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Leonardo da Vinci: Abendmahl (1494-1497); Mailand, Santa Maria delle Grazie
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Leonardo da Vinci (1452–1519) war nicht nur
Maler, sondern auch Bildhauer, Architekt, Kunsttheoretiker, Naturforscher und
Ingenieur. Der vielseitige Künstler und Wissenschaftler befaßte sich mit nahezu
allen damals bekannten Wissensbereichen und gilt bis heute als Universalgenie
der Hochrenaissance. Seine wenigen Gemälde – allen voran sein Abendmahl in
dem Mailänder Kloster Santa Maria delle Grazie und die Mona Lisa im Pariser
Louvre – galten nachfolgenden Epochen als Beispiele höchster Vollkommenheit. Als
Naturforscher hielt Leonardo seine allumfassenden, seiner Zeit weit
vorauseilenden Beobachtungen vor allem in zahlreichen Zeichnungen fest.
Den Auftrag für das Abendmahl erhielt Leonardo
wahrscheinlich 1494. Drei Jahre danach, 1497, war das riesige Wandgemälde (9,1
x 4,2 m) im Speisesaal des Dominikanerklosters vollendet. Es war eine Sensation
und begründete den Ruhm des Künstlers. Wer damals reisen konnte, kam nach
Mailand, um es zu sehen. Doch kaum zwanzig Jahre später wurden bereits erste
Verfallserscheinungen beklagt. In der Mitte des 16. Jahrhunderts berichtete der
Künstlerbiograf Giorgio Vasari, das Werk sei so schlecht ausgeführt, dass nur
noch „Farbflecken“ auszumachen seien. Schuld daran waren die hohe Feuchtigkeit
im Refektorium und die maltechnischen Experimente des Künstlers. Leonardo hatte
das Wandbild nicht „al fresco“, also in den frischen Putz gemalt, sondern mit
unerprobten Öltempera-Farben auf die bereits getrocknete Wand. Bei der sonst
üblichen Freskotechnik musste mit der notwendigen Eile gearbeitet werden, denn
wenn der Putz trocknete, waren Korrekturen nicht mehr möglich. Leonardo jedoch
wollte sich offensichtlich die Möglichkeit offenhalten, Änderungen vorzunehmen: Seine Arbeitsweise „bestand einesteils in einer akribischen Vorbereitung in Gestalt zahlreicher Überlegungen und Studien, andernteils aber auch in einer spontanen Abweichung von jeder Planung“ (Zöllner 2007, S. 110).
1652 schlugen die Mönche zudem
einen Durchbruch in die Wand, der die Füße Christi verschwinden ließ und von
unten her das Tischtuch und die Tafel anschnitt. Den fortschreitenden Zerfall
des Bildes versuchten vor allem im 18. Jahrhundert gleich mehrere Künstler
durch Übermalungen aufzuhalten. Doch dann benutzten Napoleons Truppen den
Speisesaal als Pferdestall und vergnügten sich damit, mit Steinwürfen auf die
Apostelköpfe zu zielen. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude von einer Bombe
der Alliierten getroffen und das Gemälde stark verunreinigt. Danach stand es
buchstäblich jahrelang im Regen. Im vergangenen Jahrhundert wurde das Bild Anfang
der 50er Jahre wiederum gesäubert. Als es sich erneut verdunkelte, entschloss
man sich 1977 zu einer umfassenden „Rettungsaktion“, die erst 1999
abgeschlossen war.
Dieser mittlerweile
achte Restaurierungsversuch hatte zwei Ziele: Das Gemälde sollte gereinigt und
von allen Zusätzen befreit werden, um das zu zeigen, was von Leonardo tatsächlich
noch geblieben ist. „So viel wie möglich von Leonardo erhalten und wiederfinden“
war die Devise. In minutiöser Kleinarbeit wurden Übermalungen abgetragen, ist Farbfleck für Farbfleck gereinigt worden – Wachsschichten, Ergänzungen,
Konservierungsmaterialien, Schmutz der Jahrhunderte hatten den echten Leonardo
geradezu unter sich begraben. Von dem einst leuchtenden Gemälde mit seinen
klaren und lebhaften Farben war nur eine blasse, verwitterte Bildruine übrig
geblieben. Zugleich sollten die räumlichen Bedingungen den weiteren Verfall
beenden. Der Erfolg der jüngsten Restaurierung war beachtlich: Die ursprüngliche
Farbigkeit des Werkes und zahlreiche Details sind wieder sichtbar geworden. Das
gilt z. B. für die Wandteppiche mit ihren Mustern der „millefleurs“, für
die dazwischen befindlichen fingierten Eingänge zu imaginären Klosterzellen und
einzelne Gegenstände auf dem Tisch.
