Samstag, 2. Mai 2020

Ein Gott will in die Luft gehen – der Augsburger Merkurbrunnen von Adriaen de Vries (1599)

Abdriaen de Vries: Merkurbrunnen (1599); Augsburg, Maximilianstraße
Adriaen de Vries (1556–1626), geboren in Den Haag, Schüler des flämisch-italienischen Bildhauers Giambologna (1529–1608), gilt als der bedeutendste Bronzeplastiker des 17. Jahrhunderts. Zu seinen Auftraggebern zählten König Philipp von Spanien, Herzog Karl Emanuel von Savoyen, König Christian IV. von Dänemark, Fürst Albrecht von Waldstein und, allen voran, Kaiser Rudolf II. Zum berühmtesten Bildhauer seiner Zeit machten de Vries die Freie Reichsstadt Augsburg und ihre Ratsherren. Die beiden Prachtbrunnen mit dem Handelsgott Merkur (1599) und dem Hydratöter Herkules (1602; siehe meinen Post „Gib der Bestie Saures!“) trugen dem Künstler schlagartig europaweit Ruhm ein. Noch während seiner Ausgburger Zeit wurde de Vries von dem in Prag residierenden Kaiser zu seinem Kammerbildhauer ernannt. Bemerkenswert ist, dass die Augsburger de Vries von Beginn an für die Anfertigung von beiden Brunnen verpflichteten, ohne dass man erst die erfolgreiche Verwirklichung eines Projektes abgewartet hätte. Der Künstler nahm die zwei Auftragswerke parallel in Angriff und vollendete zunächst den Merkurbrunnen, da er ikonographisch und technisch weniger aufwendig angelegt war.
Die 2,69 m hohe Skulptur des Götterboten Merkur bekrönt einen Brunnenanlage, die sich heute noch vor Ort befindet, und zwar in der Augsburger Maximilianstraße in Höhe der katholischen Kirche St. Moritz. Der durch seine Attribute Petasos, Caduceus und  Flügelschuhe gekennzeichnete Merkur ist in weiter Schrittstellung dargestellt. Zwischen seinen Beinen hockt ein stämmiger, geflügelter Amorknabe, der im Begriff ist, Merkur den rechten Flügelschuh zu binden. Merkur wirkt in Eile – der Bauch ist eingezogen, der Brustkorb gespannt. Den linken Arm reckt er nach oben und weist dabei mit dem Zeigefinger zum Himmel. Der gestreckte Körper des Gottes vermittelt Unruhe, die Schrittstellung zeigt ihn im Aufbruch. Der vorgesetzte linke Fuß steht nur mit der Hacke auf der Plinthe, die Zehen ragen weit über den Rand hinaus. Der rechte Fuß hebt bereits zum Abflug an. Allein die scharf am Plinthenrand aufsetzenden Zehen sichern den Stand Merkurs. Gezeigt ist der Moment, kurz bevor sich der Gott in die Lüfte schwingen wird.
Während sich Merkurs linker Arm nach oben reckt, ist der rechte nach vorn zum Boden hin gestreckt – ein Motiv, das bei den Flügeln des Amorknaben wieder aufgegriffen wird: Der rechte ist emporgestellt und dient zugleich als câche-sexe, während der linke herabhängt. Dieses Wechselspiel setzt sich in der unmittelbaren Begegnung zwischen Merkur und Amor fort. Seinem Drängen nach oben völlig entgegengesetzt, neigt der Götterbote den Kopf und blickt hinab zu dem am Boden hockenden Knaben, der wiederum seinem Blick antwortet, indem er den Kopf in den Nacken legt und nach oben schaut – es entwickelt sich ein Dialog zwischen beiden.
Die starke Drehung des Merkur, der über seine rechte Schulter hinab blickt, die schraubenartige Bewegung seiner Arme, die gegenläufige Verschränkung von Armen und Flügeln des Amorknaben verleihen der Gruppe eine Dynamik, die den Betrachter zum Umschreiten der Skulpturengruppe auffordert. Virtuos hat de Vries mit dieser Plastik das manieristische Gestaltungsideal der figura sepentinata umgesetzt: Damit bezeichnet man eine sich fließend aufwärts bewegende Gestalt mit einer in sich gedrehten Körperachse. Eine solche Skulptur ist „von allen Seiten gleich schön“, d. h., es gibt keine Hauptansicht. Diese Allansichtigkeit war ausschlaggebend für die Wahl des Standorts, an dem das als Zehneck gestaltete Brunnenbecken platziert werden sollte.
