Jean-Auguste-Dominique Ingres: Philibert Rivière (1804/05); Paris, Louvre |
Ingres zeigt
Philibert Rivière mit übergeschlagenem Bein entspannt in einem Empirefauteuil
sitzend, den Blick aufmerksam dem Betrachter zugewendet. Die linke Hand ist –
der Pose seines Kaisers Napoleons folgend – vor der Brust in den dunkelbraunen
Rock geschoben; die geknöpfte, sandfarbene culotte
(Kniebundhose) und eine elegant geschlungene Krawatte vervollständigen die
Bekleidung des Modells.
Im Hintergrund hat
der Maler auf einem Tisch ein Stillleben von Gegenständen arrangiert, die den
ehemaligen Verwaltungsbeamten als literarisch und künstlerisch interessierten
Menschen ausweisen sollen: die Werke Rousseaus, ein Notenheft, das den Namen
Mozarts trägt, und ein Reproduktionsstich nach Raffaels Madonna della Sedia. Der Stich ist vor allem als künstlerisches
Bekenntnis des Malers zur italienischen Renaissance zu verstehen: Ingres hat
dieses Werk Raffaels als programmatisches Vorbild in zahlreichen Gemälden
zitiert, so etwa im Hintergrund der beiden Historienbilder Raffael und die
Fornarina (1811/12) und Heinrich IV. empfängt den spanischen Botschafter (1817).
Jean-Auguste-Dominique Ingres: Raffael und die Fornarina (1811/12); Cambridge, Fogg Art Museum |
Philibert Rivière wird
von Ingres eng an die Grenzen des 116 x 89 cm messenden Bildgevierts herangeführt.
Sein Kopf ist leicht nach links aus der Bildmitte gerückt; trotzdem ist sein
linkes Auge auf der Mittelachse des Bildes fixiert, sodass „die Lage des Dargestellten
auf der Bildfläche eine gewisse grundsätzliche Festigkeit erhält“ (Fleckner
1995, S. 29). Figur und Mobiliar sind vor einen monochromen Hintergrund
gesetzt, der sich nur durch eine Zierleiste am linken Bildrand als Zimmerwand
ausweist. Das übergeschlagene Bein und der aufrechte Oberkörper formen die
kompositorische Grundfigur eines rechten Winkels, die durch eine von
Tischkante, dem eingeschobenen linken Arm und von Gewandfalten gebildete Waagerechte
ergänzt wird.
Jacques-Louis David: Gaspar Meyer (1795); Paris, Louvre |
Charles Vigne vergleicht
das Bildnis Philibert Rivières mit Jacques-Louis Davids Porträt des Gaspar Meyer von 1795: Auch hier sitzt
ein Mann bequem in einem Fauteuil vor einem mit Tuch bedeckten Tisch; ebenfalls
ein Kniestück und in leichter Profilansicht, wendet Meyer wie Rivière den Kopf
frontal dem Betrachter zu. „Die kompositorische Anordung auf der Bildfläche
scheint vollkommen identisch, nur daß Ingres das Vorbild seitenverkehrt
darstellt. Die Analogien gehen bis hin zur Betonung der neutral belassenen
Wände, die jeglicher dekorativer Elemente entkleidet sind“ (Vigne 1995, S. 54).
Allerdings ist unklar, bei welcher Gelegenheit Ingres Davids Porträt gesehen
haben könnte, da das Modell es zurückgewiesen hatte und es im Besitz des Maler
blieb.
Jean-Auguste-Dominique Ingres: Marie-Françoise Rivière (1804/05); Paris, Louvre |
Das rechte Auge vom
Madame Rivière und ihre rechte Hand sind auf die Bildmittelachse gesetzt.