Heute werden die
Besucher durch mehrere Schleusen über einen speziellen Bodenbelag geführt, um
sie weitestgehend staub- und smogfrei zur Besichtigung einzulassen. Und aus
konservatorarischen Gründen darf sich immer nur eine begrenzte Personenzahl
zugleich im Raum aufhalten, und das auch nur eine Viertelstunde. Leonardo
tauchte die rechte Seitenwand auf seinem Fresko in helleres Licht, das
scheinbar von den – wirklichen – Fenstern des Speisesaals in den – nur gemalten
– Abendmahlsraum des Bildes fällt. So wurde die bewegte Szene sowohl von der
Seite durch die reale Lichtquelle als auch von hinten durch die fiktiven
Fensteröffnungen beleuchtet. Aus Gründen der Klimatisierung bleiben die Fenster
nun allerdings dunkel verhängt.
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Der Jünger Philippus: „Herr, bin ich es?“ (für die lohnenswerte Großansicht einfach anklicken) |
Was nun macht das Abendmahl Leonardos
eigentlich so herausragend? Der Renaissance-Künstler wollte sich bei seinem
Gemälde von dem durch die florentinische Wandmalerei geprägten Bildaufbau
lösen. Dort stehen die Figuren dem Betrachter fast wie Statuen gegenüber.
Leonardo entschied sich, nicht wie sonst üblich die Einsetzung des Abendmahles
darzustellen – er zeigt vielmehr den dramatischen Augenblick, in dem Jesus den
Jüngern offenbart, dass ihn einer von ihnen verraten wird. Unter den Zwölfen
löst diese Ankündigung, je nach Temperament, Unruhe, Aufregung, ja Aufruhr aus;
die Körpersprache der Hände zeigt das Entsetzen, das sich breitmacht – ratlose
Gesten überall. Aufzeichnungen, Ideenskizzen und unmittelbare Vorzeichnungen zum Abendmahl belegen, dass der Künstler einen sehr hohen Aufwand betrieb, um eine besondere Vielfalt expressiver Gestik und Mimik zu erreichen.
Meisterhaft hat Leonardo die spannungsgeladene
Komposition durch vier bewegte Dreiergruppen gegliedert. Judas, der auf
früheren Darstellungen meist isoliert an der gegenüberliegenden Tischseite
sitzt, bildet hier eine Gruppe mit den prominentesten Aposteln: mit Petrus und
Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu. Johannes ruht nicht, wie sonst oft
wiedergegeben, an der Brust des Herrn, sondern hat sich zu Petrus hingeneigt. Denn Petrus, der sich mit seinen Hüften noch vor Andreas befindet, beugt sich hinter Judas so weit nach vorne, dass er Johannes zu seinem eigentlichen Nachbarn macht. So kann er ihm etwas ins Ohr flüstern: Johannes soll Jesus fragen, wer der
Verräter ist (Johannes 13,24). Johannes’
besondere Nähe zu Jesus macht Leonardo dennoch auf subtile Weise deutlich, indem er die beiden einander angleicht: „Leonardo expressed this likeness in their shared detached meditative appearances, plus their similar triangular formations, and the identical blue and red colors (although reversed) of their dresses and mantles“ (Polzer 2011, S. 23).
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Domenico Ghirlandaio: Ausschnitt aus dem Letzten Abendmahl (1480 fertiggestellt); Florenz; Chiesa Ognissanti |
Petrus hält in seiner Rechten einen Dolch, dessen Klinge gut 20 cm lang ist. Das Messer spielt auf einen Zwischenfall an, der sich später am Tag des Abendmahls ereignen wird: Weil er seinen Herrn beschützen will, schlägt Petrus bei der Gefangennahme Jesu einem Knecht des Hohepriesters das Ohr ab (Matthäus 26,47-51). Domenico Ghirlandaio hat auf einem Abendmahl-Fresko für die Ognissanti-Kirche in Florenz (1480 vollendet) Petrus mit einem ähnlichen Dolch dargestellt. Die Spitze des Messers ist bei Leonardo auf Bartholomäus gerichtet, der am linken Ende der Tafel steht: Das Messer ist das Attribut des Bartholomäus, weil es auf sein Martyrium hinweist – er wurde, so die Legende, bei lebendigem Leib gehäutet. Michelangelo hat Bartholomäus später an der Altarwand der Sixtina in seinem Jüngsten Gericht wiedergegeben, ein Messer in der einen und seine eigene ihm abgezogene Haut in der anderen Hand haltend (siehe meinen Post „Meine Augen werden ihn schauen“).
