Albrecht Dürer: Der hl. Hieronymus im Studierzimmer (1521); Lissabon, Museu Nacional de Arte Antiga (für die Großansicht einfach anklicken) |
Während Albrecht Dürers niederländischer Reise 1520/21 entstanden mehr als zwanzig (zumeist nicht erhaltene) Gemälde, darunter auch ein heute in Lissabon aufbewahrter Hl. Hieronymus. Keine andere Tafel des Nürnberger Meisters ist im 16. Jahrhundert so häufig kopiert, nachgeahmt und variiert worden. Aus Dürers Tagebuch lassen sich die Entstehungszeit recht genau eingrenzen und der Empfänger zweifelsfrei ermitteln. Das Werk wurde für Rodrigo Fernandes de Almada von der portugiesischen Handelsniederlassung in Antwerpen geschaffen, dem Dürer es Mitte März 1521 als Geschenk überreichte.
Albrecht Dürer: Kopf eines 93-jährigen Mannes (1521); Berlin, Kupferstichkabinett
Albrecht Dürer: Kopf eines 93-jähriges Mannes (1521); Wien, Albertina |
Als Modell für den Kopf des Kirchenvaters fand Dürer in Antwerpen einen 93-jährigen langbärtigen Alten, den er mit geöffneten Augen porträtierte. Aus dieser Naturstudie entwickelte er dann eine Pinselzeichnung (schwarze Tusche, weiß gehöht auf grauem Tonpapier), die dem Hieronymus-Kopf des ausgeführten Gemäldes nahekommt. Sie befindet sich heute in der Wiener Albertina. Die handwerkliche Perfektion der Pinselzeichnung ist nicht allein aus ihrer Funktion – Vorstudie zu einem Gemälde – zu erklären. „An fremdem Ort will Dürer seine zeichnerische Virtuosität, ja Einmaligkeit beweisen“ (Mende 2003, S. 506), vor allem angesichts der erdrückenden Konkurrenz vor Ort. Denn Dürer zeichnete und malte wie schon 1506 in Venedig auch in Antwerpen quasi öffentlich in seiner Herberge oder im Atelier eines befreundeten Künstlers. Zu Recht ist die Wiener Pinselzeichnung als eines der vollkommensten Meisterwerke Dürers gerühmt worden. Drei andere, das Bild vorbereitende Pinselzeichnungen entstanden gleichzeitig oder schlossen sich an.
Die traditionelle Hieronymus-Ikonografie, der Dürer sich lange verpflichtet fühlte (siehe meine Posts „In der Höhle mit dem Löwen“, „Löwe mit Greis“ und „Der gelassene Gelehrte“), zeigt den Bibelübersetzter und Kirchenvater „im Gehäus“, also in seiner Studierstube oder als Büßer in der Wildnis. Obligatorische Attribute sind in der Regel ein liegender Löwe und/oder ein abgelegter Kardinalshut – Dürer verzichtet jedoch in seinem Lissabonner Gemälde auf beides. Neu und vorausweisend an seiner Darstellung ist die Idee, Hieronymus wie mit einem Teleobjektiv an den Betrachter heranzuholen, ihn als enge Halbfigur ohne erkennbare Raumtiefe zu präsentieren.
Das Gemälde Dürers wird bestimmt durch eine von links oben nach rechts unten verlaufende Diagonale. Den Ausgangspunkt bildet ein naturalistisch gemaltes Kruzifix. Es ist der Sühnetod Christi, über den Hieronymus mit in die Hand gestütztem Kopf nachsinnt. Die Abwärtsbewegung endet sozusagen mit der Einsicht in die menschliche Vergänglichkeit, symbolisiert durch den Gestus der linken Hand, deren Zeigefinger auf einen Totenschädel weist. Seinen Kopf stützt Hieronymus in die rechte Hand– ein Motiv mit antiken Wurzeln. Dürer hat die Geste vor allem als Ausdruck der Melancholie berühmt gemacht. In der Wiener Pinselzeichnung blickt der Kirchenvater mit niedergeschlagenen Augen in ein vor ihm aufgeschlagenes Buch, über dessen Text er reflektiert. Im Gemälde aber blickt Hieronymus den Betrachter direkt an – Dürer hat also während der Arbeit eine bedeutsame Planänderung vorgenommen.
