Freitag, 22. Mai 2020

Ottonische Großkreuze – das Aschaffenburger Kruzifix aus St. Peter und Alexander

Triumphkreuz (um 980/1000); Aschaffenburg, St. Peter und Alexander
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Die frühesten hölzernen Großkruzifixe, die sich erhalten haben, stammen aus ottonischer Zeit. Diese Epoche des Frühmittelalters begann 919 mit der Krönung Heinrichs I. zum König von Sachsen und endete historisch 1024 mit dem Tod Heinrichs II. Die Bezeichnung Ottonen geht auf drei ihrer Kaiser zurück: Otto I. Otto II. und Otto III. 1024 wurde dann Konrad II. zum König des ostfränkisch-deutschen Reiches gekrönt – die Herrschaft ging damit auf die Dynastie der Salier über. Die spezifischen Kennzeichen ottonischer Kunst erloschen jedoch nicht parallel zur dynastischen Entwicklung, sodass allgemein bis zum Beginn des letzten Jahrhundertdrittels von ottonischer Kunst gesprochen wird. Die Zahl der noch vorhandenen ottonischen Großplastiken ist äußerst gering. Neben den wenigen überlebensgroßen Kruzifixen haben vor allem Marienfiguren im Typus der Sedes Sapientiae überdauert (siehe meinen Post „Christus auf dem Thron der Weisheit“).
Die Erinnerung an den Erlösertod Christi steht bei den ottonischen Kruzifixen im Vordergrund; die Aufforderung, mitfühlend das Leiden des Gekreuzigten nachzuempfinden („compassio“), setzt sich erst bei späteren Bildwerken durch. Betont wird der Sieg Christi am Kreuz, und zwar auch dann, wenn Christus als tot dargestellt ist. Das wichtigste ottonische Großkruzifix ist sicherlich das Ende des 10. Jahrhunderts entstandene Gerokreuz im Kölner Dom, das in diesem Blog bereits vorgestellt wurde (siehe meinen Post „Vom Christus victor zum Christus patiens“). Ein weiteres bedeutendes ottonisches Großkreuz, das in die letzten beiden Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts datiert wird, hat sich in Aschaffenburg erhalten; es befindet sich noch heute in der dortigen Stiftskirche St. Peter und Alexander und soll hier eingehender betrachtet werden.
Die Gestalt Christi steht mit ausgebreiteten Armen in aufrechter Haltung und mit nebeneinander genagelten Füßen auf einem abschüssigen Suppadaneum. Dem frontal ausgerichteten Oberkörper stehen die leicht zur linken Seite ausschwingenden Beine gegenüber, die das Hängen des Gekreuzigten andeuten. Der Kopf ist ins Profil gedreht und auf die rechte Schulter herabgesunken; die relativ schmal dimensionierten Arme sind ab dem Ellenbogen angewinkelt und nach oben geführt. Vor allem die Blockhaftigkeit des Rumpfes, dessen Breite sich im Wesentlichen von den Schultern bis zur Unterkante des Schurzes fortsetzt, vermittelt der Figur eine gleichmäßige Ruhe. Durch die dünnen und dadurch sehr langgezogen wirkenden Beine scheinen die Proportionen des Körpers leicht verzerrt, was vor allem für den zu kleinen Kopf zutrifft. Das ausdrucksstarke Haupt fällt durch das scharfe Abknicken aus der sonstigen Linienführung der Skulptur heraus und betont drastisch, dass wir hier den toten Christus vor uns haben.
Die Brustmuskulatur ist durch einen gleichmäßigen Bogen angedeutet, der von den Schultern zum Brustbein führt. Diesen Linien folgt nahezu parallel die weniger plastisch hervorgehobene Rippenzeichnung mit einer breiten Seitenwunde. An den Armen treten Sehnen und Adern hervor; die Sehnen sind geschnitzt, während die Blutbahnen erst in der Fassung mit Kitt aufmodelliert wurden. Die durch Parallellinien strukturierte Haarkappe wird gleichmäßig von der Stirn über die Ohren auf die Schultern heruntergeführt, wo die Haare sich in sechs zopfartigen, symmetrisch und ornamenthaft verteilten Strähnen vor die Schultern legen.
Das Gesicht wird von einem gleichmäßig gewellten Bart, der von den Ohren aus um das Kinn herumgeführt ist, zum Hinterkopf scharf abgegrenzt, was durch die geringe Betonung des Oberlippenbartes noch verstärkt wird. Die gerade Nase und der in den Mundwinkeln stark heruntergezogene, geschlossene Mund prägen das Antlitz. Dabei wird die herabfallende Linie der Mundwinkel durch eine von den Nasenflügeln nach unten verlaufende, sehr betonte Nasolabialfalte weiter unterstrichen. Auf diese Weise entsteht der Ausdruck von Anspannung und Schmerz. Betrachtet man das markante Antlitz des Gekreuzigten aus der Nähe, fällt auf, dass die Gesichtszüge fast asymmetrisch wirken. Erst in der Untersicht harmonisieren sich die Physiognomie und die gelängten Proportionen des Kruzifixus. Ein erhöhter Standort – ob auf einem Balken oder einer Kreuzsäule – ist deswegen sehr wahrscheinlich.
