Sonntag, 23. Februar 2014

Das Porträt im österreichischen Expressionismus (1): Egon Schiele malt Arthur Roessler


Egon Schiele: Bildnis Arthur Roessler (1910); Wien, Historisches Museum
Der Wiener Jugendstil ist untrennbar mit dem Namen Gustav Klimt (1862–1918) verbunden. Die ihm nachfolgende österreichische Malergeneration, allen voran Oskar Kokoschka (1886–1980) und Egon Schiele (1890–1918), sucht jedoch nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und wendet sich dem Expressionismus zu.
Egon Schiele kommt am 12. Juni 1890 im niederösterreichischen Tulln zur Welt. Der Vater ist Bahnhofsvorstand; sein früher Tod verschlechtert die finanzielle Lage des heranwachsenden Sohnes und seiner drei Schwestern deutlich. Die Kinder bekommen einen Mitvormund, und gegen dessen Willen legt Egon Schiele 1906 die Aufnahmeprüfung an der Wiener Kunstakademie ab. Auch die Mutter ist von seiner Berufswahl wenig begeistert. Nach drei Studienjahren verlässt Schiele mit Gleichgesinnten vorzeitig die Kunstakademie; gemeinsam gründen sie die „Neukunstgruppe“. Schiele explodiert regelrecht: In kürzester Zeit entsteht ein künstlerisch wie zahlenmäßig beeindruckendes Œuvre. Etwa 340 Ölbilder sowie rund 2500 Zeichnungen und Aquarelle in weniger als zehn Jahren zeugen von seiner atemberaubenden Schaffenskraft.
Seit der Jahreswende 1909/10 ist Schiele zur vordersten Reihe der europäischen Expressionisten zu zählen. In dieser Zeit lernt der Maler auch seinen „Entdecker“ und künftigen Förderer Arthur Roessler kennen. Im Rahmen der ersten „Neukunst“-Ausstellung im Wiener Kunstsalon Pisko schließen die beiden Freundschaft. Roessler, nur wenige Jahre älter als Egon Schiele, setzt sich zielstrebig für den Künstler ein. Als einer der Ersten erkennt er im vollen Umfang dessen Potenzial. Roessler organisiert Ankäufe und Porträtaufträge, vermittelt Sammler und Händler, führt Verhandlungen und managt Ausstellungen. Gleichzeitig lenkt er als Journalist geschickt das publizistische Interesse auf den noch wenig bekannten Schiele. Als Roessler 1911 die Zeitschrift Bildende Künstler. Monatsschrift für Künstler und Kunstfreunde herausgibt, veröffentlicht er darin den ersten größeren Artikel über Egon Schiele. Kaum ein anderer junger österreichischer Künstler wird damals ähnlich professionell betreut. Parallel dazu trägt Roessler in seinem Heim eine der wichtigsten Schiele-Kollektionen zusammen.
Von April bis Mai 1911 findet Schieles erste Einzelausstellung in der Wiener Galerie Miethke statt. In dieser Austellung ist Roessler indirekt durch sein Porträt vertreten, das Schiele Mitte September 1910 gemalt und ihm dann geschenkt hatte. Es zeigt Roessler bis zur Hüfte vor einem fast neutralen Hintergrund, wobei der Porträtierte von einer blasenartigen Form umfangen wird. Im Gesicht und im Anzug dominieren erdige Rot-und Brauntöne. Die Beine Roesslers stehen im rechten Winkel zueinander, das linke verkürzt zum Betrachter, das rechte anatomisch verzerrt, „um es in eine bildparallele Anordnung zu zwingen“ (Natter 2003, S. 199). Die Hände sind auseinandergespreizt und ebenfalls bildparallel – optischen Schranken gleich –  vor den Körper gehalten. Die linke Schulter wirkt stark abgesenkt, die rechte hochgezogen. Seinen Kopf hat Roessler ins Profil gedreht, seiner rechten Schuler zugewandt; die Augen sind geschlossen. Auf Requisiten, Attribute oder persönliche Accessoires wird komplett verzichtet. „Das minimalistische Gestaltungsprinzip kündet von einer radikalen Absage an die dekorativen Gestaltungsmuster der Zeit“ (Natter 2004, S. 11).