Dass sich Johannes von Jesus ab- und Petrus zuwendet, hebt Leonardo besonders nachdrücklich hervor, indem er den roten Gewandärmel Christi und den roten Umhang des Johannes in spitzem Winkel gegeneinander setzt. Das so entstehende Dreieck wird in seiner Breite noch durch die dunkle Rückwand betont, die sich an dieser Stelle wie ein Pfeiler zwischen die beiden Männer senkt. Johannes und Petrus wiederum schieben sich hinter Judas so nah zusammen, dass dieser an den Tisch gedrückt wird, sich aufstützen muss und dabei ein Salzfass umwirft.
Jack Wasserman sieht in dem umgekippten Salz eine Anspielung auf Matthäus 5,13: Jesus spricht in der Bergpredigt davon, dass seine Jünger das „Salz der Erde“ sein sollen; auch in Markus 9,50 verwendet er die Salz-Metapher: „Das Salz ist gut; wenn aber das Salz nicht mehr salzt, womit wird man’s würzen? Habt Salz bei euch und habt Frieden untereinander!“ (LUT). Leonardo scheint durch das verstreute Salz anzudeuten, so Wasserman, dass die Jünger im Begriff sind, ihre „Salzkraft“ zu verlieren, weil sich Zwietracht unter ihnen auszubreiten beginnt: „I propose, therefore, that Leonardo conceived the spilling of the salt as a symbol of discord, the breach of the new testament rule of fellowship. The symbol becomes literal in the painting in the clamorous, anguished, and confused behaviour of the apostles. The have momentarily set aside love and peace as they react aggressively to Christ’s pronouncement that one of them would betray him“ (Wasserman 2003, S. 70).
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V.l.n.r.: Bartholomäus, Jakobus der Jüngere, Andreas – und das Messer von Petrus |
In der Dreiergruppe rechts von Jesus hebt Thomas den Finger steil nach oben, als
habe er etwas Bedeutungsvolles zu sagen; bestürzt beugt sich Jakobus d.Ä. mit ausgebreiteten Armen
zurück, während Philippus, die Hände an die Brust haltend, betrübt fragt: „Herr, bin ich es?“ (Matthäus 26,22). Bei den Aposteln am Tischende links handelt es sich um
Bartholomäus, Jakobus d.J. und Andreas, rechts außen sind Matthäus,
Thaddäus und Simon abgebildet. Matthäus, leicht nach vorn gebeugt, hat sein Gesicht Simon zugewandt, sodass er im Profil zu sehen ist, während sich seine Arme in die entgegengesetzte Richtung strecken und auf Christus deuten. „Zugleich ergibt sich durch die erhobenen Arme eine formale Verbindung zu der anderen Jüngergruppe, denn die Rechte des Matthäus befindet sich fast unter der linken Hand des Philippus, der bereits zur nächsten Gruppe gehört“ (Monstadt 1994, S. 250). Offensichtlich diskutieren die drei Männer intensiv über etwas, dass sich soeben ereignet hat. Wie auf der gegenüberliegenden Seite sind sie auf gleicher Höhe angeordnet. „For the sake of symmetry the central figure, Thaddeus, is set in back of these flanking him, similar to the position of James Minor at the opposite side of the table“ (Polzer 2011, S. 25).