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1580); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Adriaen de Vries: Faun und Nymphe (um 1580/90); Dresden, Grünes Gewölbe
Das Augsburger Brunnenprojekt ist für de Vries sicherlich eine Auseinandersetzung mit dem Fliegenden Merkur seines Lehrers Giambologna (siehe meinen Post „Ikone der europäischen Kunst“) gewesen. Doch die Gemeinsamkeiten beschränken sich letztlich auf den markanten Zeigegestus. Wichtiger scheint der Hinweis auf ein Werk von de Vries selbst, und zwar auf dessen Dresdner Faun-Nymphe-Gruppe. Es finden sich nicht nur in der Figur des tanzenden Fauns (Schrittbewegung, Drehung von Oberkörper und Kopf, Bewegungsrichtungen der Arme) auffallende Parallelen zum Merkur. Gleiches gilt auch für die hockende Nymphe, deren Haltung, Gesten und Blick geradezu spiegelbildlich dem hockenden Amor entsprechen. Beide Gruppen zeichnen sich inhaltlich und formal durch einen ausgeprägten Dialogcharakter aus.
Grund für die Wahl Merkurs als Brunnenfigur auf dem zentralen Markt- und Handelsplatz Augsburg ist zum einen sicherlich, dass der Gott des Handels ein naheliegendes Symbol für die Wirtschaftskraft der Freien Reichsstadt und seine Stellung als führendes Handelszentrum darstellte. Zum anderen verweist die Figur auf das Selbstverständnis der Augsburger, die schon früh und mit Stolz ihr römisches Erbe pflegten: Der Name der Stadt geht auf das 15 v.Chr. gegründete römische Heerlager und die spätere römische Provinzhauptstadt Augusta Vindelicum zurück, in der die römische Gottheit Merkur wohl besondere Verehrung genoss.
Ansicht des Merkurbrunnens um 1650 ... (Kupferstich; für die Großansicht anklicken)
... und heute
Wohl im Zuge der Restaurierung von 1713 erhielt der bis dahin frei zugängliche Merkurbrunnen ein Gitter. 1752 wurde er schließlich grundlegend renoviert: Die gesamte Brunnenanlage wurde abgetragen und in ihrer jetzigen Form in rötlichem Marmor wieder aufgebaut. Der neue Brunnenpfeiler ist ca. 56 cm höher und weniger scharfkantig profiliert als sein Vorgänger. Darüber hinaus wurden an den Breitseiten des Brunnenpfeilers zwei Rocaille-Kartuschen mit Inschriften angebracht, die von der Restaurierungsmaßnahme berichten. Das schlichte, zehneckige Brunnenbecken mit seiner in rechteckige Blendfelder aufgeteilten Wandung wurde – dem Zeitgeschmack entsprechend – durch ein umlaufend kräftig gekehltes und bombiertes, gleichfalls zum Zehneck gebrochenes Beckenrund ersetzt. Das Brunnenwasser fließt in dünnem Strahl aus den Bronzen am Pfeiler: zwei Hundeköpfe, zwei Medusenhäupter, zwei Löwenmasken und vier Adlerköpfe. Seit 1997 wird die Brunnensäule von einem Bronzeabguss der Merkurfigur bekrönt – die Stadt Stadt Augsburg ließ das Bronzebildwerk aus restauratorischen Gründen in dem von einem Glasdach überdeckten Innenhof des Maximilianmuseums unterbringen.

Glossar
Caduceus: Heroldsstab aus dem Altertum, versehen  zwei Flügeln und von zwei Schlangen mit einander zugewendeten Köpfen umwunden
Petasos: im antiken Griechenland breitkrempiger Hut mit flachem Kopf und Kinnriemen; mit einem Flügelpaar versehen ein Attribut des Götterboten Merkur

Literaturhinweise
Emmendörffer, Christoph: Adriaen de Vries. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. In: Björn R. Kommer (Hrsg.), Adriaen de Vries. 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 121-132;
Emmendörffer, Christoph: Der Merkurbrunnen. In: Björn R. Kommer (Hrsg.), Adriaen de Vries. 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 197-202.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen