Freitag, 15. Mai 2020

In der Höhle mit dem Löwen – Albrecht Dürers Holzschnitt „Hieronymus in der Felsgrotte“ (1512)

Albrecht Dürer: Hieronymus in der Felsgrotte (1512); Holzschnitt
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Während des 15. Jahrhunderts etablierte sich das Motiv des in der Einsamkeit büßenden Hieronymus als eine der beliebtesten Heiligendarstellungen südlich und nördlich der Alpen. Insgesamt sieben Mal hat sich Albrecht Dürer (1471–1528) mit dem Bibelübersetzer und Kirchenvater (347–420 n.Chr.) künstlerisch auseinandergesetzt und dabei immer wieder den Bildtypus variiert. 1512 belieferte er den ergiebigen Markt mit gleich zwei grafischen Blätter, einer Kaltnadelradierung und einem Holzschnitt, den ich hier näher eingehen will.
Albrecht Dürer: Hieronymus in der Wüste (1497); Kupferstich
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Bereits auf seinem Kupferstich von 1497 wählte Dürer als Schauplatz für den büßenden Eremiten eine Felskulisse (siehe meinen Post „Löwe mit Greis“) – auf dem Holzschnitt von 1512 zeigt er Hieronymus in einer von Gesteinsformationen und Felsblöcken gebildeten Grotte. Allerdings wirken die Felsen nun nicht mehr schroff, unwirtlich und abweisend, sondern fügen sich zu einem intimen Naturrahmen, in dem der Eremit, barfüßig und in einfacher Kutte, seine religiösen Schriften abfasst. Er sitzt am vorderen Bildrand auf einem Felsbrocken, eine abgeschrägte Steinplatte dient ihm als Schreibpult, auf dem er Tintenfass, Federetui und Kruzifix abgelegt hat. Konzentriert, ja wie gebannt blickt Hieronymus auf das Kruzifix, die merkwürdig abgeknickte Schreibhand scheint unbewusst, wie von göttlicher Eingebung geleitet Worte auf das vor ihm liegende Papier zu bringen. Oder hält er im Schreiben inne, um über das Erlösungswerk Christi nachzusinnen?
Als Attribute sind Hieronymus der Löwe beigegeben, der der Betrachter fixiert, sowie Kardinalshut und -mantel, die ebenfalls auf dem Felsblock am rechten Bildrand liegen. Keines dieser Bildelemente, auch nicht die Figur des Eremiten, sticht besonders hervor, „vielmehr sind sie der unruhig bewegten Struktur des Höhleninneren zum Teil suchbildartig angeglichen“ (Reuße 2002, S.26). In seiner grafischen Anlage wird Hieronymus von Dürer nicht anders behandelt als die ihn umgebende Natur. Die Felsformationen schichten und türmen sich zu einer kunstvollen und doch zugleich labil wirkenden Höhle. Überall wuchern aus den Ritzen Gräser, Wurzelwerk und Sträucher, und mancher abgestorbene Baum hindert einen Felsen daran herabzustürzen.
Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514); Kupferstich
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Dürer verbindet in seinem Holzschnitt den Typus des Gelehrten, wie er ihn 1514 aus seinem berühmten Kupferstich Hieronymus im Gehäus dargestellt hat (siehe meinen Post „Der gelasssene Gelehrte“), mit dem des Einsiedlers, der sich in die Wüste Chalcis begeben hatte, um seine Anfechtungen zu bekämpfen. Damit eignete sich Dürer nicht nur eine in Oberitalien geläufige Themenkombination an, sondern orientierte sich auch an deren Bildlösungen: Wie etwa auf den kleinformatigen Andachtsbildern von Andrea Mantegna (1431–1506) oder Giovanni Bellini (1430–1516) formen auf Dürers Holzschnitt Felssteine in der Mitte des Blattes eine bogenförmige Öffnung. Sie gibt den Blick frei auf eine kultivierte, bewohnte Landschaft – die aber auf mich keineswegs als „Symbol alles Irdischen und sündhafter Versuchungen“ (Doosry 2002, S. 370) wirkt.
Andrea Mantegna: Hieronymus in der Wüste (um 1448/49);
São Paulo, Museu de Arte (für die Großansicht einfach anklicken)
Giovanni Bellini: Hieronymus in der Wüste (um 1505);
Washington, National Gallery of Art (für die Großansicht einfach anklicken)
