Komposition.
Die Kunsthistoriker haben viel darüber diskutiert, ob Rembrandt nicht vielleicht doch Mose mit den neuen Tafeln darstellt, von deren zweiter Ausfertigung in 2. Mose 34 berichtet wird. Doch für Rembrandt ist es nicht unüblich, dass er ein weiteres Ereignis (ein früheres oder ein späteres) in seine Darstellung einbezieht. Denn in Verbindung mit den neuen Tafeln heißt es in 2. Mose 34,29 (LUT): Moses Antlitz „glänzte, weil er mit Gott geredet hatte“. Und so tritt Mose auf Rembrandts Gemälde auch vor uns: Sein mehr betrübt-sorgenvolles als ergrimmtes Gesicht ist von göttlichem Licht erhellt. Durch das leuchtende Gesicht, erzeugt durch dick aufgetragenes Bleiweiß, erweist sich Mose als der von Gott Erwählte. Rembrandt übernimmt außerdem die Bildtradition des „gehörnten Mose“ (siehe meinen Post „Der Moses des Michelangelo“), wandelt sie aber naturalistisch um, indem er die Hörner in zwei Haarbüschel auf seinem Kopf umformt.
Rembrandt hat seinen Mose in einem steilen, flachen Raum angesiedelt. Die Figur, lebensgroß in Dreiviertelansicht und unmittelbar am vorderen Bildrand präsentiert, ist praktisch monochrom in einem gelblichen Braun gehalten, als sei sie aus dem Stein herausgewachsen. Mose trägt ein weißes Gewand, auf dem jedoch ein großer Schatten liegt. Die Ärmel sind etwas herabgerutscht und legen die Handgelenke frei, der rechte Ellenbogen und die Beuge des linken Arms leuchten, vom Licht getroffen, hell auf. Ein dunkler Mantel beschwert die Schultern des bärtigen Mannes und bläht sich hinter ihm auf. Auf Moses rechter Seite liegt der Umhang fest und schwarz auf der Schulter und korrespondiert mit den Tafeln. (...) Auf der linken Schulter ist der Mantel bereits umgeschlagen und zeigt die Farbe des wallenden Stoffes, der sich auf äußerst irritierende Weise farblich mit dem Hintergrund assoziiert. Die motivische Konsistenz des Mantels ist aufgelöst, um sich förmlich in einen Felsbrocken zu verwandeln“ (Suthor 2014, S. 121).
Mose wird von einem räumlich flach angelegten Bergmassiv hinterfangen; der Höhenzug ist nur in groben Pinselzügen umrissen, „der hellockerfarbene Malgrund schlägt durch und bestimmt die koloristische Wirkung des Gemäldes“ (Suthor 2014, S. 114). Für Nicola Suthor macht es durchaus Sinn, dass Rembrandt darauf verzichtet hat, die Landschaft auszuarbeiten, und sie stattdessen flächendeckend „glühen“ lässt: „Die aktive Kraft des Berges die Bibel beschreibt ihn als Vulkan , wo Gott sich Moses zeigte, mit ihm kommunizierte und ihn schließlich entsendete, wird anschaulich. Die goldgelbe Farbe des Hintergrunds ist signifikanterweise auch für den Auftrag der hebräischen Schrift benutzt“ (Suthor 2014, S. 121/122). Die goldene Farbe der Lettern verzahnt die Tafeln mit dem heiligen Berg, der hinter der Gestalt des Mose aufragt. „Und dessen Körper ist diesem goldenen Grund derart verbunden, dass es erscheint, als würde er sich diesem quasi entwinden, um für den Betrachter Präsenz zu gewinnen: er ist als Medium Gottes inszeniert, dessen mächtige Anwesenheit sich im Leuchten des heiligen Berges zeigt“ (Suthor, S. 128). Anders ausgedrückt: Mose tritt in seiner Umgebung optisch zurück, wird geradezu durchlässig für den glühenden Berg, während sich die Gesetzestafeln als schwarze Flächen blockhaft abheben. Rembrandt macht auf diese Weise visuell erkennbar, dass der Anführer der Israeliten dem Wort Gottes untergeordnet ist.