Diwankante, linker Oberarm und der links im Bild drapierte Tüllschleier bilden
eine Waagerechte und geben der Komposition zusammen mit der senkrechten
Bildmittelachse Halt. Zahlreiche Linien nehmen die ovale Form des Rahmens auf:
Der Kaschmirschal wird in einem großen Oval um den Oberkörper der Frau geführt
und vor allem von der rechten Konturlinie des liegenden Körpers (vom Betrachter
aus gesehen) kompositorisch beantwortet, die parallel zum Rahmenverlauf der
rechten Bildseite nach links aus dem Gemälde leitet.
Die Gesamtkomposition
hat für Ingres offentlich auch einen höheren Stellenwert als die korrekte
anatomische Abbildung des gesehenen Körpers: „Der rechte Arm, der durch seinen
Verlauf die Komposition ovaler Teilformen im Oval des Rahmens vollenden muß,
ist deutlich überlängt wiedergegeben, da er nur so seine kompositorische
Pflicht erfüllen kann“ (Fleckner 1995, S. 30). Zu nennen sind hier außerdem die
scheinbar knochenlosen, gerundeten Finger; auch sind Mittel- und Zeigefinger
beider Hände so verlängert worden, dass sie die Kompositionslinien des Bildes
weiterführen.
Jean-Auguste-Dominique Ingres: Caroline Rivière (1804/05); Paris, Louvre |
Für das Porträt von
Caroline Rivière, der dreizehnjährigen Tochter der Eheleute (die 1807, also ein
Jahr nach diesem Porträt, im Alter von 14 Jahren stirbt) hat Ingres schließlich
ein anderes Bildformat gewählt: 100 x 70 cm misst das Hochrechteck des
Gemäldes, das nach oben von einem flachen Korbbogen geschlossen wird. Der Maler
stellt die Dreiviertelfigur der jungen Frau vor einen landschaftlichem
Hintergrund. Ihr groß und rund gebildeter Kopf und die obere Kontur ihrer Hermelinstola
nehmen die Wölbung des oberen Bildabschlusses auf. Die Augen der jungen Frau
liegen auf der Höhe des Bogenansatzes, ihr linkes Auge ist dabei wiederum auf
die Bildmittelachse gesetzt. Die fast streng zu nennende Komposition wird nun
„durch den freien Rhythmus geschwungener, ornamentaler Linien gegliedert“
(Fleckner 1995, S. 31): durch das Oval des Kopfes, den Kontur von Unterarm,
Brust und Nacken, vor allem aber durch die verschlungene Stola. Auch im Porträt
der Caroline Rivière hat das Spiel der Linien Vorrang vor der korrekten
Wiedergabe perspektivischer und anatomischer Verhältnisse: „Die gegenläufige
Linie des Halses, die im Verhältnis zum Kopf durchaus unnatürlich wirkt“ (Vigne
1995, S. 56), offenbart Ingres’ Vorliebe für einen harmonischen Bildaufbau, der
ihm wichtiger ist als Naturtreue.
Piero della Francesca: Federigo da Montefeltro und seine Frau Battista Sforza (1472/73); Florenz, Uffizien |
Literaturhinweise
Fend, Mechthild: Geblähte Körper. Die Haut oder das Unverhätnis von Innen und Außen in den Porträts von J.-A.D. Ingres. In: Klaus Herding (Hrsg.), Orte des Unheimlichen. Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, S. 234-253;
Fleckner, Uwe: Abbild und Abstraktion. Die Kunst des Porträts im Werk von Jean-August-Dominique Ingres. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1995;
Vigne, Georges: Jean-August-Dominique Ingres. Hirmer Verlag, München 1995.
(zuletzt bearbeitet am 10. August 2022)
Fend, Mechthild: Geblähte Körper. Die Haut oder das Unverhätnis von Innen und Außen in den Porträts von J.-A.D. Ingres. In: Klaus Herding (Hrsg.), Orte des Unheimlichen. Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, S. 234-253;
Fleckner, Uwe: Abbild und Abstraktion. Die Kunst des Porträts im Werk von Jean-August-Dominique Ingres. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1995;
Vigne, Georges: Jean-August-Dominique Ingres. Hirmer Verlag, München 1995.
(zuletzt bearbeitet am 10. August 2022)
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