Sonntag, 23. Februar 2014

Das Porträt im österreichischen Expressionismus (1): Egon Schiele malt Arthur Roessler


Egon Schiele: Bildnis Arthur Roessler (1910); Wien, Historisches Museum
Der Wiener Jugendstil ist untrennbar mit dem Namen Gustav Klimt (1862–1918) verbunden. Die ihm nachfolgende österreichische Malergeneration, allen voran Oskar Kokoschka (1886–1980) und Egon Schiele (1890–1918), sucht jedoch nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und wendet sich dem Expressionismus zu.
Egon Schiele kommt am 12. Juni 1890 im niederösterreichischen Tulln zur Welt. Der Vater ist Bahnhofsvorstand; sein früher Tod verschlechtert die finanzielle Lage des heranwachsenden Sohnes und seiner drei Schwestern deutlich. Die Kinder bekommen einen Mitvormund, und gegen dessen Willen legt Egon Schiele 1906 die Aufnahmeprüfung an der Wiener Kunstakademie ab. Auch die Mutter ist von seiner Berufswahl wenig begeistert. Nach drei Studienjahren verlässt Schiele mit Gleichgesinnten vorzeitig die Kunstakademie; gemeinsam gründen sie die „Neukunstgruppe“. Schiele explodiert regelrecht: In kürzester Zeit entsteht ein künstlerisch wie zahlenmäßig beeindruckendes Œuvre. Etwa 340 Ölbilder sowie rund 2500 Zeichnungen und Aquarelle in weniger als zehn Jahren zeugen von seiner atemberaubenden Schaffenskraft.
Seit der Jahreswende 1909/10 ist Schiele zur vordersten Reihe der europäischen Expressionisten zu zählen. In dieser Zeit lernt der Maler auch seinen „Entdecker“ und künftigen Förderer Arthur Roessler kennen. Im Rahmen der ersten „Neukunst“-Ausstellung im Wiener Kunstsalon Pisko schließen die beiden Freundschaft. Roessler, nur wenige Jahre älter als Egon Schiele, setzt sich zielstrebig für den Künstler ein. Als einer der Ersten erkennt er im vollen Umfang dessen Potenzial. Roessler organisiert Ankäufe und Porträtaufträge, vermittelt Sammler und Händler, führt Verhandlungen und managt Ausstellungen. Gleichzeitig lenkt er als Journalist geschickt das publizistische Interesse auf den noch wenig bekannten Schiele. Als Roessler 1911 die Zeitschrift Bildende Künstler. Monatsschrift für Künstler und Kunstfreunde herausgibt, veröffentlicht er darin den ersten größeren Artikel über Egon Schiele. Kaum ein anderer junger österreichischer Künstler wird damals ähnlich professionell betreut. Parallel dazu trägt Roessler in seinem Heim eine der wichtigsten Schiele-Kollektionen zusammen.
Von April bis Mai 1911 findet Schieles erste Einzelausstellung in der Wiener Galerie Miethke statt. In dieser Austellung ist Roessler indirekt durch sein Porträt vertreten, das Schiele Mitte September 1910 gemalt und ihm dann geschenkt hatte. Es zeigt Roessler bis zur Hüfte vor einem fast neutralen Hintergrund, wobei der Porträtierte von einer blasenartigen Form umfangen wird. Im Gesicht und im Anzug dominieren erdige Rot-und Brauntöne. Die Beine Roesslers stehen im rechten Winkel zueinander, das linke verkürzt