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Die Körperhaltung des Matthäus ist vor allem von Künstlern des Barock unzahlige Male kopiert worden |
Simon an der rechten Schmalseite der Tafel ist links außen der bereits erwähnte Bartholomäus gegenübergestellt. Leonardo hat sie offensichtlich als Kontrastfiguren konzipiert: Der deutlich ältere Simon ist nach der Ankündigung Jesu sitzen geblieben und hat die Hände mit den Innenflächen nach oben etwa bis in Brusthöhe erhoben; er reagiert eher zurückhaltend und scheint ratlos, man „vermeint fast noch ein Achselzucken zu sehen“ (Monstadt 1994, S. 250). Der junge Bartholomäus dagegen ist aufgesprungen, beugt sich nach vorn und stützt sich mit den Händen in sichtbarer Anspannung auf dem Tisch ab. Die unterschiedlichen Temperamente der beiden Männer werden auch durch ihre Kleidung verdeutlicht: „Über Simons Schulter fällt ein schwerer Umhang, der die Beharrlichkeit des Sitzens noch betont. Bei Bartholomäus hingegen ist der Umhang locker über der zum Betrachter zeigenden Schulter zusammengeknotet, so daß sein Bewegungsimpuls nicht behindert wird“ (Monstadt 1994, S. 251).
Andreas zeigt sein Erstaunen, indem er beide Unterarme vor der Brust erhebt, die offenen Handflächen dem Betrachter zugewandt. Jakobus d.J. wirkt zwischen Bartholomäus und Andreas fast wie eingekeilt; sein Gesicht ist ins Profil gedreht. Seine rechte Hand hat er auf die Schulter von Andreas gelegt, die Linke führt er hinter dessen Rücken vorbei und berührt den Oberarm Petri. Anders als bei der Trias am Tischende rechts sind die Köpfe dieser drei Apostel alle auf Christus gerichtet, wobei einer dem anderen auf gleicher Höhe folgt. Damit entsteht auch auf dieser Seite eine Verbindung zwischen den Jüngergruppen. Der für Abendmahlsdarstellungen ansonsten untypische Teller mit den Fischen, der vor Andreas und Petrus steht, ist wohl als Hinweis auf die Berufung und Aussendung der beiden Jünger zu sehen: Andreas und Petrus waren früher Fischer und sollten für Christus „Menschenfischer“ werden (Markus 1,16-18).
Auch die Tischordnung selbst verweist auf biblische Ereignisse. Im Markus-Evangelium wird berichtet, dass Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Jesus darum bitten, in seinem Reich die Plätze zu seiner Rechten und Linken einnehmen zu dürfen (Markus 10,37). Diese Plätze hat Leonardo ihnen bereits beim Abendmahl gewährt ... Im Matthäus-Evangelium heißt es, Petrus, Johannes und Jakobus seien die Begleiter Jesu auf dem Weg zum nächtlichen Gebet am Ölberg gewesen, bis Judas mit den Häschern erscheint (Matthäus 26,37). Eben diese vier Apostel ordnet Leonardo auch auf seinem Fresko um Jesus an.
Die größte Dynamik ereignet sich in der
Bildmitte, um Christus herum, wo sich seine aufrüttelnden Worte am
unmittelbarsten und intensivsten auswirken. Thomas hat
seinen Platz an der Tafel
verlassen und ist hinter Jakobus d.Ä. getreten, sodass nur sein Kopf und seine
rechte Hand sichtbar sind. Seine Geste gibt ihn zu erkennen, „denn wenn
irgendein Mensch in der Geschichte durch seinen Finger
definiert wurde, dann sicherlich er“ (King 2014, S. 316): Nach seiner Auferstehung wird Jesus Thomas auffordern, seine Nägelmale und die Seitenwunde zu berühren, damit er seine Glaubenszweifel überwindet (Johannes 20,24-29). Ob Thomas mit seiner Geste unwissentlich den Ort der Herkunft Jesu und seine spätere Himmelfahrt andeutet, wie Brigitte Monstadt annimmt, sei dahingestellt. Raffael hat diesen erhobenen Zeigefinger in seinem Wandgemälde Die Schule von Athen von 1511 als Zitat nachgeahmt: Bei dem auf diesem Fresko dargestellten Philosophen Platon handelt es sich gleichzeitig um ein Porträt Leonardos. Die ausgebreiteten Arme Jakobus d.Ä. wiederum sind auf den ersten Blick Ausdruck tiefen Entsetzens, gleichzeitig weisen sie aber auch auf die weitere Leidensgeschichte Jesu und seine bevorstehende Kreuzigung voraus.
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An ihrem Zeigefinger sollt ihr sie erkennen (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die zentrale Gestalt des Bildes ist Christus.
