Sonntag, 18. April 2021

Löwe mit Greis – Albrecht Dürers Kupferstich „Hieronymus in der Wüste“ (1497)


Albrecht Dürer: Hieronymus in der Wüste (1497); Kupferstich
(für die Großansicht einfach anklicken)
Im grafischen Werk Albrecht Dürers finden sich nicht weniger als sechs Darstellungen des hl. Hieronymus – deutliches Zeichen für die wachsende Verehrung, die dem Kirchenvater im Verlauf  des 15. Jahrhunderts entgegengebracht wurde. Hieronymus hatte das Alte Testament aus dem Hebräischen und das Neue Testament aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen; die daraus hervorgegangene Vulgata wurde zur wichtigsten Bibelübersetzung des Mittelalters – und der Kirchenvater zum bewunderten Vorbild vieler Humanisten. Der hier vorgestellte großformatige Kupferstich von 1497 zeigt jedoch nicht den Gelehrten, den Dürers berühmter Hieronymus im Gehäus von 1514 präsentiert (siehe meinen Post Der gelassene Gelehrte“). Was wir vor uns sehen, ist vielmehr der büßende Eremit: Die Legenda aurea berichtet ausführlich, das sich Hieronymus nach seinen Studien bei Gregor von Nyzanz für vier Jahre als Einsiedler in die Wüste begab, um mit Fasten, Selbstkasteiung und Gebet den Anfechtungen der Welt zu entsagen.
Dürer stellt den hageren Asketen vor den schroffen Wänden einer Felsschlucht in einer kahlen Sandmulde dar. Mit langem Bart und nacktem Oberkörper kniet der weißhaarige Alte vor einem kleinen Kruzifix, das er in einen geborstenen Baumstumpf gesteckt hat. Mit einem Stein in seiner Rechten schlägt er sich bei seiner Meditation über die Passion Christi gegen die Brust. Das strähnig und verfilzt wirkende Haupt- und Barthaar, das den Mund völlig überwachsen hat, zeugt davon, dass der Büßer sein Äußeres bewusst vernachlässigt und körperliche Bedürfnisse gering achtet. Ihm zur Seite ruht – im Maßstab verkleinert – der Löwe, dem er der Legende nach einen Dorn aus der Pranke gezogen hatte und der daraufhin sein treuer Kamerad wurde. Das Tier gehört deswegen zu den Attributen des Heiligen.
Am linken Bildrand erhebt sich eine steile Felswand, rechts ragen in einiger Entfernung, jenseits einer kleinen Meeresbucht, bizarr geformte Klippen aus dem Wasser. Auf ihrem bewaldeten Rücken erscheint über der Gestalt des Büßenden das Dach einer Kapelle, zu der ein von den schroffen Felsen eingefasster Hohlweg hinführt. Rechts außen lassen sich am Horizont eine kleine Insel mit einer Burg und einige Boote erkennen – sie verweisen darauf, wie weit Hieronymus von der Welt der Menschen entfernt ist. Die zerklüfteten Felsen wiederum verdeutlichen, an welch unwirtlich-einsamen Ort sich der Eremit freiwillig begeben hat.
Albrecht Dürer: Der verlorene Sohn bei den Schweinen (1496/97); Kupferstich
Dürers Hieronymus-Kupferstich ist immer wieder mit seinem Verlorenen Sohn (siehe meinen Post „Der Künstler am Schweinetrog“) verglichen und zeitlich in dessen Nähe gerückt worden: „In beiden Fällen ist eine kniende Büßerfigur in ein nahräumliches Ambiente eingefügt, das auf detaillierten Naturstudien basiert und die Bildwirkung dominierend mitbestimmt“ (Schoch 2000, S. 38). Dürer scheint verschiedene Naturstudien, die vermutlich in den Steinbrüchen des Schmausenbuck in der Umgebung Nürnbergs entstanden sind, für seinen Kupferstich verwendet zu haben.
Albrecht Dürer: Das Meerwunder (1498); Kupferstich
Albrecht Dürer: Buße des Johannes Chrysostomos (1497); Kupferstich
Albrecht Dürer: Sonne der Gerechtigkeit (1499/1500); Kupferstich
Formal steht Dürers Hieronymus in der Wüste aber auch noch mit anderen frühen grafischen Arbeiten in Verbindung. So ähnelt der Kopf des Kirchenvaters dem Unhold aus dem Meerwunder (siehe meinen Post „Geraubte Schönheit“), die Felsformationen denen der Buße des Johannes Chrysostomos und der Löwe dem der Sonne der Gerechtigkeit.
Hans Baldung Grien: Hieronymus als Büßer in einer Schlucht
(1511); Holzschnitt
Hans Baldung Grien: Hieronymus als Büßer in der Wildnis
(1511); Holzschnitt
Hans Baldung Grien: Hieronymus in der Wüste (1511); Holzschnitt
Hans Baldung Grien (1484–1545), von 1503 bis 1506 Werkstatt-Mitarbeiter von Dürer, schuf um 1511 drei Holzschnitte, die sich erkennbar auf den Kupferstich von 1497 beziehen. Insbesondere Hieronymus als Büßer in einer Schlucht deutet durch seine bizarren Felsformationen auf eine Auseinandersetzung mit dem Dürer-Blatt hin. Baldung verstärkt auf seiner Komposition die bei Dürer angelegte Idee, dass die Felsen den Büßer regelrecht als Wände umschließen. Er integriert die Felsen in eine lebendig-bewegte Wildnis, die den Eremiten zu überwuchern droht. Auch auf Baldungs Holzschnitt ist Hieronymus auf eine Achse mit einer auf Fels gebauten Kirche gesetzt, jedoch sind beide in die Mitte des Bildes gerückt und eine aufgeschlagene Bibel hinzugefügt. Arbeitet bereits Dürer mit der bei den Kirchenvätern verbreiteten Metaphorik des Felsens als Sinnbild der christlichen Standfestigkeit gegenüber den weltlichen Anfechtungen, wird sie von Baldung nochmals zugespitzt. Die entwurzelten und schwankenden Bäume erscheinen dagegen als sinnbildliches Gegenstück zu den unverrückbaren Felsen.

