Sonntag, 26. Januar 2014

Auf kleinem Format groß rauskommen – Albrecht Dürer porträtiert Elsbeth Tucher


Albrecht Dürer: Bildnis der Elsbeth Tucher (1499); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
(für die Großansicht einfach anklicken)

Elsbeth Tucher gehörte im ausgehenden 15. Jahrhundert zu einer der mächtigsten und angesehensten Familien Nürnbergs. Dass Albrecht Dürer (1471–1528) mehrere Mitglieder dieses wohlhabenden Patriziergeschlechts porträtierte, belegt den künstlerischen Ruf, den er sich damals in seiner Heimatstadt bereits erworben hatte. Sein Bildnis der Elsbeth Tucher gehört zu den bekanntesten Porträts der deutschen Renaissance – denn von 1961 bis 1992 zierte ihr Kopf den 20-DM-Schein der Bundesrepublik Deutschland. Die grafische Version gibt Dürers malerische Vorlage recht originalgetreu wieder; künstlerische Freiheiten erlaubte sich der Grafiker allein in dem beiseitig über die Schultern herabfallenden Tuch und der plastischen Stickerei des Haubenornaments.

Weder der Name des Künstlers noch der der Porträtierten wurde auf der Banknote erwähnt

Dürer konzentriert sein Porträt der Elsbeth Tucher in einem engen Bildausschnitt auf Kopf und Büste, die rechts von einem Brokatvorhang mit Granatapfelmuster und links von einem Landschaftsausblick hinterfangen werden. Die Räumlichkeit ist wenig definiert: Wo in vergleichbaren Bildkompositionen ein Wandvorsprung oder eine Steinkante den Übergang zwischen einer Fensteröffnung und einer stoffbespannten Fläche im Inneraum anzeigen, bricht das Textilmuster des Kasseler Porträts abrupt ab. „Es bleibt somit ungewiss, ob es sich hierbei um eine textilverhüllte Wand oder eine heabhängende, womöglich einen Teil der Fensteröffnung verhüllende Stoffbahn handelt (Carrasco 2018, S. 35).

Trotz des relativ kleinen Bildformats (29 x 23 cm) entwickelt Elsbeth eine fast monumentale Präsenz: „Über dem sockelartigen Dreieck aus Hals und herabfallenden Schultern erhebt sich der durch die mächtige Haube groß wirkende Kopf geradezu statuarisch und nimmt, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehend, ein Drittel des Bildes ein“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 86). Da eine grenzstiftende Brüstung fehlt, wirkt die Figur unmittelbar an den Betrachter herangerückt. Das schmal zulaufende Gesicht, das von einem energischen, knochig hervortretenden Kinn mit Grübchen abgeschlossen wird, und die ausgeprägten, hohen Wangenknochen „legen in ihrer Eigenart ebenso wie der lange, schmale Hals und die stark abfallenden Schultern eine präzise Beobachtung und Erfassung des Modells durch den Künstler nahe“ (Carrasco 2018, S. 33). Den Namen der Dargestellten hat Dürer rechts oben auf dem Vorhang platziert: „ELSPET NICLAS TUCHERIN 26 ALT 1499“.

Gesicht und Blick sind nach links gerichtet. Die 26-jährige Elsbeth wendet sich nämlich ihrem Ehemann Nikolaus Tucher zu, der auf dem verschollenen linken Flügel des Ehepaar-Diptychons zu sehen war. Vom unteren Bildrand überschnitten, sind nur die Spitze ihres Daumens, des Mittel- und Ringfingers der rechten Hand sichtbar, die einen Goldring mit rot-schwarzen Steinen hochhalten. Vermutlich handelt es sich um den Trauring, der auf den Hochzeitstag verweist. Elsbeth trägt ein grünes Kleid mit Goldbordüre, darunter ein kostbares weißes Untergewand mit schlangenförmigen Stickereien, dem die Buchstaben „WW“ eingewebt sind.  Eine breite goldene Kordel oder Kette verschwindet an den Schultern unter dem Ziersaum des reich gefältelten Hemdes. Das Kleid wird von einer Goldbrosche mit den Buchstaben N und T gehalten, den Initialen ihres Mannes. „Das hierfür verwendete Blattgold reflektiert auf der technischen Ebene die Kostbarkeit des dargestellten Schmuckes“ (Carrasco 2018, S. 34).

