Dienstag, 19. Mai 2020

Die Liebe im Gestrüpp – Rembrandts Radierung „Der Omval“ (1645)

Rembrandt: Der Omval (1645); Kaltnadelradierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Auf dieser Grafik von 1645, Der Omval genannt, erprobte Rembrandt (1606–1669) zum ersten Mal ausgiebig die Kaltnadeltechnik, also das direkte Ritzen in die von ihm bereits radierte und geätzte Kupferplatte. Der Effekt dieser Nachbearbeitung besteht beim gedruckten Bild in samtig weichen Linien, die biweilen so sehr ineinanderfließen, dass tiefschwarze Flächen entstehen. Rembrandts Blatt zeigt im Hintergrund der rechten Bildhälfte spiegelverkehrt den sogenannten „Omval“, eine Landzunge zwischen dem Fluss Amstel und dem Kanal Ringvaart. In feinen Linien zeichnen sich dort die Silhouetten von Häusern, Segelbooten und Mühlen vor einem hellen Himmel ab. Als Betrachter befinden wir uns diesseits der Amstel und blicken über die Uferböschung hinweg zur anderen Seite des Flusses. Am rechten Bildrand ist die dunkle Öffnung einer Leitung erkennbar, durch die das Wasser der nahe gelegenen Polder in die Amstel floss. Auf dem diesseitigen Uferweg steht die Rückenfigur eines Mannes mit breitkrempigem Hut, der die vorbeiziehende überdeckte Fähre zu seiner Rechten zu beobachten scheint (es könnte sich auch um ein Ausflugsboot handeln).
Auf der linken Seite des Blattes wird die Ansicht des Flusses durch eine im Vordergrund aufragende Kopfweide verdeckt, die zudem von dichtem Gebüsch umwachsen ist. Genau an dieser Stelle hat Rembrandt die Kaltnadel intensiv eingesetzt und die dunkelsten und undurchdringlichsten Partien des Bildes gestaltet. Und hier nun entdecken wir – aber nur bei geduldiger und genauer Beobachtung – im dunklen Gestrüpp zwei Figuren! Es ist ein Liebespaar, das hier, umgeben von Sträuchern, Blumen und Farnen, ein Versteck gefunden hat; die junge (bekleidete) Frau sitzt mit dem Rücken zu dem knorrigen, teilweise hohlen und abgestorbenen Weidenbaum auf dem Boden und wird von ihrem Geliebten gerade mit einem Blumenkranz geschmückt. Darüber wächst, gleichsam als Sinnbild naturhafter Triebkräfte, reiches Laubwerk. Die Szene lässt sich allerdings nur erahnen und ist keineswegs genau zu erkennen. Dieser Effekt ist sicherlich von Rembrandt beabsichtigt gewesen, denn bereits zwei Jahre zuvor hatte er in seiner Landschaft mit drei Bäumen ebenfalls ein Liebespaar in der dichten grafischen Struktur des Vordergrundes verborgen.
Rembrandt: Landschaft mit drei Bäumen (1643); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Rembrandts Komposition ist deutlich in zwei Bildhälften geteilt: „Während rechts die grafischen Mittel eher sparsam eingesetzt sind, werden sie links mitunter so exzessiv genutzt, dass das Blattweiß in einigen Partien komplett verdeckt ist“ (Kaschek 2017, S. 250). Einerseits wird unser Blick links blockiert und auf diese Weise nach rechts geleitet, wo er sich sowohl durch die pittoresken Motive als auch den hellen Himmel auf den Hintergrund richtet. Andererseits besitzt gerade die höhlenartig verschattete Partie des Weidengebüschs eine starke optische Anziehungskraft: Rembrandt benutzt hier wie auf anderen Grafiken von ihm Dunkelheit, um unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Stellen zu lenken.
Dass die amouröse Szene unter der Kopfweide nicht unmittelbar auszumachen ist, muss man durch und durch als künstlerisches Kalkül Rembrandts verstehen: Indem er die die Liebenden im Dunkel verbirgt, stachelt er den Betrachter an, den undeutlichen Sachverhalt zu entziffern – und lässt ihn auf diese Weise zum erotischen Voyeur werden. Der Omval versetzt nicht nur in Bewunderung angesichts der grafischen Kunstfertigkeit Rembrandts – das Liebespaar nach intensivem Studium des Blattes schließlich zu entdecken und genauer in Augenschein zu nehmen, bereitet dem Betrachter auch ein schmunzelndes Vergnügen, mit dem auf den ersten Blick nicht zu rechnen war. 
Rembrandt: Hieronymus neben einer Kopfweide (1648); Radierung
Das Motiv der mächtigen Kopfweide hat Rembrandt übrigens drei Jahre später nochmals verwendet, und zwar in einer Radierung, die den Kirchenvater Hieronymus bei einer Schreibarbeit im Freien zeigt. Auf dieser Grafik ist  der Baumstamm allerdings zum dominierenden Bildmotiv geworden, während Hieronymus selbst in den Hintergrund rückt.

Literaturhinweise

Kaschek, Bertram: Der Omval. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 250;

Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 539-541;

Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 344.

 

(zuletzt bearbeitet am 31. Oktober 2024) 

 

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