Der fast knielange Lendenschurz mit Cingulum und unten abschließender Borte sitzt auf der Hüfte des Gekreuzigten auf und wirkt an der rechten Seite leicht nach unten gezogen. An dieser Seite sitzt ein vielteiliger Knoten, dem links ein über die halbe Schurzlänge fallender und vor dem Bauch ein kleinerer, nahezu dreieckiger Stoffüberhang gegenüberstehen. Das einfache Balkenkreuz, an den der 1,95 m hohe Corpus geheftet ist, wird durch seine besondere Verzierung als siegreiche Crux gemmata charakterisiert. Das Rahmenprofil zeigt umlaufende Vertiefungen, die durch paarweise angeordnete Punkte rhythmisiert werden, wodurch der Eindruck eines mit Perlen und Edelsteinen kostbar besetzten Kreuzes entsteht. An der Vierung ist ein Kreuznimbus aufgemalt, der der Neigung des Kopfes folgt und daher leicht nach rechts unten kippt.
Der Gesamteindruck des Kruzifix wird in seiner ursprünglichen Gestaltung wesentlich durch die Fassung bestimmt worden sein und „besonders im Bereich des Rumpfes dem heute eher blockhaften Erscheinungsbild mehr Kleinteiligkeit verliehen haben“ (Beuckers 1994, S. 6). Die heutige Fassung des Aschaffenburger Gekreuzigten stammt ebenso wie die Bemalung der Kreuzrückseite aus gotischer Zeit.
Otto-Mathilden-Kreuz (um 985/990); Essen, Domschatzkammer
Die Gestalt des Aschaffenburger Kruzifix wird oft mit der Goldschmiedearbeit des Essener Otto-Mathilden-Kreuz in Verbindung gebracht (um 985/990), das jedoch nicht in gleicher Weise die scharfe Kopfdrehung ins Profil aufweist. Gemeinsame Auftraggeberin für beide Kunstwerke könnte die Äbtissin Mathilde von Essen gewesen sein (amt. 973–1011). Sie hat den Aschaffenburger Kruzifix wahrscheinlich zusammen mit dem Mainzer Erzbischof Willigis im Rahmen einer Memorialstiftung für das Grab ihres Bruders Herzog Otto von Schwaben und Bayern (gest. 982) in Auftrag gegeben. Auch das Essener Goldkreuz galt der Memoria ihres Bruders.
Triumphkreuz (um 970/1000); Gerresheim, St. Margareta (für die Großansicht einfach anklicken)
Der Gerresheimer Christus ist als Lebender dargestellt
Das größte erhaltene ottonische Holzkruzifix befindet sich in der ehemaligen Stiftskirche von Düsseldorf-Gerresheim (heute St. Margareta); die Datierung schwankt zwischen 970 und 1000. Die freigelegte Fassung hat ergeben, das der Gerresheimer Corpus im Gegensatz zum Gerokreuz und zum Aschaffenburger Kruzifix geöffnete Augen hatte und somit nicht als toter Gekreuzigter dargestellt war. Eine rechteckige Vertiefung im Hinterkopf diente einst zur Aufnahme von Reliquien.
Ringelheimer Kruzifix (um 1000); Hildesheim, Dom-Museum
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Das einzige erhaltene ottonische Monumentalskulptur, das sich relativ sicher datieren lässt, ist der Ringelheimer Kruzifixus. Er wird heute im Hildesheimer Dom-Museum aufbewahrt. Als Entstehungszeit gelten die Jahre um 1000. Beschädigungen an den Beinen knieabwärts sowie viele Risse im Lendentuch und im Körper sind auf eine Sturz der Skulptur aus großer Höhe zurückzuführen. Wie die anderen ottonischen Großkreuze war der Ringelheimer Kruzifixus sicher auch an einem erhöhten Standort aufgestellt. In frontaler Haltung steht Christus vor dem Kreuz. Der nach rechts geneigte Kopf sowie die leicht nach vorn und links gebeugten Knie deuten das Hängen des Körpers nur noch schwach an, „was vielleicht durch die steiler angebrachten originalen Arme einst stärker zum Ausdruck kam“ (Beer 2006, S. 141).Wie in Gerresheim ist Christus als Lebender dargestellt, die geöffneten Augen sind zwischen markant geschnitzten Lidrändern deutlich zu erkennen.
Bronzekruzifix (um 1060), Essen-Werden, St. Ludgerus (Schatzkammer)
Eines der spätesten, noch zur Ottonenzeit zählenden Großkreuze ist das Bronzekruzifix aus Essen-Werden, das mit einer Corpushöhe von 107,5 cm nur vergleichsweise bescheidene Dimensionen erreicht. Mit seinem tief auf die Brust gesunkenen Haupt und dem vorgewölbten Bauch erinnert die Essener Figur ein letztes Mal an das Gerokreuz, obwohl in der Seitenansicht die „flache und bretthafte Modellierung“ (Beer 2006, S. 145) vorherrscht.

Glossar
Cingulum: Gürtel 
Crux gemmata: ein mit Edelsteinen besetztes Kreuz
Fassung: Bemalung einer Skulptur
Suppedaneum: Fußbrett bei einer Kreuzigung

Literaturhinweise
Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beuckers u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2006, S. 129-152;
Beuckers, Klaus-Gereon: Der ottonische Kruzifixus in der Aschaffenburger Stiftskirche. In: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 46 (1994) S. 1-23;
Reudenbach, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 1: Karolingische und ottonische Kunst. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 319;
Kahsnitz, Rainer: Das Bild des toten Heilands am Kreuz in ottonischer Zeit. Künstlerische und theologische Probleme plastischer Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012), S. 50-101.
 
(zuletzt bearbeitet am 29. Mai 2022)

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