Die Weiß in Weiß gewebte, mit ovalen Mustern versehene Haube hält ein goldenes Stirnband, das mit der bunten – bis heute nicht erklärbaren – Buchstabenreihe M H M N S K verziert ist. Das dünne weiße Tuch der Haube, das weich in die Stirn fällt und über der Schulter liegt, umfasst das Haar in einem glatten, runden Gebilde. Wie es sich damals für eine verheiratete Frau gehört, ist Elsbeths Haar von der Haube vollends verdeckt. Es handelt sich um das traditionelle „Steuchlein“, bestehend aus der wulstartigen, rückseitig flachen und hier mit hellem Gitterornament verzierten Unterhaube, einer Zierborte, der sogenannten Pleide, und dem darüberliegenden Schleiertuch, das im Nacken gebunden ist und dessen langes Ende über die linke Schulter fällt. Über der Stirn hängt das zarte, fast transparente Gewebe leicht gekräuselt ins Gesicht, dessen kantige Formen es in wirkungsvollem Gegensatz einrahmt.  
Antlitz und Gewand wurden von Dürer in sorgfältiger Feinmalerei ausgeführt, der Brokatbehang und die Landschaft – der Fensterausschnitt zeigt ein bewaldetes Areal vor fernen Bergen und unter einem bewölkten Himmel – „wirken dagegen eher summarisch, sind stärker zeichnerisch belassen“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 86). Der Tiefenzug dieser Landschaft mit ihrer aufsteigenden Wald- und Bergkette (deren Diagonale eine Fortsetzung von Elsbeths rechter Schulterlinie bildet) zieht den Blick des Betrachters weiter nach links zum inzwischen verlorenenen Bildpendant des Ehemannes.
Albrecht Dürer: Bildnis des Hans Tucher (1499); Weimar, Kunstsammlungen
Albrecht Dürer: Bildnis der Felicitas Tucher (1499); Weimar, Kunstsammlungen
Parallel zu dem Ehepaar-Doppelbildnis von Nikolaus und Elsbeth Tucher entstand 1499 ein weiteres, und zwar von seinem Bruder Hans Tucher und dessen Frau Felicitas, das sich heute in den Weimarer Kunstsammlungen befindet. Die beiden Diptychen sind kompositorisch eng aufeinander abgestimmt: Auch hier sind die Porträtierten als Brustbilder im Dreiviertelporträt und in sehr knappem Bildausschnitt dargestellt. Dürer zeigt uns ebenfalls nur einige Finger der rechten Hand, die eine Blume bzw. einen Ring halten, und wir sehen wiederum im Hintergrund einen Stoffbehang mit Granatapfel-Muster auf der einen und einen Landschaftsausblick hinter einer Steinbrüstung auf der anderen Seite.
Die Vorhänge auf diesen vier Bildnissen imitieren, so haben Vergleiche mit erhaltenen Textilien gezeigt, mit Goldfäden lancierte Stoffe oder Gewebe aus verschiedenartigen Seiden aus dem nördlichen Italien, wie sie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hergestellt wurden. Da die Kaufmannsfamilie Tucher intensiven Handel mit Norditalien trieb, dürften die Stoffbehänge auf den Porträts „mit den Wünschen oder sogar Vorgaben der Auftraggeber zusammenhängen, da das Vorhangmotiv auf die Lebenspraxis bzw. den Beruf der Patrizierfamilie anspielt“ (Hirschfelder 2012, S. 111). Zu den Tucher-Brüdern und ihren Frauen hatte Albrecht Dürer sicherlich auch schon vor der Anfertigung dieser Bildnisse Kontakt, und zwar durch nachbarliche Nähe – wohnten sie doch am Nürnberger Milchmarkt, also unweit von Dürers Vatershaus in der Burgstraße. Die persönliche Bekanntschaft und Vertrautheit dürfte die Vergabe dieser Porträtaufträge sicherlich begünstigt haben.
Wolfgang Beurer: Porträt eines Mannes (1487); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Michael Wolgemut: Bildnis Levinus Memminger (um 1485);
Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Dürer hat für die repräsentativen Tucher-Porträts auf einen Bildnistypus zurückgriffen, der bereits in den 1480er-Jahren von dem am Mittelrhein tätigen Maler Wolfgang Beurer entwickelt worden war; der Nürnberger Künstler und Beurer waren sich wahrscheinlich persönlich bekannt. Auch auf Porträt des Levinus Memminger von der Hand Michael Wolgemuts, Dürers Lehrmeister von 1486 bis 1490, ist in diesem Zusammenhang zu verweisen. Sowohl der knappe Bildausschnitt wie auch der Fensterausblick und das Brokattuch im Hintergrund könnten von diesen Vorbildern angeregt sein. Durch die Prägnanz, mit der Dürer die Züge der Dargestellten erfasst, verschiebt sich die Wertigkeit dieses Schemas; die Tucherin wirkt weit präsenter und beherrschender als die Gestalten der älteren Werke. Nicht zuletzt differenziert Dürer auch die Landschaft in einer neuartigen Weise, indem er sie einerseits mit weniger ablenkenden Details versieht und anderseits einen dramatischen Wolkenhimmel einführt, wie er dem stets blauen Äther des 15. Jahrhunderts noch fremd war“ (Kemperdick 2013, S. 98).
Albrecht Dürer: Selbstbildnis (1498); Madrid, Museo del Prado
Albrecht Dürer: Haller-Madonna (um 1498), Washington, National Gallery of Art
Das Motiv von Fenster und Landschaftsausblick in paralleler Anordnung hinter der Figur hatte Dürer bereits in seinem Madrider Selbstbildnis von 1498 (siehe meinen Post
Seht her, ich bin ein Künstler!“) erprobt. Dieses Schema kennzeichnet auch die Komposition der sogenannten Haller-Madonna: Mit dem Ehrentuch, das Maria dort hinterfängt wird die Kombination aus Fenster und Wandbehang als Hintergrund in Dürers Porträtmalerei eingeführt. 
Albrecht Dürer: Bildnis Oswolt Krel (1499); München, Alte Pinakothek
Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock (1500); München, Alte Pinakothek
Die zeitlich nachfolgenden Tucher-Bildnissen
zeigen eine solche Raumsituation wiederum  in reduzierter Form – die räumlichen Angaben beschränken sich lediglich auf eine rückwärtige Fensterbank – , die dann in dem großformatigen Porträt des Oswolt Krel nochmals variiert wird: Dargestellt ist die Halbfigur des Kaufmanns, dessen rechter Arm auf einer nicht sichtbaren Brüstung ruht, vor einem roten, offenbar textilen Fond, der die Gestalt von dem schmalen Landschaftsausblick links abschirmt. Durch den Wegfall der Fensterbank, die die Figuren der Tucher-Porträts in einem Innenraum lokalisiert, verschwimmen hier die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum in noch stärkerem Maß. „Diese Bildnisgruppe markiert den Schlusspunkt in der Auseinandersetzung mit dem Fenstermotiv in Dürers Porträtmalerei, die nach der Zäsur des außerordentlichen Selbstbildnisses von 1500 dauerhaft zum monchromen Grund zurückkehrt“ (Carrasco 2018, S. 54; siehe meinen Post Stolze Bescheidenheit).

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010;

Carrasco, Julia: Albrecht Dürers Bildnis der Elsbeth Tucher. Gedächtnis, Tradition und Identität im deutschen Porträt vor 1500. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2018;

Hirschfelder, Dagmar: Dürers frühe Privat- und Auftragsbildnisse zwischen Tradition und Innovation. In: Daniel Hess/Thomas Eser, Der frühe Dürer. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2012, S. 101-116;
Kemperdick, Stephan: „Nach mir selbst kunterfeit“. Bildnisse und Selbstbildnisse. In: Jochen Sander (Hrsg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Städel Museum, Frankfurt am Main 2013, S. 92-100;

Richter, Kerstin: Unverwechselbar. Zur Porträt-Tradition bis 1500 in Deutschland und den Niederlanden. In: Messling, Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.), Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 35-43.

(zuletzt bearbeitet am 15. November 2024)

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