Albrecht Dürer: Hieronymus neben dem Weidenbaum (1512), Kaltnadelradierung
Aus dem Jahr 1512 stammt eine Kaltnadelradierung, auf der Dürer den Typus des büßenden Hieronymus in der Wildnis und des gelehrten Bibelübersetzers kombiniert: Der bärtige Eremit ist hier in eine schroffe Felskulisse versetzt; sein Kopf ähnelt erkennbar dem des frühen Kupferstichs von 1497. Hieronymus hat sich an einem schattigen Platz zwischen Felswänden und einer Kopfweide seine Klause eingerichtet. Auf einem rohen, in Untersicht wiedergegebenen Brett, das ihm als Tisch dient, sind Kardinalshut und -mantel, das Schreibzeug, ein aufgeschlagenes Buch und ein kleines Kruzifix verteilt. Ein schmaler Felsspalt gibt den Blick auf eine ferne Stadt am Wasser frei. Während sich Hieronymus mit gefalteten Händen dem Kruzifix zuwendet, schläft der Löwe an einer Quelle zu seinen Füßen.

Literaturhinweise
Jacob-Friesen, Holger (Hrsg.): Hans Baldung Grien. heilig | unheilig. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2019, S. 112-113 und 300-301;
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 46;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 190-191; 
Schoch, Rainer: Der heilige Hieronymus in der Wüste/Der heilige Hieronymus neben dem Weidenbaum. In: Mende, Matthias/Schoch, Rainer (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 38-39 und 158-160;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 212-217;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 41.

(zuletzt bearbeitet am 18. April 2021) 

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