Aus dem Inneren seiner Höhle herausblickend, nehmen wir als Betrachter die Perspektive des Eremiten ein: Durch den fensterartigen Ausblick sieht man in den wolkenlosen Himmel, auf das stille Wasser mit mehreren Schiffen und die besiedelte Bergkette am Horizont. Diese klare, lichte Zone im Zentrum des Bildes und speziell die Linie des Horizonts bringen Ruhe in die dynamisch kreisenden, aufgewühlten Höhlenformen. „Dürer gelingt mit dieser Darstellung eine Bildlösung, in der die um eine leere Mitte angelegte, kreisartig verklammerte Formstruktur die selbst gewählte Abgeschlossenheit des Eremiten überzeugend zum Ausdruck bringt“ (Reuße 2002, S. 26).  
Ein um 1515 entstandener und lange Zeit Hans Baldung Grien (1484–1545) zugeschriebener Hieronymus-Holzschnitt demonstriert, dass Dürers Bildlösungen vielfach als vorbildlich aufgefasst und deswegen nachgeahmt wurden: Der Künstler greift auf seinem Blatt sowohl den fensterartigen Ausblick auf wie auch die Schichtung der Felsen, den Baumbewuchs und andere Bilddetails. Nur Hieronymus selbst ist etwas jünger wiedergegeben; mit vollerem Haar und Heiligenschein versehen und einem langen, faltenreichen Mantel bekleidet, wird er dem Betrachter nicht wie bei Dürer von hinten, sondern von vorne präsentiert, und der Eremit schreibt auch nichts nieder, sondern liest in einem Buch. 
Unbekannter Künstler: Hieronymus in der Einöde (um 1515); Holzschnitt)
Auf der Kaltnadelradierung von 1512 kombiniert Dürer erneut den Typus des büßenden Hieronymus in der Wildnis mit dem des gelehrten Bibelübersetzers kombiniert: Der bärtige Eremit ist hier wiederum in eine schroffe Felskulisse versetzt; sein Kopf ähnelt erkennbar dem des frühen Kupferstichs von 1497. Hieronymus hat sich an einem schattigen Platz zwischen Felswänden und einer Kopfweide seine Klause eingerichtet. Auf einem rohen, in Untersicht wiedergegebenen Brett, das ihm als Tisch dient, sind Kardinalshut und -mantel, das Schreibzeug, ein aufgeschlagenes Buch und ein kleines Kruzifix verteilt. Ein schmaler Felsspalt gibt den Blick auf eine ferne Stadt am Wasser frei. Während sich Hieronymus mit gefalteten Händen dem Kruzifix zuwendet, schläft der Löwe an einer Quelle zu seinen Füßen. Zu Lebzeiten Dürers wurde von diesem Blatt keine größere Auflage angefertigt, deswegen gehörte es bald zu den gesuchten Drucken des Nürnberger Meisters. Kein Geringerer als Rembrandt (1606–1669) nahm dann im 17. Jahrhundert mit seiner Radierung Hieronymus neben einer Kopfweide (1648) die künstlerischen Impulse auf, die von Dürers Kaltnadelarbeit ausgingen.
Albrecht Dürer: Hieronymus neben dem Weidenbaum (1512); Kaltnadelradierung

Rembrandt: Hieronymus neben einer Kopfweide (1648); Kaltnadelradierung

Auf Rembrandts Blatt ist der Weidenstumpf zum dominierenden Bildmotiv geworden und Hieronymus selbst in den Hintergrund gerückt. Der Kirchenvater nutzt eine offenbar an einem Ast montierte Platte als Schreibtisch, auf dem Bücher und der obligatorische Totenschädel abgelegt sind. Auf der anderen Seite des Weidenstammes lugt der Kopf des Löwen hervor, der wie ein Hund achtzugeben scheint, dass sein Herr beim Schreiben nicht gestört wird.


Literaturhinweise
Doosry, Yasmin: Der heilige Hieronymus in der Felsgrotte. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band II: Holzschnitte. Prestel Verlag, München 2002, S. 369-370;
Pächt, Otto: Rembrandt. Prestel-Verlag, München 2005, S. 224-232;
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 26;
Schoch, Rainer: Der heilige Hieronymus in der Wüste/Der heilige Hieronymus neben dem Weidenbaum. In: Mende, Matthias/Schoch, Rainer (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 38-39 und 158-160.

(zuletzt bearbeitet am 5. August 2024)

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