Die Figur des Mose reckt sich in starker Untersicht empor und ist auf Fernwirkung angelegt; offensichtlich war das Gemälde für einen Raum mit großzügigen Abmessungen gedacht. In seinem heutigen Zustand macht das Gemälde einen stilistisch heterogenen Eindruck. Einerseits sieht man, besonders im Hintergrund und an den Händen, sehr skizzenhafte, wenig modellierte und überwiegend durchscheinend ausgeführte Partien. Andererseits fallen die sehr viel plastischer und detailreicher ausgearbeiteten Teile auf, wie z. B. die Gesetzestafeln und die Ärmel des Mose bis zu den Ellenbogen. Es ist deswegen vermutet worden, dass der Berliner Mose „unvollendet“ blieb und einzelne Elemente möglicherweise von einer späteren Hand ausgeführt wurden. Die Annahme wiederum, dass Gemälde sei am unteren Rand beschnitten worden, hat sich nicht bestätigt: Eine Röntgenaufnahme zeigt an allen vier Seiten Markierungen durch den Keilrahmen.
Rembrandt van Rijn: Belsazars Gastmahl (1635); London, National Gallery
Rembrandt hat das Hebräische auf den Schrifttafeln, von einem fehlenden Buchstaben abgesehen, korrekt wiedergegeben – vemutlich hat der Maler dabei die Hilfe jüdischer Freunde in Anspruch genommen, genau wie für die hebräische Inschrift in Belsazars Gastmahl aus der Londoner National Gallery (siehe meinen Post Ein König kriegt die Quittung“).
Rembrandt van Rijn: Jakob ringt mit dem Engel (1659); Berlin, Gemäldegalerie
Rembrandts Mose ist immer wieder mit seinem Bild Jakob ringt mit dem Engel in Verbindung gebracht worden (siehe meinen Post Showdown am Jabbok“). Die beiden Gemälde haben zwar unterschiedliche Abmessungen, aber die Abweichungen könnten sich daraus erklären, dass der Jakob rundum beschnitten wurde. Auf diese Weise ist z. B. die Signatur an den unteren Rand gerutscht, während sie beim Mose etwas höher sichtbar wird. Auf jeden Fall sind die Ähnlichkeiten verblüffend: Die Proportionen der Figuren, der breite Pinselstrich, die zurückhaltende Farbgebung wie auch die Art und Weise, in der die Figuren am unteren Rand angeschnitten werden, stimmen auffälllig überein.

Literaturhinweise
Brown, Christopher u.a.: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt, Ausstellungskatalog Berlin, Gemäldegalerie SMPK im Alten Museum, München u.a. 1991; S. 272-274;
Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 384;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 621-623;
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014, S. 113-130;
Tümpel, Christian (Hrsg.): Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst. Ausstellungskatalog Münster, Westfälisches Landesmuseum u.a., Zwolle 1994;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 3. April 2021)

Samstag, 9. Februar 2013

Illum oportet crescere – der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald


Matthias Grünwald: Johannes der Täufer, 1. Schauseite des Isenheimer Altars
Es gibt nur wenige christliche Kunstwerke, die einem breiten Publikum so bekannt sind wie der Isenheimer Altar Matthias Grünewalds, abgesehen vielleicht von Michelangelos Wandmalereien in der Sixtinischen Kapelle und Albrecht Dürers Betenden Händen. Viele haben sofort den überlangen Zeigefinger vor Augen, mit dem Johannes der Täufer auf den geschundenen, mit Wunden übersäten Leib des Gekreuzigten weist (siehe meinen Post O Haupt voll Blut und Wunden!“). Matthias Grünewald, der den gewaltigen Altar von 1512 bis 1516 für das Antoniterkloster im elsässischen Isenheim schuf, gilt als einer der bedeutendsten nördlichen Maler zwischen Mittelalter und Neuzeit – doch über sein Leben und seine Person ist kaum etwas bekannt. Während andere zeitgleiche Meister wie Albrecht Dürer, Hans Holbein, Lucas Cranach oder Albrecht Altdorfer in Dokumenten und zahlreichen Werken Jahr für Jahr fassbar sind und in selbstbewussten Porträts ihr Aussehen überliefert haben, wissen wir über Matthias Grünewald so gut wie nichts. Selbst sein genauer Name war lange umstritten; inzwischen hat sich unter den Kunsthistorikern mehrheitlich die Ansicht durchgesetzt, dass es sich bei dem Künstler um den kurmainzischen Hofmaler Mathis Neithart Gothart handelt. Auch von Grünewalds Werk kennen wir nur den Rumpf, weil es durch Bilderstürmer arg reduziert wurde: Nur 26 Gemälde und 37 Handzeichnungen sind noch erhalten (allesamt mit christlichen Themen), und nicht für jedes Bild ist seine Urheberschaft zweifelsfrei nachweisbar.
Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, 1. Schauseite (1512-1516); Colmar, Musée dUnterlinden
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Wahrscheinlich wurde Grünewald um 1480 in oder bei Aschaffenburg geboren. Wenige seiner Lebensstationen sind wirklich gesichert, und auch über sein Todesjahr gehen die Gelehrtenmeinungen noch immer auseinander. Grünewald ist bis heute der große Unbekannte geblieben, von dem nur noch seine Bilder zeugen. Unter ihnen ist es vor allem der
Isenheimer Altar, der den heutigen Betrachter immer noch zu faszinieren und zu packen vermag, weil er das Evangelium so eindringlich und unmittelbar verkündigt wie sonst kein zweites Kunstwerk der vergangenen 500 Jahre. Im Nachlass des Malers fand man Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, dazu – sorgfältig eingebunden – zahlreiche Predigten des Reformators. Das weist darauf hin, dass Grünewald zu all denen gehörte, die damals in einer noch ganz offenen, noch nicht konfessionalisierten Lage durch Luthers Neuentdeckung des Evangeliums zutiefst bewegt wurden. „In brennender Sorge um das eigene Seelenheil erfuhren sie die Rechtfertigungslehre als die Befreiung aus einer Spirale der Leistungsfrömmigkeit“ (Arndt 2007, S. 20).
Während der Französischen Revolution wurde das Isenheimer Kloster 1793 geplündert und verwüstet. Der Grünewald-Altar konnte jedoch gerettet und in der Bezirksbibliothek von Colmar sichergestellt werden. Nachdem das Kunstwerk Jahrzehnte dort auf dem Dachboden gelagert hatte, brachte man es 1852 in das neu errichtete Museum „Unterlinden“, ein ehemaliges Kloster in Colmar, wo es auch heute noch besichtigt werden kann. 1918, noch während des Ersten Weltkriegs, deportierte man den Altar nach München in die Alte Pinakothek. Grünewalds Malerei war vielen bis dahin unbekannt geblieben; jetzt erregte sie bei Wissenschaftlern und Künstlern großes Aufsehen. Besonders die Expressionisten entdeckten in Grünewalds ausdrucksstarker und farbmächtiger Malerei ein Vorbild. 
Der geschundene Leib Christi
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1919 kehrte der Altar ins Elsass zurück. Er gehört zu den besterhaltenen Kunstwerken des Mittelalters und hat keinerlei Ausbesserung oder Übermalung erleiden müssen. Seine Farben leuchten  – dank einer besonderen, unbekannt gebliebenen Technik des Meisters – noch heute mit ihrer ursprünglichen Strahlkraft.
