Sonntag, 7. Juni 2020

Mit Verstopfung behaftet – Franz Xaver Messerschmidts „Charakterköpfe“

Franz Xaver Messerschmidt: Satirikus (um 1775); Nürnberg,
Germanisches Nationalmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)
Franz Xaver Messerschmidt (1736–1783), einer der bedeutendsten Bildhauer des 18. Jahrhunderts, verdankt seinen heutigen Ruhm hauptsächlich den sogenannten Charakterköpfen, die zwischen 1770 und seinem Tod entstanden und von denen heute noch 55 erhalten sind. Ein Auftrag für diese Büsten existierte nicht. Jedes Stück zeigt ein nacktes männliches, bis etwa zum Schlüsselbein modelliertes Brustbild mit frontal ausgerichtetem Haupt und nach unten sich trapezförmig verjüngendem oder halbkreisförmigem Abschluss. Auf klare Konturen und wenige Motive reduziert, bestechen sie durch ein Maximum an Ausdruck.
Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg besitzt einen Glatzkopf mit hochgezogegen Schultern, zu einem waagrechten Band geformten Mund und einem an die Brust gepressten Kind, der als Der mit Verstopfung Behaftete bezeichnet wird. Das Museum verfügt noch über einen zweiten Charakterkopf Messerschmidts, den sogenannten Satirikus. Dieses Haupt ist mit einer Perücke ähnlichem, zurückgestrichenem gewellten Haar, gerümpfter Nase und einem skeptisch geschwungenen Lippenstrich ausgestattet. Tiefe, ornamental wirkende Rillen und Runzeln durchziehen das skurril wirkende Antlitz, waschbrettartige Furchen die Stirn und spiegeln ein heftiges Kräftespiel der Muskeln. Die Bezeichnungen sind vorwiegend der Physiognomik Johann Caspar Lavaters (1741–1801) geschuldete Spottnamen, die die Büsten anlässlich ihrer ersten öffentlichen Präsentation im Wiener Bürgerspital 1793 erhielten. Damals sah man im Satirikus die Inkarnation frechen Spotts, während er später auch als Ausdruck von Verschmitztheit oder eines Gefühls zwischen Amüsement und Erschrockensein interpretiert worden ist.
Franz Xaver Messerschmidt: Ein mit Verstopfung Behafteter (um 1775); Nürnberg,
Germanisches Nationalmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)
Von 1775 bis 1778 war Lavaters vierbändiges Werk „Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“ erschienen, nachdem der Theologe bereits 1772 das Thema in zwei kleineren Schriften abgesteckt hatte. Das Werk war ein großer Erfolg; Messerschmidt war mit Sicherheit über die Debatte darüber vertraut. Allerdings lässt sich die Behauptung der Physiognomen, das Äußere eines Kopfes gebe Aufschluss über den Charakter, an den Büsten Messerschmidts nicht nachvollziehen – denn einen Einblick in die Persönlichkeit der Dargestellten erlauben sie nicht..
Die von Messerschmidt gezeigten Affekte sind häufig übertrieben; zudem können die Gesichtsmuskeln die Bewegungen in unterschiedliche Richtungen, wie sie auf vielen seiner Köpfe zu sehen sind, gar nicht gleichzeitig leisten. Messerschmidts Grimassen sind konstruiert, sie spiegeln keinen wirklichkeitsgetreuen Gesichtsausdruck, sie überfordern vielmehr die Ausdrucksmöglichkeiten eines Gesichtes. Als der Berliner Verleger Friedrich Nicolai 1781 den Bildhauer besuchte, beobachtete er dessen Mienenspiel-Experimente vor dem Spiegel, die die Grundlage von Messerschmids Charakterköpfen bildeten. Die eigene Physiognomie war vielmehr das Material, mit dem der Künstler arbeitete, um die unterschiedlichsten Gemütszustände auszuprobieren.
Franz Xaver Messerschmidt: Maria Theresia (1760); Wien, Belvedere
Franz Xaver Messerschmidt: Joseph Wenzel I. von Liechtenstein (um 1770);
Wien, Palais Liechtenstein
1736 in Wiesensteig bei Ulm geboren, ging Messerschmidt bei seinem Onkel Johann Baptist Straub, dem renommierten Münchner Hofbildhauer (1704–1784), und bei einem weiteren Straub-Onkel in Graz in die Lehre. 1755 zog er nach Wien, wo er schnell glanzvoll Karriere machte. Mit den Porträtbüsten und monumentalen Statuen von Maria Theresia und Franz I. Stephan von Lothringen feierte er Erfolge und avancierte zum begehrten Porträtisten der Wiener Aristokratie und Gelehrtenwelt. Nachdem er 1765 in Rom die Skulptur der Antike studiert hatte, kam es zu einem radikalen Wandel in Messerschmidts Schaffen. Nun stellte er seine Wiener Auftraggeber nicht mehr in traditionellen Porträts dar, sondern als Individuen, einfach und unverstellt, ohne Perücke, ohne die dekorativen Zeichen ihres Standes. Wie sehr sich seine künstlerischen Auffassungen damals änderten, wird besonders augenfällig im Silberporträt des Fürsten Joseph I. Wenzel von Liechtenstein, das erst 2004 wiederentdeckt wurde. Kunsthistoriker sehen in diesem Werk das bisher fehlende Bindeglied zwischen Messerschmidts formal und stilistisch so unterschiedlichen Werkgruppen der Porträtbüsten und der grimassierenden Charakterköpfe.
Franz Xaver Messerschmidt: Der Gähner (um 1775); Düsseldorf,
Museum Kunstpalast (für die Großansicht einfach anklicken)
Messerschmidts einzigartigen Plastiken sind immer wieder mit dem Scheitern des Künstlers an der Wiener Akademie in Verbindung gebracht worden: Aufgrund der „seltsamen Grillen“, wie die offenen Symptome seiner psychischen Krankheit bezeichnet wurden, hatte man ihm das Professorenamt verweigert. 1774 wollte man dem 36-jährigen Akademiemitglied grundsätzlich keine Studenten mehr anvertrauen und bot ihm eine Pension an. Die schlug Messerschmidt jedoch aus und verließ Wien, bewarb sich zunächst erfolglos in München um die Hofbildhauerstelle und übersiedelte schließlich nach Preßburg. Seine Charakterköpfe riefen unter den Zeitgenossen großes Befremden aus, verstießen sie doch gegen die klassizistische Kunsttheorie eines Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) und dessen Normen von „edler Einfalt und stiller Größe“, wie sie damals in Wien vertreten wurden. Stattdessen zeigen sie elementare menschliche Leidenschaften und Emotionen.

Literaturhinweise
Kirchner, Thomas: Franz Xaver Messerschmidt und die Konstruktion des Ausdrucks. In: Bückling, Mareike (Hrsg.): Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt. Hirmer Verlag, München 2006, S. 266-281;
Krapf, Michael (Hrsg.): Franz Xaver Messerschmidt 1736–1783. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2002.

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