zum Betrachter, das rechte anatomisch verzerrt, „um es in eine bildparallele Anordnung zu zwingen“ (Natter 2003, S. 199). Die Hände sind auseinandergespreizt und ebenfalls bildparallel – optischen Schranken gleich –  vor den Körper gehalten. Die linke Schulter wirkt stark abgesenkt, die rechte hochgezogen. Seinen Kopf hat Roessler ins Profil gedreht, seiner rechten Schuler zugewandt; die Augen sind geschlossen. Auf Requisiten, Attribute oder persönliche Accessoires wird komplett verzichtet. „Das minimalistische Gestaltungsprinzip kündet von einer radikalen Absage an die dekorativen Gestaltungsmuster der Zeit“ (Natter 2004, S. 11).
Javanische Schattenspielfiguren
Mit Recht ist bei diesem Bildnis immer wieder auf die Anregung durch die javanischen Schattenspielfiguren hingewiesen worden, die Arthur Roessler besaß. Schiele war fasziniert von ihnen: Durch ihre feinen und übermäßig langen Gliedmaßen sowie die allseits beweglichen Armgelenke können sie Haltungen einnehmen, die Schiele ganz ähnlich auf vielen Porträts und Aktdarstellungen verwendet. Seine Begeisterung für diese Figuren, die er durch Roessler kennenlernte, ist auch an dessen Porträt ablesbar. Roessler berichtet: „Aus Büffelleder geschnittene und filigranfein durchbrochene, schön bemalte javanische Schattenspielfiguren, die ich durch Zufall erworben hatte, waren es späterhin, was ihn zu häufigen Besuchen bei mir lockte. Stundenlang konnte er mit diesen Figuren spielen, ohne zu ermüden und ohne dabei auch nur ein Wort zu sprechen. Das eigentlich Erstaunliche hiebei war die Geschicklichkeit, mit der Schiele die dünnen Bewegungsstäbchen der Figuren gleich von Anbeginn handhabte. (...) Es faszinierten ihn die streng stilisierten, ausdrucksstarken Gebärden, die immer ungewöhnlich, oft zauberhaft eindringlichen Umrißlinien der Schattenrisse an der Wand, die das Spiel ergab“ (Kallir 1998, S. 534).
Schiele verdankt seinem Promotor Arthur Roessler die Bekanntschaft mit einigen seiner wichtigsten und frühesten Sammlern. Über Roessler lernt er 1910 den steirischen Großindustriellen Carl Reininghaus kennen. Zwischen ihm und Schiele entwickelt sich über alle Alters- und Klassenschranken hinweg eine rege Freundschaft. Oft ist der jugendliche Künstler Gast im Salon des großbürgerlichen Mäzens. Angesichts der vielen durch Roessler vermittelten Kontakte (ein Großteil stammt aus Ärztekreisen) ist es kein Zufall, dass die Bildnismalerei bei Schiele – ähnlich wie beim jungen Kokoschka – einen hohen Stellenwert erhält und 1910 seinen malerischen Output geradezu dominiert.
Egon Schiele: Bildnis Carl Reininghaus (1910); Privatbesitz
Nach Egon Schieles überraschendem Tod am 31. Oktober 1918 betreut Roessler dessen Werk vor allem publizistisch und gibt innerhalb kurzer Zeit drei Schiele-Bücher heraus. Lange Zeit halten seine Publikationen als einzige Veröffentlichungen die Erinnerung an Leben und Werk des verstorbenen Künstlers wach.

Literaturhinweise
Kallir, Jane: Egon Schiele. The Complete Works. Thames & Hudson Ltd., New York 1998;
Klee, Alexander: Attitüde und Geste als Abbild des Geschlechterverhältnisses. In: Agnes Husslein-Arco/Jane Kallir, Egon Schiele. Selbstporträts und Porträts. Prestel Verlag, München 2011, S. 31-45;
Natter, Tobias G.: Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka. Sammler und Mäzene. DuMont Verlag, Köln 2003;
Natter, Tobias G.: „Nichts und niemand hilft mir!“ Egon Schiele und sein Promoter Arthur Roessler. In: Tobias G. Natter/Ursula Storch (Hrsg.), Egon Schiele & Arthur Roessler. Der Künstler und sein Förderer. Kunst und Networking im frühen 20. Jahrhundert. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2004, S. 9-19.

(zuletzt bearbeitet am 9. Juni 2020)

Sonntag, 16. Februar 2014

Giuseppe Sanmartinos bildhauerisches Bravourstück – der „Verhüllte Christus“ in Neapel


Giuseppe Sanmartino: Verhüllter Christus (1753); Neapel, Cappella Sansevero
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Der Verhüllte Christus von Giuseppe Sanmartino (1720–1793) zählt ohne Frage zu den Meisterwerken spätbarocker Skulptur. Die Marmorfigur befindet sich in der Cappella Sansevero in Neapel, im Zentrum der Altstadt gelegen. Sie ist ein ebenso überraschendes wie eindrückliches Zeugnis überragenden bildhauerischen Könnens, das den Betrachter auch heute noch in Staunen versetzt. Denn Sanmartino hat den auf einem Ruhelager aufgebahrten toten Christus mit einem transparenten Leichentuch bedeckt – ein künstlerisches Bravourstück ersten Ranges. Das Tuch ist so fein gearbeitet, dass immer wieder Zweifel daran aufkamen, ob es sich hierbei tatsächlich nur um Marmor handelt oder ob der Bildhauer nicht doch Stoff verwendet hat.
Das Totenlager Christi besteht aus einem niedrigen Podest, das mit einer Decke aus dunkelgrünem Stein verkleidet ist. Das Tuch liegt fast glatt auf dem Untergrund auf und wirft nur wenige dicke Falten, sodass der Stein einen schweren Stoff suggeriert. Eine umlaufende Borte und ein fransenverzierter Saum unterstreichen die Kostbarkeit der Decke. Auf dem Podest befinden sich das eigentliche Ruhelager und der Leichnam, die beide aus einem Block weißen Marmors gearbeitet sind. Die Liegestatt Christi besteht aus einer Matratze und zwei mit Quasten verzierten Kissen. Am Kopfende hat der Bildhauer das Lager mit dem Schriftzug „JOSEPH NEAP. SANMARTINO FECIT 1753“ signiert.
Ein Andachtsbild, das die compassio des Betrachters wecken soll
Der Oberkörper Christi ist gegen die beiden Kissen gestützt, sein Kopf liegt, zur linken Seite gedreht, auf dem oberen, etwas kleineren Polster. Sein Gesicht wirkt wie das eines ruhig Schlafenden, die Augen sind geschlossen. Die linke Hand ruht in seinem Schoß, die rechte hingegen an seiner Seite. Die Füße, an denen genau wie an den Händen und am Oberkörper die Wundmale in Form tiefer Einstiche zu sehen sind, liegen nebeneinander.
Die kraftlose und etwas eingesunkene Gestalt zeigt deutlich, dass es sich um einen Toten handelt. Selbst unter dem Stoff des Leichentuches bleiben die Merkmale eines Leichnams erkennbar, so beispielsweise die hervortretenden Rippenbögen und die eingefallenen Bauchmuskeln. Das dünne Leichentuch schmiegt sich dem Gesicht in derart feinen Falten an, dass dessen Züge hindurchscheinen. Während es über die rechte Gesichtshälfte herabgleitet und daher mehr Falten wirft, liegt es über der linken fast gänzlich glatt an. Die Faltenzüge ziehen sich vom Gesicht aus weiter über den Oberkörper und setzen sich in vielen schmalen Wellen fort, mit denen das Tuch bis zu den Füßen verläuft.
Meisterschaft, die sprachlos macht
