Samstag, 30. Mai 2020

Gelassene Melancholie – Wilhelm Lehmbrucks „Große Stehende“ von 1910

Wilhelm Lehmbruck: Große Stehende (1910); Duisburg,
Lehmbruck Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Große Stehende (auch Stehende weibliche Figur genannt) war Wilhelm Lehmbrucks erste überlebensgroße weibliche Ganzfigur. Sie markiert den Beginn seiner produktiven Pariser Schaffenszeit – Lehmbruck war 1910 von Düsseldorf in die Stadt gezogen, die wie keine andere als das Zentrum avantgardistischer Kunst galt. Entsprechend stolz verweist die Bezeichnung „PARIS“ auf den Entstehungsort der Skulptur. Sie wurde 1910 auf dem Pariser Herbstsalon unter dem Titel Femme präsentiert und löste begeisterte Kritiken aus. Das Material der ausgestellten Version war getönter Gips; diese Fassung befindet sich heute im Duisburger Lehmbruck Museum.
Die 196,5 cm hohe kräftige Frauengestalt erhebt sich ruhig und aufrecht auf einer unregelmäßig gerundeten Standfläche. Bis auf ein um die Beine geschlungenes Tuch ist sie unbekleidet. „Das um die Knie drapierte Tuch umspielt die eng zusammenstehenden Beine, betont die Nacktheit der Figur damit mehr, als dass es sie verhüllt, und erhöht damit ihren sinnlichen Reiz“ (Keilholz-Busch 2019, S. 72). Ihre im vorderen Teil unbedeckten Füße sind nebeneinander platziert, sodass sich die Fersen leicht berühren. Über den schmalen Knöcheln erheben sich die vollen Gliedmaßen, klar gegliedert in durchgedrücktes Standbein links und gebeugtes Spielbein rechts. Die klassische Ponderation setzt sich abgeschwächt in der Gegenbewegung der Hüften und Schultern fort. Das entlastete rechte Bein erhält sein Pendant in dem leicht nach rechts gewendeten Kopf.
Der rechte Arm mit der locker in den Stoff greifenden Hand liegt eng am Körper an und überschneidet in der Frontalansicht leicht Hüfte und Schenkel; der linke hängt gelöst mit leicht gespreizten Fingern an der Seite herab. Die durch Stand- und Spielbein angedeutete Drehung zur linken Seite wird von dem in dieselbe Richtung geneigten Haupt mit den gesenkten Augenlidern wiederholt. Diese Wendung setzt sich von der nach unten hängenden Schulter über den Arm bis in die geöffnete Hand fort. „Dieser Richtungsimpuls, der auch vom nach links abfallenden Tuch unterstützt wird, fordert den Betrachter auf, die Bewegungsrichtung um die Figur herum zu folgen und die Statue zu umschreiten. (...) Nur bei der Rundumschau erschließt sich die volle Körperlichkeit der Figur, ihre zarte Bewegung, die ruhige Linienführung, der rhythmische Wechsel von konkaven und konvexen Formen sowie der Ausgleich von Stütze und Last“ (Ende 2015, S. 122/123).
Die üppige Körperfülle und Sinnlichkeit der Figur stehen im Kontrast zu dem seitlich geneigten Kopf und den gesenkten Augen der Statue. Es gibt keinen Blickkontakt, keine direkte Ansprache des Betrachters. „Indem sie uns nicht wahrnimmt, scheint sich die ansonsten schutzlos den Blicken des Betrachters ausgelieferte Figur auch dessen ,Zugriff‘ zu entziehen“ (Ende 2015, S. 123). Trotz der starken körperlichen Präsenz der Figur liegt das Hauptaugenmerk auf dem Kopf bzw. dem Gesicht: Mit ihren geschlossenen Augen und ihrem Gesichtsausdruck ist die Große Stehende ganz auf sich selbst bezogen, wirkt melancholisch in sich selbst versunken.
Aristide Maillol: Pomona (1910); Paris, Jardin des Tuileries
Aristide Maillol: Flora (um 1910/12); Paris, Jardins des Tuileries