Grünewald schuf einen sogenannten Wandelaltar, dessen Aussehen sich im Verlauf des Kirchenjahres änderte, indem seine Bildtafeln auf- oder zugeklappt wurden. Geschlossen (wie an Werktagen und zu Bußzeiten üblich) zeigte er die Kreuzigung, links und rechts davon auf schmalen Seitentafeln die Heiligen Sebastian und Antonius sowie in der Predella (dem Altar-Unterbau) die Beweinung Christi. An Sonn- und niederen Feiertagen wurde das Passionsbild geöffnet, und die zweite Schauseite bot sich dar: links die Verkündigung an Maria, in der Mitte die Geburt Jesu und das Engelskonzert, rechts die Auferstehung des Gekreuzigten. An hohen Feiertagen wurde der Altar ein weiteres Mal aufgeschlagen. Dann sahen die Betrachter die Schnitzfiguren (Antonius, Augustinus und Hieronymus) des Nikolaus von Hagenau, dazu das Gespräch zwischen Antonius und Paulus auf dem linken und die Versuchung des Antonius auf dem rechten Seitenflügel. Der Eindruck des Altars, der bei geöffneten Flügeln bis zu 7 Meter breit war, muss überwältigend gewesen sein. Heute ist er im Colmarer Museum so umgebaut, dass alle Schauseiten gleichzeitig zu sehen sind.
Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, 2. Schauseite (für die Großansicht einfach anklicken)
Matthias Grünewald: Stuppacher Madonna (1519); Bad Mergentheim-Stuppach,
Pfarrkirche Mariä Krönung (für die Großansicht einfach anklicken)
Bis 1519 malte Grünewald dann in Aschaffenburg an der sogenannten Stuppacher Madonna (Pfarrkirche Mariä Krönung in Stuppach bei Bad Mergentheim); es folgten Altarbilder für den Mainzer Dom, Altaraufsätze für die Stiftskirche in Halle und schließlich eine Tafel vom Tauberbischofsheimer Altar (1523/25; heute in Karlsruhe), die auf der Vorderseite die Kreuzigung Christi und auf der Rückseite die Kreuztragung zeigt. Diese letzten, vom Leiden Christi geprägten Bilder fallen in die Zeit der blutigen Bauernkriege. 1527 ist der Meister in Halle an der Saale tätig, und zwar als „Wasserkunstmacher“. Bis zu seinem Tod Ende August 1528 hat er wahrscheinlich kein weiteres Bild mehr gemalt.
Matthias Grünwald: Kreuztragung Christi (um 1523/25);
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
Man geht davon aus, dass sich Grünewald in der Gestalt Johannes des Täufers auf dem Isenheimer Passionsbild selbst dargestellt hat. Hinter seiner Hand leuchtet am nachtdunklen Himmel in lateinischer Schrift der Bibelvers auf, der uns einen Hinweis darauf gibt, worin er als Künstler seinen Auftrag sah: „Jener muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Johannes 3,30). Der Meister, dessen Initialen sich nur auf dreien seiner Werke finden, wollte, so darf man annehmen
, nichts sein als ein Fingerzeig auf seinen Herrn – den Mensch gewordenen Gottessohn, der zum Heiland aller wird, indem er die Schuld der Welt auf sich nimmt und ans Kreuz trägt. 

Literaturhinweise
Arndt, Karl: Mathis Neithart Gothart, genannt Grünewald in seiner Epoche. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 19-29;
Cuttler, Charles D.: Grünewald Sources. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 50 (1987), S. 539-549;
Prater, Andreas: Der Isenheimer Altar. Eine Einführung in seine Bildwelt und deren Interpretation. In:  Werner Frick/Günter Schnitzler (Hrsg.): Der Isenheimer Altar. Werk und Wirkung. Rombach Verlag, Freiburg i.Br. 2019, S. 9-40;
Pressl, Claus: Grünewald und die Nation. Ein Beitrag zur Rezeption des Künstlers in Deutschland. In: Johanna Aufreiter u.a. (Hrsg.), KunstKritikGeschichte. Festschrift für Johann Konrad Eberlein. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2013, S. 313-331;
Reuter, Astrid: Zur expressiven Bildsprache Grünewalds am Beispiel des Gekreuzigten. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 78-86;
Vetter, Ewald M.: Wer war Matthias Grünewald? In: Pantheon 35 (1977), S. 188-197;
Wetzig, Heike: Die Standflügel des Isenheimer Altars. In: Hartmut Krohm/Eike Oellermann (Hrsg.), Flügelaltäre des späten Mittelalters. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1992, S. 238-259;
Ziermann, Horst: Matthias Grünewald. Prestel Verlag, München 2001.

(zuletzt bearbeitet am 7. März 2024)