Auf ihn zielt die gesamte Komposition hin, er bildet den Mittelpunkt: Alle
Fluchtlinien des perspektivisch vertieften Raumes treffen sich in ihm. Die jüngste Restaurierung hat sogar das Nagelloch in der Schläfe Christi sichtbar gemacht, das als Ausgangspunkt für Leonardos Perspektivkonstruktion diente. Der Florentiner Maler Masaccio (1401–1428) hat in seinem berühmten Fresko Der Zinsgroschen (entstanden zwischen 1425 und 1428) ebenfalls die Perspektivlinien im Haupt Christi gebündelt; er kann mit diesem Wandbild auch hinsichtlich des komplexen Gruppengefüges der Jünger um Jesus als eine Art Vorläufer für Leonardos Abendmahl gelten.
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Masaccio: Der Zinsgroschen (1425-1428); Florenz, Santa Maria del Carmine (für die Großansicht einfach anklicken) |
Christus ist die einzige Person, die in reiner Vorderansicht gezeigt und von niemandem verdeckt oder bedrängt wird. Die
ausgeprägten Abstände zu beiden Seiten isolieren Jesus körperlich von den
Aposteln, während ihn seine Würde, seine Erhabenheit und völlige Ruhe auch
psychologisch von ihnen unterscheidet; gelassen und „wie der Mittelpunkt einer Waage“ (Monstadt 1994, S. 248) sitzt er zwischen den zwölf bestürzten und aufgeregt gestikulierenden Männern. „Head gently tilted to his left side in contemplative thought, he seems detached from all earthly event, as if he were already joined in spirit with his Heavenly Father“ (Polzer 2011, S. 30). Das strenge
gleichseitige Dreieck seiner Silhouette, gerahmt von dem breiteren
mittleren
Fenster und dem krönenden Segmentbogen darüber, betont die Göttlichkeit Jesu. Darüber hinaus ist seine Gestalt deutlich größer als die
vieler Apostel: Er ragt genauso hoch auf wie Bartholomäus, obwohl er
sitzt und der Jünger steht. Die geöffneten Arme Jesu signalisieren nicht nur Ergebenheit in seine dem Abendmahl folgende Passion. Sie entsprechen auch der ikonografisch festgelegten Gebärde eines „Schmerzensmannes“; Andrea Mantegna (1431–1506) hat diesen Typus in seiner etwa zeitgleich entstandenen Engelspietà ebenfalls aufgegriffen.
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Der Mittelpunkt des gesamten Freskos: Christus |
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Andrea Mantegna: Engelspietà (um 1495/1500); Kopenhagen,
Statens Museum for Kunst |
Jesu Antlitz wirkt hoheitsvoll und makellos.
Rein, edel, anmutig – so zeigt die italienische Hochrenaissance die Gestalt
Christi, denn das Göttliche sollte Ausdruck finden im Ideal vollkommener
körperlicher Schönheit und Harmonie. Jesu linke Hand weist auf ein Brot vor ihm auf der Tafel. Nicht nur das: Er richtet auch seine Augen auf dieses Brot. Bei aller Aufregung um ihn herum scheint ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu gelten. Vom Antlitz Christi als dem Zentrum des Bildes folgt der Betrachter dem nach unten gerichteten Blick Jesu, entlang der Diagonale seines linken Armes bis zu seiner Hand und in der Verlängerung dieser Linie bis zu dem vor ihm liegenden Brot. Gleichzeitig ist Jesu rechte Hand nach einem gefüllten Weinglas ausgestreckt. So werden die Zeichen des Abendmahles nachdrücklich hervorgehoben.
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Matthäus 26,23: „Der die
Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten.“
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Aber Jesus greift mit seiner Rechten auch nach einer Schüssel, in die er und Judas
nach Matthäus 26,23 im selben Moment die Hand tauchen werden, wodurch sich der
Verräter zu erkennen gibt. Die beiden ausgestreckten Hände sind meisterlich in perspektivischer Verkürzung wiedergegeben und scheinen sich vom Aussehen her fast zu spiegeln. Leonardo verschmilzt in seinem Fresko also zwei Situationen, die nach biblischem Bericht eigentlich aufeinander folgen: die Bekanntgabe des Verrats und die Einsetzung des Abendmahls. Die unterschiedliche Haltung der beiden Hände erinnert an Giottos Jüngstes Gericht in der Arenakapelle in Padua. Dort sitzt Christus, der Weltenrichter, zwischen jeweils sechs Jüngern und verweist die Menschen mit seiner linken Hand in die Hölle; mit der Rechten ruft er die Geretteten zu sich ins Himmelreich empor. Auf diese Weise deutet Leonardo an, dass Judas von Christus zur Verdammnis verurteilt wird. Für Joseph Polzer wiederum deutet die Gestik Jesu darauf hin, dass der Sohn Gottes in seine lange, im Johannes-Evangelium wiedergegebene Abschiedsrede vertieft ist (Kapitel 13,34-17,26); sie setzt ein, nachdem Judas das gemeinsame Mahl verlassen hat: „Christs passive hand, coordinate with his meditative state, invites the beholder to share his inner thoughts“ (Polzer 2011, S. 31).