Wichtigste Anregung für Lehmbrucks Große Stehende dürften die Plastiken Aristide Maillols (1861–1944) gewesen sein: Seine Skulpturen zeichnen sich durch sinnliche Fülle und Rundheit aus; körperliche Bewegung, Affekte und Emotionen sind minimiert, die Figuren präsentieren sich als große geschlossene Form, narrative Elemente und naturalistische Details fehlen. Von der Auseinandersetzung mit Maillol hat Lehmbruck ganz offensichtlich die beruhigte Form, die Körperpräsenz und den Verzicht auf individuelle Züge übernommen. Aber während Maillols Figuren wie die Pomona oder die Flora einen selbstbewusst nach vorn gerichteten, über dem Hals gerade aufsteigenden Kopf tragen, hat Lehmbruck seine Frauenfiguren mit sanft geneigten Köpfen und reduzierten Gesichtern versehen, was der ganzen Gestalt einen verhaltenen, passiven Ausdruck verleiht. Für das Motiv der um die Oberschenkel gerafften Draperie mit sich mittig bauschenden Falten und der greifenden Hand könnte die berühmte Aphrodite von Knidos des antiken Bildhauers Praxiteles aus dem 4. Jahrhundert v.Chr. als Vorbild gedient haben (siehe meinen Post „Aphrodite – knidisch oder  kapitolinisch“). Die damals noch mit einem Zinkschurz ausgestattete Marmorkopie dürfte Lehmbruck während seiner Italien-Reise 1905 in den Vatikanischen Museen gesehen haben. Diese Anregung ist umso wahrscheinlicher, als die Statue des Praxiteles als erste großformatige weibliche Aktfigur der europäischen Plastik galt. „Damit musste sie dem ehrgeizigen Künstler als geeignete Folie für die eigenen Ambitionen erscheinen“ (Ende 2015, S. 138). Auch die gegen Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr. entstandene, 1820 aufgefundene Venus von Milo ist als Anregung genannt worden – Lehmbruck dürfte sie bei seinen Louvre-Besuchen sicherlich immer wieder in Augenschein genommen haben.
Aphrodite von Knidos mit
hinzugefügtem Zinkschurz
Venus von Milo (2. Jh.v.Chr.); Paris, Louvre
Anita Lehmbruck stand ihrem Mann sowohl für die Große Stehende wie auch für die berühmte Kniende von 1911 Modell (siehe meinen Post
Wilhelm Lehmbrucks ,gigantische Gliederpuppe). Ihre Züge sind dabei stets mehr oder weniger deutlich erkennbar, doch geht es nicht um Porträtähnlichkeit. „Individuelle Merkmale und modische Elemente, etwa bei der Frisur, werden zugunsten der Darstellung eines idealen beziehungsweise stilisierten Frauentyps zurückgenommen“ (Ende 2015, S. 131). Zwar kommt die Große Stehende ohne narrative Bezüge aus, doch die Körperformen sowie das Tuch schlagen eine Brücke zu tradierten Darstellungen des nackten weiblichen Idealkörpers, wie etwa von Badenden oder mythologischen Frauengestalten. 
Wilhelm Lehmbruck: Torso der großen Stehenden (1910);
München, Pinakothek der Moderne
Von der Großen Stehenden hat Lehmbruck seine ersten Torsi geschaffen – ein Zweig seiner plastischen Kunst, die in seinem weiteren Werk eine immer größere Bedeutung gewinnen sollte. Zusammen mit der Vollendung der Großen Stehenden ging Lehmbruck in Paris noch vor 1911 daran, seine Figur zu zerteilen: Als Torso entstanden sowohl der Kopf wie der Rumpf, beide ließ er je in Bronze und Steinguss fertigen.
In Marmor mehr Gesicht
Im Herbst 1912 vollendete
Lehmbruck darüber hinaus noch eine Marmorfassung der Großen Stehenden, zu der ihn die Stadt Duisburg beauftragt hatte. Diese Version der Statue ist mit einem präziser durchgestalteten Gesicht versehen; außerdem greift die recht Hand „nicht mehr ganz so leblos wie bisher in das um die Beine gewundene Tuch; der linke Arm wirkt weniger starr“ (Berger 2000, S. 61), und die Plinthe nähert sich einem perfekten Kreis an. 1954 wurde sie im Stadttheater Duisburg aufgestellt, wo sie sich noch heute befindet.

Literaturhinweise
Berger, Ursel: Lehmbrucks Stehende weibliche Figur und verwandte Frauendarstellungen seiner Pariser Werkphase. In: In: Martina Rudloff/Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck. Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2000, S. 49-69;
Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015, S. 119-123;
Frosien-Leinz, Heike/Leinz, Gottlieb: Maillol und Lehmbruck: Gesten der Meditation. In: Städel-Jahrbuch 20 (2009), S. 267-286;
Keilholz-Busch, Jessica: Schönheit, Spiritualität und Seele. In: Söke Dinkla (Hrsg.); Schönheit. Lehmbruck & Rodin. Meister der Moderne. Hirmer Verlag, München 2019, S. 60-88; 
Schubert, Dietrich: Die Kunst Wilhelm Lehmbrucks. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 19902, S. 147-150.
 
(zuletzt bearbeitet am 13. März 2021) 

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