Samstag, 8. Februar 2014

Eine Perle aus Essen – Pierre-Auguste Renoirs „Lise“


Pierre-Auguste Renoir: Lise (1867); Essen, Museum Folkwang
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Die Maler Pierre-Auguste Renoir (1841–1919), Claude Monet (1840–1926), Frédéric Bazille (1841–1870) und Alfred Sisley (1839–1899) kannten sich seit ihrer Studienzeit. 1862 waren sie sich im Pariser Atelier ihres gemeinsamen Lehrers Charles Gleyre begegnet und hatten sich miteinander befreundet. Bazille nahm Monet und Renoir, die ständig in finanziellen Schwierigkeiten steckten, 1866/67 für längere Zeit in seinem Atelier auf. Daher verwundert es nicht, dass sie sich mit ähnlichen künstlerischen Problemen beschäftigten. Außerdem einte sie ein gemeinsames Ziel: das erfolgreiche Debüt im Pariser Salon, der damals renommiertesten Kunstausstellung der Welt.
Claude: Monet: Camille (1866); Bremen, Kunsthalle
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Monet erzielte 1866 erstmals großes Aufsehen mit seiner Camille (siehe meinen Post „La Parisienne“), während Renoirs Werke in diesem wie auch im folgenden Jahr von der Jury abgelehnt wurden. Die positive Resonanz auf Monets Camille könnte Renoir durchaus veranlasst haben, für den nächsten Salon gleichfalls ein lebensgroßes Frauenbild zu malen. So entstand 1867 die Lise, die ein Jahr später tatsächlich im Salon zu sehen war. Das Bild war nicht das erste, das Renoir dort zeigen konnte, aber das erste, das von den Kritikern beachtet und diskutiert wurde.
Dargestellt ist Lise Tréhot (1848–1922), die von ca. 1865 bis 1871 Renoirs bevorzugtes Modell war. Renoirs Freund Jules Le Cœur, der Geliebte von Lises Schwester, muss die beiden miteinander bekannt gemacht haben, und wahrscheinlich waren auch Renoir und Lise ein Paar. Sie posierte für mindestens 17 Porträts und Figurenbilder ihres Freundes, darunter sämtliche großformatigen Gemälde, die er in dieser Zeit im Salon ausstellen konnte. Demnach hatte Lise damals eine ähnliche Bedeutung für Renoir wie Camille für Monet.
Während nun Monet seine Camille schräg von hinten und in Bewegung zeigt, das Bild quasi durchschreitend, präsentiert Renoir Lise dagegen statisch und frontal. Ihre nach vorn drapierte Schleppe und die schwarze Schärpe, die die hohe Taillenlinie markiert, bilden geradezu einen kompakten Sockel für ihren Oberkörper.
In ihrem leichten Sommerkleid und ihrer Pose wirkt Lise schlichter und natürlicher als die elegant-kapriziös inszenierte Camille. Verglichen mit Monets Camille ist Renoirs Bild von einer erstaunlichen, wundervollen Helligkeit, denn Renoir ließ – anders als Monet – Lise draußen in der Natur Modell stehen. Damit wird das Spiel von Licht und Schatten zum eigentlichen Thema des Gemäldes. Entscheidendes Instrument für die Lichtregie ist der zierliche Sonnenschirm, den Lise in der Hand hält: Er wirft einen Schatten auf Gesicht und Schultern, während das weiße Kleid die hellen Sonnenstrahlen reflektiert. Die Gesichtszüge, die üblicherweise bei einem Porträt im Vordergrund standen, treten deswegen zurück, während die modische Kleidung das Bild beherrscht.