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Giotto: Christus, der Weltenherrscher (Ausschnitt aus dem Jüngsten Gericht, 1303-1305); Padua, Arenakapelle |
Leonardos Abendmahl bleibt ein Torso,
mehr eine Ruine als ein strahlend wieder errichteter Palast. Unter einigen
Übermalungen des in Italien Cenacolo genannten Bildes („Das große Speisen“) haben
die Restauratoren gar kein Original mehr gefunden. Die ganze linke Hälfte
stammt strenggenommen nicht von Leonardo, höchstens noch die Komposition sei
von ihm, so die damalige Chefrestauratorin Pinin Brambilla: „Der Kopf von Judas
zum Beispiel ist im Original nicht mehr vorhanden, da müssen wir die Fälschung
lassen.“ Auf der rechten Seite dagegen konnte sie die Gesichter freilegen, die
Leonardo seinen Aposteln ursprünglich gegeben hatte. Dennoch: Auch wenn das Abendmahl
ein nur noch bedingt vorhandenes Meisterwerk ist, vermag das geniale
Zusammenspiel von Zentralperspektive, Geometrie der Formen und Choreographie
der Personen bis auf den heutigen Tag zu faszinieren.
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Phillippe de Champaigne: Abendmahl (um 1650); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Mailänder Fresko galt rasch als Maßstab
und Messlatte für alle nachfolgenden Künstler, die sich mit diesem
neutestamentlichen Motiv auseinandersetzten. Leonardos Komposition wurde immer
wieder bewundernd aufgegriffen, variiert, umgeformt und auch anderen Medien wie
dem Film einverleibt – für die meisten bleibt es bis heute das erste Bild, das
uns vor Augen steht, wenn wir an die neutestementliche Abendmahlszene denken.
Literaturhinweise
Eichholz, Georg: Das Abendmahl Leonardo da Vincis. Eine
systematische Bildbiographie. scaneg Verlag, München 1998;
King, Ross: Leonardo und Das Letzte Abendmahl. Albrecht
Knaus Verlag, München 2014;
Monstadt, Brigitte: Judas beim Abendmahl. Figurenkonstellation und Bedeutung in
Darstellungen von Giotto bis Andrea del Sarto. scaneg Verlag, München 1994, S.
240-274;
Nagel, Ivan: Gemälde und Drama. Giotto – Masaccio –
Leonardo. Suhrkamp Verlag 2009, Frankfurt am Main. S. 218-249;
Polzer, Joseph: Reflections on Leonardo’s
Last Supper. In: artibus et historiae 63 (2011), S. 9-37;
Schäfer, Karl Th.: Das Abendmahl des Leonardo da Vinci. In: Festschrift für Herbert
von Einem zum 16. Februar 1965. Verlag Gebr. Mann, Berlin 1965, S. 212-221;
Wasserman, Jack: Leonardo da Vinci’s Last Supper: the Case of the Overturned
Saltcellar. In: artibus et historiae 48 (2003), S. 65-72;
Wasserman, Jack: Leonardo da Vinci’s Last
Supper. In: artibus et historiae 55 (2007), S. 23-35;
Zöllner, Frank: Leonardo da Vinci. Gemälde, Zeichnungen und
Skizzen. Taschen, Köln 2007, S. 104-114; 187-189;
Zöllner, Frank: Leonardo da Vincis „Abendmahl“ zwischen
Kanonisierung und Kontextualisierung. In: Kristin Marek/Martin Schulz (Hrsg.),
Kanon Kunstgeschichte II. Einführung in Werke, Methoden und Epochen. Neuzeit.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015, S. 193-211;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 7.
April 2021)
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