Wilhelm Lehmbruck: Große Stehende (1910); Duisburg, Lehmbruck Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Große Stehende (auch Stehende weibliche Figur genannt) war Wilhelm Lehmbrucks erste überlebensgroße weibliche Ganzfigur. Sie markiert den Beginn seiner produktiven Pariser Schaffenszeit – Lehmbruck war 1910 von Düsseldorf in die Stadt gezogen, die wie keine andere als das Zentrum avantgardistischer Kunst galt. Entsprechend stolz verweist die Bezeichnung „PARIS“ auf den Entstehungsort der Skulptur. Sie wurde 1910 auf dem Pariser Herbstsalon unter dem Titel Femme präsentiert und löste begeisterte Kritiken aus. Das Material der ausgestellten Version war getönter Gips; diese Fassung befindet sich heute im Duisburger Lehmbruck Museum.
Die 196,5 cm hohe kräftige Frauengestalt erhebt sich ruhig und aufrecht auf einer unregelmäßig gerundeten Standfläche. Bis auf ein um die Beine geschlungenes Tuch ist sie unbekleidet. „Das um die Knie drapierte Tuch umspielt die eng zusammenstehenden Beine, betont die Nacktheit der Figur damit mehr, als dass es sie verhüllt, und erhöht damit ihren sinnlichen Reiz“ (Keilholz-Busch 2019, S. 72). Ihre im vorderen Teil unbedeckten Füße sind nebeneinander platziert, sodass sich die Fersen leicht berühren. Über den schmalen Knöcheln erheben sich die vollen Gliedmaßen, klar gegliedert in durchgedrücktes Standbein links und gebeugtes Spielbein rechts. Die klassische Ponderation setzt sich abgeschwächt in der Gegenbewegung der Hüften und Schultern fort. Das entlastete rechte Bein erhält sein Pendant in dem leicht nach rechts gewendeten Kopf.
Der rechte Arm mit der locker in den Stoff greifenden Hand liegt eng am Körper an und überschneidet in der Frontalansicht leicht Hüfte und Schenkel; der linke hängt gelöst mit leicht gespreizten Fingern an der Seite herab. Die durch Stand- und Spielbein angedeutete Drehung zur linken Seite wird von dem in dieselbe Richtung geneigten Haupt mit den gesenkten Augenlidern wiederholt. Diese Wendung setzt sich von der nach unten hängenden Schulter über den Arm bis in die geöffnete Hand fort. „Dieser Richtungsimpuls, der auch vom nach links abfallenden Tuch unterstützt wird, fordert den Betrachter auf, die Bewegungsrichtung um die Figur herum zu folgen und die Statue zu umschreiten. (...) Nur bei der Rundumschau erschließt sich die volle Körperlichkeit der Figur, ihre zarte Bewegung, die ruhige Linienführung, der rhythmische Wechsel von konkaven und konvexen Formen sowie der Ausgleich von Stütze und Last“ (Ende 2015, S. 122/123).
Die üppige Körperfülle und Sinnlichkeit der Figur stehen im Kontrast zu dem seitlich geneigten Kopf und den gesenkten Augen der Statue. Es gibt keinen Blickkontakt, keine direkte Ansprache des Betrachters. „Indem sie uns nicht wahrnimmt, scheint sich die ansonsten schutzlos den Blicken des Betrachters ausgelieferte Figur auch dessen ,Zugriff‘ zu entziehen“ (Ende 2015, S. 123). Trotz der starken körperlichen Präsenz der Figur liegt das Hauptaugenmerk auf dem Kopf bzw. dem Gesicht: Mit ihren geschlossenen Augen und ihrem Gesichtsausdruck ist die Große Stehende ganz auf sich selbst bezogen, wirkt melancholisch in sich selbst versunken.
Aristide Maillol: Pomona (1910); Paris, Jardin des Tuileries |
Aristide Maillol: Flora (um 1910/12); Paris, Jardins des Tuileries |
Aphrodite von Knidos mit hinzugefügtem Zinkschurz |
Venus von Milo (2. Jh.v.Chr.); Paris, Louvre |
Wilhelm Lehmbruck: Torso der großen Stehenden (1910); München, Pinakothek der Moderne |
In Marmor mehr Gesicht |
Literaturhinweise
Berger, Ursel: Lehmbrucks Stehende weibliche Figur und verwandte Frauendarstellungen seiner Pariser Werkphase. In: In: Martina Rudloff/Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck. Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2000, S. 49-69;
Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015, S. 119-123;
Frosien-Leinz, Heike/Leinz, Gottlieb: Maillol und Lehmbruck: Gesten der Meditation. In: Städel-Jahrbuch 20 (2009), S. 267-286;
Keilholz-Busch, Jessica: Schönheit, Spiritualität und Seele. In: Söke Dinkla (Hrsg.); Schönheit. Lehmbruck & Rodin. Meister der Moderne. Hirmer Verlag, München 2019, S. 60-88;
Schubert, Dietrich: Die Kunst Wilhelm Lehmbrucks. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 19902, S. 147-150.
(zuletzt bearbeitet am 13. März 2021)
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