Die Zartheit des Leichentuchs wird noch betont durch einen feinen Spitzensaum, der rechts neben den Füßen Christi auf der Matratze aufliegt. Auf der anderen Seite sind einige der Leidenswerkzeuge abgelegt – drei Nägel, eine Zange und die Dornenkrone. „Insbesondere die Dornenkrone bildet ein bildhauerisches Meisterwerk, das ebenso wie das transparente Leichentuch und die scheinbar weichen Polster allein schon Sanmartinos technisches Können beweist“ (Deckers 2010, S. 285). Die Zange, die nicht direkt zu den Leidenswerkzeugen gehört, verweist nicht auf die Kreuzigung selbst, wohl aber auf die nachfolgende Kreuzabnahme. Sie erinnert an diesen Moment, „der nicht in einer fernen Vergangenheit zu denken ist, sondern im Gegenteil als ein gerade vergangener erscheint“ (Oy-Marra 2018, S. 176).
Alle vier Evangelien berichten von der Verhüllung Christi mit einem Grabtuch (Matthäus 27,57-69; Markus 15,46; Lukas 23,56; Johannes 19,38-40): „Am Abend aber kam ein reicher Mann aus Arimathäa, der hieß Josef und war auch ein Jünger Jesu. Der ging zu Pilatus und bat um den Leib Jesu. Da befahl Pilatus, man sollte ihm den geben. Und Josef nahm den Leib und wickelte ihn in ein reines Leinentuch und legte ihn in sein eigenes neues Grab, das er in einen Felsen hatte hauen lassen, und wälzte einen großen Stein vor die Tür des Grabes und ging davon“ (Matthäus 27,57-60).
Stefano Maderno: Hl. Cäcilie (1599/1600); Rom, Santa Cecilia in Trastevere
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Eines der wichtigstes Vorbilder für Sanmartinos Verhüllten Christus ist sicherlich Stefano Madernos Skulptur der Hl. Cäcilie in der römischen Kirche Santa Cecilia in Trastevere (1599/1600). Maderno zeigt die Märtyrerin so, wie sie der Überlieferung nach in ihrem Grab gefunden wurde. Als Modell für Sanmartino muss auch Gianlorenzo Berninis römische Liegefigur der Sl. Ludovica Albertoni in San Francesco a Ripa (1671-1674) genannt werden. Nicht nur die Pose der Sterbenden, die ebenfalls ihren Oberkörper gegen ein Kissen stützt, sondern auch die Einzelheiten des Ruhelagers – außer dem Kissen die Matratze und die üppige fransenbesetzte Decke im Vordergrund – fordern zu einem Vergleich der beiden Skulpturen auf. Gerade Berninis virtuose Bearbeitung des Marmors, die aus dem Stein ein augenscheinlich weiches Ruhelager werden lässt, setzte Maßstäbe für nachfolgende Liegefiguren.
Gianlorenzo Bernini: Sl. Ludovica Albertoni (1671-1674); Rom, San Francesco a Ripa
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Aber auch auf die neapolitanische Tradition kann verwiesen werden: Während des 17. Jahrhunderts wurden immer öfter vollplastische Abbilder des Heilands aus Holz oder Wachs in grabesähnlichen Nischen unter den Altären in den Sakralbauten Neapels und Kampaniens aufgebahrt. Diese Exemplare werden bisweilen heute noch bei Karfreitagsprozessionen mitgeführt. Sanmartinos Lehrmeister, der neapolitanische Bildhauer Matteo Bottiglieri (1684–1757), ging seinem Schüler mit der Darstellung Christi in Gestalt einer vollplastischen Liegefigur aus Marmor voraus, die er 1724 für den Dom Santi Stefano e Agata in Capua schuf. Auch hier sind Kopf und Oberkörper des Leichnams gegen ein Polster gestützt, die Dornenkrone und die Nägel neben den Füßen angeordnet. 
Matteo Bottiglieri: Cristo morente (1724); Capua, Dom
Sanmartinos Skupltur verbindet also die im neapolitanischen Raum tradierte Darstellung Christi auf seinem Totenlager mit den Zutaten der kostbaren Liegestatt, wie sie von den römischen Vorbildern bekannt waren. Doch die Originalität des Cristo velato zeigt sich ohne Frage vor allem in der erstaunlichen Verhüllung der Figur – Meisterschaft, die sprachlos macht.
Blick in die Cappella Sansevero