Der matte, weiche Musselin des Kleides, der an den Armen und im Dekolleté die Haut durchschimmern lässt, kontrastiert mit dem glänzenden schwarzen Seidenband. Nur die Lippen, die Ohrringe und Haarbänder setzen feine rote Akzente. Dass Renoir das Kleid seiner Lise so betont und ihr Gesicht zurücknimmt, rückt sein Bild abermals an Monets Camille heran. „Beide sind nicht in erster Linie als Portrait aufzufassen, sondern als Bilder der modernen Pariserin, die sich souverän und elegant in Szene setzt“ (Hansen 2005, S. 104). Auch der Bildtitel Lise, der nur lapidar den Vornamen des Modells nennt, entspricht der Formulierung bei Monets Camille. Da die Nachnamen fehlen, sind mit den beiden dargestellten Frauen nicht bestimmte Personen gemeint, sondern zwei junge Pariserinnen schlechthin, die exemplarisch für das moderne Leben stehen.
Renoir zeigt Lise als modebewusste junge Frau aus der Stadt, die in der Natur Abwechslung sucht. Ihr Sommerkleid passt zur Pleinair-Situation, in der das Bild entstanden ist. Lise steht vor einem dunklen, schattigen Wald auf einer grünen Lichtung. Im Hintergrund erkennt man einen mächtigen Baumstamm, in dessen Rinde Initialen geritzt sind. Das könnte eine Anspielung auf versteckte Plätze von Liebespaaren sein. Ansonsten verzichtet Renoir völlig auf anekdotische Details. Der Wald ist nur summarisch ausgeführt und bleibt eher eine Kulisse, vor der sich die Figur abhebt, ähnlich wie vor dem gemalten Hintergrund im Atelier eines Fotografen. Eine überzeugendere Einbettung der Figur in die Landschaft sollte Renoir drei Jahre später mit dem Bild Der Spaziergang (1870) gelingen.
Pierre-Auguste Renoir: Der Spaziergang (1870); Los Angeles, The J. Paul Getty Museum
Auch Monets breiten, flüssigen Pinselstrich findet man bei Renoir wieder. In der Malweise unterschied sich Renoir sichtbar von James Tissot (1836–1902), der schon 1863 mit seinem Bild Die zwei Schwestern das Motiv der weiß gekleideten Frauen unter schattigen Bäumen gestaltet hatte, allerdings viel detaillierter ausgearbeitet und ohne Renoirs natürliche Lichteffekte und leuchtende Farbe. Der Prototyp sämtlicher Frauen in Weiß war jedoch James McNeill Whistlers Symphonie in Weiß (1862), die 1863 in Paris augestellt wurde und dort Furore machte – ein weiteres lebensgroßes Bild einer Künstlerfreundin als Beispiel eines besonderes Frauentyps der 1860er Jahre.
James Tissot: Die zwei Schwestern (1863); Paris, Musée dOrsay
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James McNeill Whistler: Symphonie in Weiß, Nr. 1 (1862);
Washington, National Gallery of Art
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Zwar galten Monets Camille und Renoirs Lise schon früh als „Schwestern“, doch sie hingen zu ihrer Entstehungszeit nie nebeneinander. 1901 begegneten sich die beiden Gemälde erstmals in der Dritten Ausstellung der Berliner Secession, wo Lise unter dem Titel Frau mit Sonnenschirm zum Verkauf angeboten wurde. Dort erwarb Karl Ernst Osthaus das Bild für sein Museum Folkwang in Hagen. 1922 wechselte die Osthaus-Sammlung nach Essen – und dort ist Lise auch heute noch zu sehen. Damit ist sie eine echte Perle des Ruhrgebiets, die man unbedingt vor Ort gesehen haben muss. Das Bild ist so lichtdurchflutet, dass auch im trübsten Februar sofort der Sommer einzieht, und die Meisterschaft Renoirs lässt sich erst richtig würdigen, wenn man z. B. die herrlichen transparenten Ärmel aus nächster Nähe betrachten kann.

Literaturhinweise
Hansen, Dorothee u.a. (Hrsg.): Monet und Camille. Frauenportraits im Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2005;
Kropmanns, Peter: Renoirs Künstlerfreundschaften – Bazille, Monet, Sisley. In: Kunstmuseum Basel (Hrsg.), Renoir. Zwischen Bohème und Bourgeoisie: Die frühen Jahre. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012.

(zuletzt bearbeitet am 15. November 2023)

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