Dürers Lissabonner Hieronymus war wohl nicht als Heiligenbild gedacht, das der häuslichen Andacht dient. Im Zuge der Reformation – die in Nürnberg 1525 eingeführt wurde – bekamen Hieronymus-Darstellungen eine neue, säkulare Funktion. Der frühere „katholische“ Kirchenvater mutierte zum weltlichen Patron der Humanisten, Gelehrten und Übersetzer. Und spätestens mit dem Tod Dürers rückte bei der Bewertung des Gemäldes in den Vordergrund, dass es sich um ein kostbares Original des Nürnberger Meisters handelte. Das früher so wichtige Bildthema war nun zweitrangig.Lucas van Leyden: Hl. Hieronymus (1521), Oxford, Ashmolean Museum |
Der niederländische Grafiker und Maler Lucas van Leyden (1494–1533), der mit einer 1521 datierten Zeichnung das früheste und künstlerisch qualitätsvollste Echo auf Dürers Komposition geschaffen hat, legt auf seinem Blatt dem Kirchenvater das Kruzifix in die rechte Armbeuge und rückt ihn in unmittelbare Nähe des Totenschädels. Das aufwändige Bücherstillleben des Vorbilds verknappt sich bei van Leyden zu einem an den Rand geschobenen Folianten. Wie Dürer schmückt er den Kirchenvater mit einer Kalotte, der Kopfbedeckung, die zu jener Zeit von Gelehrten getragen wurde. Auch bei van Leyden fehlen Kardinalshut und Löwe. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er wie auch Dürer der Hieronymus-Kommentar des Erasmus von Rotterdam bekannt war, in dem betont wird, dass Hieronymus zwar ein Ratgeber von Papst Damasus I. gewesen, jedoch nie in den Kardinalsstand erhoben worden sei. Außerdem gehöre der Löwe nicht in die Heiligenvita des Hieronymus, sondern in die Legende des hl. Gerasimos.
Lucas van Leyden: Hl. Hieronymus (1521); Kupferstich |
Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514); Kupferstich |
Während der Niederländer in seiner Zeichnung Dürers auf den Schädel weisende Geste etwas zurückgenommen hatte, sollte er sie kurz darauf noch wesentlich „expressiver“ in einem Kupferstich verarbeiten. Van Leyden rückt den Kirchenvater auf diesem Blatt tiefer in den Bildraum hinein und führt auch die beiden Attribute Kardinalshut und Löwe wieder ein. Durch das runde Bleiglasfenster fällt scharfes Licht auf die Wand – ein Motiv, das van Leyden bei Dürers Kupferstich Hieronymus im Gehäus (1514) gesehen haben wird. Auch der Kopf von Dürers dösendem Löwen mit seinen auffälligen Schlitzaugen und runden Ohren übernimmt der Künstler haargenau, wobei er allerdings das treue Tier den Fuß seines Beschützers lecken lässt.
Quentin Massys/Werkstatt: Der hl. Hieronymus in der Zelle (um 1533); Wien, Kunsthistorisches Museum |
Der Bestand an gemalten Kopien und Varianten nach Dürers Urbild ist unübersehbar; die Nachahmung setzte quasi sofort ein. So übernahm der Antwerpener Maler Quentin Massys (1466–1530) das Modell des Deutschen – ein Beispiel hierfür ist das Gemälde im Kunsthistorischen Museum Wien. Es handelt sich dabei um eine nach dem Tod von Massys angefertigte Werkstattkopie nach einem verlorenen Original, das um 1521 entstanden sein dürfte. Massys‘ Hieronymus allerdings legt in einer Geste der Buße seine rechte Hand auf die linke Brust und scheint mit den Fingern der Linken auf den Totenschädel zu trommeln, statt für den Betrachter darauf zu deuten. Damit bleibt das Gemälde noch ganz der spätmittelterlichen Tradition verhaftet. Das Memento mori des Schädels wird durch die erloschene Kerze und das Buch auf dem Pult links, in dem eine Illustration des Jüngsten Gerichts aufgeschlagen ist, zusätzlich betont; ein Kruzifix findet sich nicht. Zur Identifizierung der Figur hat Massys sicherheitshalber wieder den – im Regal auf Büchern abgelegten – Kardinalshut eingefügt.