Literaturhinweise
Albright, Thomas D.: The Veiled Christ of Cappella Sansevero: On Art, Vision and Reality. In: Leonardo 46 (2013), S. 19-23;
Deckers, Regina: Die Testa velata in der Barockplastik. Zur Bedeutung von Schleier und Verhüllung zwischen Trauer, Allegorie und Sinnlichkeit. Hirmer Verlag, München 2010;
Oy-Marra, Elisabeth:  Der verschleierte Christus in der Cappella Sansevero in Neapel. Überlegungen zum Christusbild in der Frühaufklärung. In: Elisabeth Oy-Marra/Dietrich Scholler (Hrsg.), Parthenope – Neapolis – Napoli. Bilder einer porösen Stadt. Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2018, S. 163-182.

(zuletzt bearbeitet am 5. November 2024)

Samstag, 8. Februar 2014

Eine Perle aus Essen – Pierre-Auguste Renoirs „Lise“


Pierre-Auguste Renoir: Lise (1867); Essen, Museum Folkwang
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Die Maler Pierre-Auguste Renoir (1841–1919), Claude Monet (1840–1926), Frédéric Bazille (1841–1870) und Alfred Sisley (1839–1899) kannten sich seit ihrer Studienzeit. 1862 waren sie sich im Pariser Atelier ihres gemeinsamen Lehrers Charles Gleyre begegnet und hatten sich miteinander befreundet. Bazille nahm Monet und Renoir, die ständig in finanziellen Schwierigkeiten steckten, 1866/67 für längere Zeit in seinem Atelier auf. Daher verwundert es nicht, dass sie sich mit ähnlichen künstlerischen Problemen beschäftigten. Außerdem einte sie ein gemeinsames Ziel: das erfolgreiche Debüt im Pariser Salon, der damals renommiertesten Kunstausstellung der Welt.
Claude: Monet: Camille (1866); Bremen, Kunsthalle
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Monet erzielte 1866 erstmals großes Aufsehen mit seiner Camille (siehe meinen Post „La Parisienne“), während Renoirs Werke in diesem wie auch im folgenden Jahr von der Jury abgelehnt wurden. Die positive Resonanz auf Monets Camille könnte Renoir durchaus veranlasst haben, für den nächsten Salon gleichfalls ein lebensgroßes Frauenbild zu malen. So entstand 1867 die Lise, die ein Jahr später tatsächlich im Salon zu sehen war. Das Bild war nicht das erste, das Renoir dort zeigen konnte, aber das erste, das von den Kritikern beachtet und diskutiert wurde.
Dargestellt ist Lise Tréhot (1848–1922), die von ca. 1865 bis 1871 Renoirs bevorzugtes Modell war. Renoirs Freund Jules Le Cœur, der Geliebte von Lises Schwester, muss die beiden miteinander bekannt gemacht haben, und wahrscheinlich waren auch Renoir und Lise ein Paar. Sie posierte für mindestens 17 Porträts und Figurenbilder ihres Freundes, darunter sämtliche großformatigen Gemälde, die er in dieser Zeit im Salon ausstellen konnte. Demnach hatte Lise damals eine ähnliche Bedeutung für Renoir wie Camille für Monet.
Während nun Monet seine Camille schräg von hinten und in Bewegung zeigt, das Bild quasi durchschreitend, präsentiert Renoir Lise dagegen statisch und frontal. Ihre nach vorn drapierte Schleppe und die schwarze Schärpe, die die hohe Taillenlinie markiert, bilden geradezu einen kompakten Sockel für ihren Oberkörper.
In ihrem leichten Sommerkleid und ihrer Pose wirkt Lise schlichter und natürlicher als die elegant-kapriziös inszenierte Camille. Verglichen mit Monets Camille ist Renoirs Bild von einer erstaunlichen, wundervollen Helligkeit, denn Renoir ließ – anders als Monet – Lise draußen in der Natur Modell stehen. Damit wird das Spiel von Licht und Schatten zum eigentlichen Thema des Gemäldes. Entscheidendes Instrument für die Lichtregie ist der zierliche Sonnenschirm, den Lise in der Hand hält: Er wirft einen Schatten auf Gesicht und Schultern, während das weiße Kleid die hellen Sonnenstrahlen reflektiert. Die Gesichtszüge, die üblicherweise bei einem Porträt im Vordergrund standen, treten deswegen zurück, während die modische Kleidung das Bild beherrscht.
Der matte, weiche Musselin des Kleides, der an den Armen und im Dekolleté die Haut durchschimmern lässt, kontrastiert mit dem glänzenden schwarzen Seidenband. Nur die Lippen, die Ohrringe und Haarbänder setzen feine rote Akzente. Dass Renoir das Kleid seiner Lise so betont und ihr Gesicht zurücknimmt, rückt sein Bild abermals an Monets Camille heran. „Beide sind nicht in erster Linie als Portrait aufzufassen, sondern als Bilder der modernen Pariserin, die sich souverän und elegant in Szene setzt“ (Hansen 2005, S. 104). Auch der Bildtitel Lise, der nur lapidar den Vornamen des Modells nennt, entspricht der Formulierung bei Monets Camille. Da die Nachnamen fehlen, sind mit den beiden dargestellten Frauen nicht bestimmte Personen gemeint, sondern zwei junge Pariserinnen schlechthin, die exemplarisch für das moderne Leben stehen.
Renoir zeigt Lise als modebewusste junge Frau aus der Stadt, die in der Natur Abwechslung sucht. Ihr Sommerkleid passt zur Pleinair-Situation, in der das Bild entstanden ist. Lise steht vor einem dunklen, schattigen Wald auf einer grünen Lichtung. Im Hintergrund erkennt man einen mächtigen Baumstamm, in dessen Rinde Initialen geritzt sind. Das könnte eine Anspielung auf versteckte Plätze von Liebespaaren sein. Ansonsten verzichtet Renoir völlig auf anekdotische Details. Der Wald ist nur summarisch ausgeführt und bleibt eher eine Kulisse, vor der sich die Figur abhebt, ähnlich wie vor dem gemalten Hintergrund im Atelier eines Fotografen. Eine überzeugendere Einbettung der Figur in die Landschaft sollte Renoir drei Jahre später mit dem Bild Der Spaziergang (1870) gelingen.
Pierre-Auguste Renoir: Der Spaziergang (1870); Los Angeles, The J. Paul Getty Museum
Auch Monets breiten, flüssigen Pinselstrich findet man bei Renoir wieder. In der Malweise unterschied sich Renoir sichtbar von James Tissot (1836–1902), der schon 1863 mit seinem Bild Die zwei Schwestern das Motiv der weiß gekleideten Frauen unter schattigen Bäumen gestaltet hatte, allerdings viel detaillierter ausgearbeitet und ohne Renoirs natürliche Lichteffekte und leuchtende Farbe. Der Prototyp sämtlicher Frauen in Weiß war jedoch James McNeill Whistlers Symphonie in Weiß (1862), die 1863 in Paris augestellt wurde und dort Furore machte – ein weiteres lebensgroßes Bild einer Künstlerfreundin als Beispiel eines besonderes Frauentyps der 1860er Jahre.
James Tissot: Die zwei Schwestern (1863); Paris, Musée dOrsay
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James McNeill Whistler: Symphonie in Weiß, Nr. 1 (1862);
Washington, National Gallery of Art
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Zwar galten Monets Camille und Renoirs Lise schon früh als „Schwestern“, doch sie hingen zu ihrer Entstehungszeit nie nebeneinander. 1901 begegneten sich die beiden Gemälde erstmals in der Dritten Ausstellung der Berliner Secession, wo Lise unter dem Titel Frau mit Sonnenschirm zum Verkauf angeboten wurde. Dort erwarb Karl Ernst Osthaus das Bild für sein Museum Folkwang in Hagen. 1922 wechselte die Osthaus-Sammlung nach Essen – und dort ist Lise auch heute noch zu sehen. Damit ist sie eine echte Perle des Ruhrgebiets, die man unbedingt vor Ort gesehen haben muss. Das Bild ist so lichtdurchflutet, dass auch im trübsten Februar sofort der Sommer einzieht, und die Meisterschaft Renoirs lässt sich erst richtig würdigen, wenn man z. B. die herrlichen transparenten Ärmel aus nächster Nähe betrachten kann.

Literaturhinweise
Hansen, Dorothee u.a. (Hrsg.): Monet und Camille. Frauenportraits im Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2005;
Kropmanns, Peter: Renoirs Künstlerfreundschaften – Bazille, Monet, Sisley. In: Kunstmuseum Basel (Hrsg.), Renoir. Zwischen Bohème und Bourgeoisie: Die frühen Jahre. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012.

(zuletzt bearbeitet am 15. November 2023)

Dienstag, 4. Februar 2014

La Parisienne – Claude Monet porträtiert seine Geliebte Camille Doncieux


Claude Monet: Camille (1866), Bremen, Kunsthalle
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Keine andere Frau hat Claude Monet (1840–1926) so oft gemalt wie Camille Doncieux. Sie erscheint von 1865 bis 1879, ihrem Todesjahr, regelmäßig in seinen Bildern. Seit 1865 ist sie Monets Geliebte, 1868 bringt sie den gemeinsamen Sohn Jean zur Welt, 1870 heiraten Monet und Camille. 1878 wird ihr zweiter Sohn Michel geboren. Am 5. September 1879 stirbt Camille im Alter von 32 Jahren an Unterleibskrebs. Monet malt sie ein letztes Mal: Camille auf dem Totenbett.
Auf dem großformatigen Gemälde von 1866 (231 x 151 cm) zeigt Monet Camille, damals gerade neunzehn Jahre alt, in einem prächtigen, schwarz-grün gestreiften Seidenkleid und schwarzer, pelzverbrämter Samtjacke vor einem dunkelroten Vorhang. Helle Lederhandschuhe und ein kleiner, federgeschmückter Kapotthut vervollständigen die durchaus kostspielige Garderobe. Es handelt sich um ein frühes Werk des Künstlers, das weder die helle Farbigkeit noch die kurzen, flirrenden Pinselstriche seiner impressionistischen Bilder aufweist. Camille, schräg von hinten gesehen, scheint langsam von links nach rechts durch das Bild zu schreiten und dabei nur einen kurzen Moment innezuhalten. Bewegung wird durch das lebendige Spiel der Falten ihres Kleides suggeriert, das Camille am Boden hinter sich herzieht. Ihre Position im Bild unterstreicht diesen Eindruck: Links ist das Ende der Schleppe vom Bildrand überschnitten, während rechts noch genügend Platz frei bleibt. „So ist sie nicht statisch in die Mitte des Bildfeldes hinein komponiert, sondern im gewählten Ausschnitt ist eine Richtung angelegt“ (Hansen 2005, S. 94).
Im Voranschreiten wendet Camille den Kopf ein wenig, verhalten neigt sie ihn über die rechte Schulter: ein retardierendes Moment, mit dem sie weniger auf die Ansprache durch eine Person zu reagieren als nachdenklich in sich hineinzuhorchen scheint. Dafür sprechen auch die niedergeschlagenen Augen, die keinen direkten Kontakt mit dem Betrachter zulassen. Ihr Mund ist geschlossen, das Gesicht als hellster Farb- und Lichtwert ohne jede Mimik auf die Leinwand gesetzt.
Diese Pariserin ist sich ihrer Wirkung sehr wohl bewusst
Camilles Pose wirkt auf den ersten Blick spontan und natürlich, doch bei näherer Betrachtung erkennt man darin kalkulierte Künstlichkeit. Ihre Hand berüht die Schleife des Hutbands, ohne sie wirklich zu binden. Diese Geste ist nicht ohne Koketterie. Zugleich verweist sie auf den Kopf, denn dessen Wendung mit erhobenem Kinn und gesenkten Lidern verrät ein subtiles Spiel: „Sie erweckt nur den Anschein, als wüsste sie nichts vom Betrachter, doch tatsächlich ist sie sich ihrer Wirkung auf ihn sehr bewusst“ (Hansen 2005, S. 96).
Monet verzichtet in seinem Gemälde auf jede Erzählung, er gibt nicht den kleinsten Hinweis durch Attribute oder Ausstattung des Raums, wohin Camille gehen will, warum sie innehält, was sie gerade denken mag. All das werden wir nie mit endgültiger Gewissheit erfahren. So bleibt Camilles Auftritt letztlich rätselhaft.
Ähnliche Posen finden sich allerdings auch in zeitgenössischen Modeillustrationen. Die Farbkombination ihres mit kontrastierenden Längsstreifen versehenen Kleides – eine elegante Promenadentoilette – war damals äußerst en vogue, und pelzverbrämte Jacken wurden in vielen Variationen getragen. Damit entsprach Monet dem Diktum Charles Baudelaires, der bereits 1863 gefordert hatte, der Maler solle das moderne – gemeint ist das großstädtische – Leben abbilden. Das Bildnis der Camille wird damit zu einem Typenporträt, „das den Zeitgeist des Zweiten Kaiserreichs in einer einzigen Figur verkörpert: Sie ist das Exemplum der eleganten Pariserin, im Vorbeigehen beobachtet mit den Augen eines Zeitgenossen“ (Hansen 2005, S. 99). Deswegen wird auch die intime Beziehung Camilles zu ihrem Porträtisten mit keinem Pinselstrich zum Thema des Gemäldes. Überhaupt ist es vor allem das Kleid, das als der eigentliche Mittelpunkt der Komposition zu gelten hat: Es erscheint „durch seine mit Händen zu greifende haptische Qualität, durch seine bildnerische Unmittelbarkeit, ja durch das wie hörbar gestaltete Rauschen und Knistern der schweren Stoffe von gleichsam lebendiger Gegenwart und spricht mithin stärker zum Betrachter als das kaum gezeigte, verschlossene Gesicht“ (Fleckner 2005, S. 42).
Edouard Manet: Die Straßensängerin (1862); Boston, Museum of
Fine Arts (für die Großansicht einfach anklicken)
Edouard Manet: Junger Mann im Kostüm eines Majo (1863); New York,
Metropolitan Museum of Art (für die Großansicht anklicken)
Angeregt zu seiner großformatigen Frauendarstellung wurde Monet von Edouard Manet (1832–1883), der seit 1862 solche Bilder gemalt hatte (Die Straßensängerin). Vor allem aber hatte Manet in Gemälden wie Junger Mann im Kostüm eines Majo sowie mit seinen Philosophendarstellungen oder den Tragischen Schauspielern die Präsentation von Einzelfiguren vor neutralem dunklen Grund vorgeprägt. Angesichts dieser deutlichen Bezüge ist es kein Wunder, dass viele Zeitgenossen die Camille für ein Werk Manets hielten, zumal auch die Namen der Künstler ganz ähnlich klangen.
Mit seiner Camille feierte Monet einen großen Erfolg im Pariser Salon. 1866 war erst das zweite Jahr, in dem er an der damals renommiertesten Kunstausstellung der Welt teilnahm. Es sollte jedoch auch sein einziger Erfolg dort bleiben. Nur 1868 wurde nochmals eines seiner Bilder von der Jury für den Salon zugelassen (Schiffe verlassen die Mole von Le Havre). Nachdem man seine Werke 1869 und 1870 abermals abgelehnt hatte, verzichtete Monet darauf, sich zu bewerben, und präsentierte seine Bilder seit 1874 mit seinen Freunden in den berühmten Impressionistenausstellungen.
Monets Camille hat neben dem Vie moderne noch ein weiteres Thema, das bereits auf den Impressionismus vorausweist: Es geht um den schönen, den vorübergehenden Augenblick – Camille schreitet an uns vorbei, sie wird das Bild im nächsten Moment verlassen. Monets malerischer Zugriff bleibt hier jedoch traditionell-realistisch; es ist noch nichts von seinem späteren künstlerischen Verfahren zu beobachten, bei dem die sichtbare Erscheinung in viele farbige Flecken aufgelöst wird.

Literaturhinweise
Busch, Günter: Claude Monet: Camille. Vom Realismus zum Impressionismus. In: Günter Busch, Das Gesicht. Aufsätze zur Kunst. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 138-168;
Fleckner, Uwe: In voller Lebensgröße. Claude Monet und die Kunst des ganzfigurigen Portraits. In: Dorothee Hansen u.a. (Hrsg.), Monet und Camille. Frauenportraits im Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2005, S. 42-51;
Hansen, Dorothee u.a. (Hrsg.): Monet und Camille. Frauenportraits im Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2005;
Weiß, Susanne: Claude Monet. Ein distanzierter Blick auf Stadt und Land. Werke 1859–1889. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 49-53.

(zuletzt bearbeitet 9. Juni 2020)