Javanische Schattenspielfiguren
Mit Recht ist bei diesem Bildnis immer wieder auf die Anregung durch die javanischen Schattenspielfiguren hingewiesen worden, die Arthur Roessler besaß. Schiele war fasziniert von ihnen: Durch ihre feinen und übermäßig langen Gliedmaßen sowie die allseits beweglichen Armgelenke können sie Haltungen einnehmen, die Schiele ganz ähnlich auf vielen Porträts und Aktdarstellungen verwendet. Seine Begeisterung für diese Figuren, die er durch Roessler kennenlernte, ist auch an dessen Porträt ablesbar. Roessler berichtet: „Aus Büffelleder geschnittene und filigranfein durchbrochene, schön bemalte javanische Schattenspielfiguren, die ich durch Zufall erworben hatte, waren es späterhin, was ihn zu häufigen Besuchen bei mir lockte. Stundenlang konnte er mit diesen Figuren spielen, ohne zu ermüden und ohne dabei auch nur ein Wort zu sprechen. Das eigentlich Erstaunliche hiebei war die Geschicklichkeit, mit der Schiele die dünnen Bewegungsstäbchen der Figuren gleich von Anbeginn handhabte. (...) Es faszinierten ihn die streng stilisierten, ausdrucksstarken Gebärden, die immer ungewöhnlich, oft zauberhaft eindringlichen Umrißlinien der Schattenrisse an der Wand, die das Spiel ergab“ (Kallir 1998, S. 534).
Schiele verdankt seinem Promotor Arthur Roessler die Bekanntschaft mit einigen seiner wichtigsten und frühesten Sammlern. Über Roessler lernt er 1910 den steirischen Großindustriellen Carl Reininghaus kennen. Zwischen ihm und Schiele entwickelt sich über alle Alters- und Klassenschranken hinweg eine rege Freundschaft. Oft ist der jugendliche Künstler Gast im Salon des großbürgerlichen Mäzens. Angesichts der vielen durch Roessler vermittelten Kontakte (ein Großteil stammt aus Ärztekreisen) ist es kein Zufall, dass die Bildnismalerei bei Schiele – ähnlich wie beim jungen Kokoschka – einen hohen Stellenwert erhält und 1910 seinen malerischen Output geradezu dominiert.
Egon Schiele: Bildnis Carl Reininghaus (1910); Privatbesitz
Nach Egon Schieles überraschendem Tod am 31. Oktober 1918 betreut Roessler dessen Werk vor allem publizistisch und gibt innerhalb kurzer Zeit drei Schiele-Bücher heraus. Lange Zeit halten seine Publikationen als einzige Veröffentlichungen die Erinnerung an Leben und Werk des verstorbenen Künstlers wach.

Literaturhinweise
Kallir, Jane: Egon Schiele. The Complete Works. Thames & Hudson Ltd., New York 1998;
Klee, Alexander: Attitüde und Geste als Abbild des Geschlechterverhältnisses. In: Agnes Husslein-Arco/Jane Kallir, Egon Schiele. Selbstporträts und Porträts. Prestel Verlag, München 2011, S. 31-45;
Natter, Tobias G.: Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka. Sammler und Mäzene. DuMont Verlag, Köln 2003;
Natter, Tobias G.: „Nichts und niemand hilft mir!“ Egon Schiele und sein Promoter Arthur Roessler. In: Tobias G. Natter/Ursula Storch (Hrsg.), Egon Schiele & Arthur Roessler. Der Künstler und sein Förderer. Kunst und Networking im frühen 20. Jahrhundert. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2004, S. 9-19.

(zuletzt bearbeitet am 9. Juni 2020)

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