Marinus van Reymerwaele: Der hl. Hieronymus im Studierzimmer (um 151); Madrid, Prado |
Ohne Zeitverzug setzten ebenfalls bereits 1521 Hieronymus-Kompositionen des flämischen Malers Marinus van Reymerswaele (1490–1546) und seiner Werkstatt ein, die Dürers Vorlage manieristisch verfremdeten. Sowohl durch das Querformat als auch in der Szenerie weisen diese Kompositionen eine große Nähe zur Fassung von Massys auf. Von Dürer übernimmt van Reymerswaele den auf den Betrachter gerichteten Blick sowie die auf den Totenschädel zeigende Geste. Die Miniatur des Jüngsten Gerichtes in dem aufgeschlagenen Buch wurde von Dürers gleichnamigem Holzschnitt aus dessen Kleiner Passion übernommen. Das Kruzifix ist auf Hieronymus‘ Schreibtisch platziert, die verlöschte Kerze hingegen befindet sich auf dem Regalbrett, der übergroße Kardinalshut hängt prominent rechts neben dem Heiligen an der Wand.
Joos van Cleve: Der hl. Hieronymus im Studierzimmer (1521); Privatsammlung |
Von allen niederländischen Künstlern ahmte Joos van Cleve (1485–1541) Ders Original am getreuesten nach. Seine Hieronymus-Versionen sind allerdings noch expliziter mit Vanitas-Symbolik aufgeladen. In einer heute in einer Privatsammlung befindlichen Version sitzt Hieronymus in einem engen Raum, der an eine Mönchszelle erinnert. Das Schild „HOMO BULLA“ („Der Mensch ist eine Seifenblase“) an der hinteren Wand verweist ebenso auf die menschliche Vergänglichkeit wie die verloschene Kerze und das Stundenglas. Das Butzenscheibenfenster ist aus Dürers Kupferstich von 1514 übernommen, einschließlich der runden Lichtflecken an der Laibung.
Joos van Cleve: Der hl. Hieronymus im Studierzimmer (1521); Cambridge. Harvard Art Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
In einer Fassung im Harvard Art Museum hat Joos van Cleve Hieronymus in einem deutlich luxuriöseren Ambiente wiedergegeben. Er folgt zwar Dürers Modell, doch ist die Szene nun in einem palastartigen flämischen Renaissance-Interieur angesiedelt. Durch das Fenster ist im Hintergrund eine fruchtbare Hügellandschaft zu sehen. Auf dem Bogen einer Nische mit Lavabokessel und Becken findet sich erneut die Inschrift „HOMO BULLA“. Eine darüber auf der Wand befestigte Schriftrolle mit den Worten „RESPICE FINEM („Bedenke das Ende“) ebenso wie ein Buch mit der Aufschrift „APOCALIPSIS“ betonen das Thema der Vergänglichkeit alles Irdischen. Die zugepfropfte Weinkaraffe und der Rosenkranz sind deutliche Anspielungen auf die Jungfrau Maria, durch die Dürers Vorlage wieder der traditionellen Auffassung angenähert wird. Der immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens hatte Hieronymus einen eigenen Traktat gewidmet („De Mariae virginitate perpetu“).
Für die Verbreitung von Dürers Hieronymus-Schema hat Joos van Cleve am meisten getan. Zu einem Treffen der beiden Künstler muss es kurz nach Dürers Ankunft in Antwerpen gekommen sein, als ihm die dortige Lukasgilde (also die Malerzunft Antwerpens), deren Dekan Joos van Cleve 1520 war, einen ehrenvollen Empfang bereitete. Die Kopien und Varianten niederländischer Künstler verdeutlichen, dass in einer religiösen Übergangsperiode in den unterschiedlichen Versionen ähnlicher Kompositionen Details an die Weltanschauung des jeweiligen Kunden angepasst wurden. Anders als bei Dürer stand dabei jedoch nicht das Motiv der Selbsterkenntnis als Vorbereitung auf den Tod im Vordergrund, sondern das spätmittelalterliche theologische Verständnis von Buße.
Literaturhinweise
Harth, Astrid/Martens, Maximilian P.J.: Dürers berühmtes Bildnis des heiligen Hieronymus. Entstehung, Bedeutung und Rezeption. In: Peter van den Brink (Hrsg.), Dürer war hier. Eine Reise wird Legende. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2021, S. 429-455;
Mende, Matthias: Der heilige Hieronymus. In: Klaus Albrecht Schröder/Maria Luise Sternath (Hrsg.), Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 503-511;
Sander, Jochen (Hrsg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Städel Museum, Frankfurt am Main 2013, S. 338-343.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen