Sonntag, 16. Februar 2014

Giuseppe Sanmartinos bildhauerisches Bravourstück – der „Verhüllte Christus“ in Neapel


Giuseppe Sanmartino: Verhüllter Christus (1753); Neapel, Cappella Sansevero
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Der Verhüllte Christus von Giuseppe Sanmartino (1720–1793) zählt ohne Frage zu den Meisterwerken spätbarocker Skulptur. Die Marmorfigur befindet sich in der Cappella Sansevero in Neapel, im Zentrum der Altstadt gelegen. Sie ist ein ebenso überraschendes wie eindrückliches Zeugnis überragenden bildhauerischen Könnens, das den Betrachter auch heute noch in Staunen versetzt. Denn Sanmartino hat den auf einem Ruhelager aufgebahrten toten Christus mit einem transparenten Leichentuch bedeckt – ein künstlerisches Bravourstück ersten Ranges. Das Tuch ist so fein gearbeitet, dass immer wieder Zweifel daran aufkamen, ob es sich hierbei tatsächlich nur um Marmor handelt oder ob der Bildhauer nicht doch Stoff verwendet hat.
Das Totenlager Christi besteht aus einem niedrigen Podest, das mit einer Decke aus dunkelgrünem Stein verkleidet ist. Das Tuch liegt fast glatt auf dem Untergrund auf und wirft nur wenige dicke Falten, sodass der Stein einen schweren Stoff suggeriert. Eine umlaufende Borte und ein fransenverzierter Saum unterstreichen die Kostbarkeit der Decke. Auf dem Podest befinden sich das eigentliche Ruhelager und der Leichnam, die beide aus einem Block weißen Marmors gearbeitet sind. Die Liegestatt Christi besteht aus einer Matratze und zwei mit Quasten verzierten Kissen. Am Kopfende hat der Bildhauer das Lager mit dem Schriftzug „JOSEPH NEAP. SANMARTINO FECIT 1753“ signiert.
Ein Andachtsbild, das die compassio des Betrachters wecken soll
Der Oberkörper Christi ist gegen die beiden Kissen gestützt, sein Kopf liegt, zur linken Seite gedreht, auf dem oberen, etwas kleineren Polster. Sein Gesicht wirkt wie das eines ruhig Schlafenden, die Augen sind geschlossen. Die linke Hand ruht in seinem Schoß, die rechte hingegen an seiner Seite. Die Füße, an denen genau wie an den Händen und am Oberkörper die Wundmale in Form tiefer Einstiche zu sehen sind, liegen nebeneinander.
Die kraftlose und etwas eingesunkene Gestalt zeigt deutlich, dass es sich um einen Toten handelt. Selbst unter dem Stoff des Leichentuches bleiben die Merkmale eines Leichnams erkennbar, so beispielsweise die hervortretenden Rippenbögen und die eingefallenen Bauchmuskeln. Das dünne Leichentuch schmiegt sich dem Gesicht in derart feinen Falten an, dass dessen Züge hindurchscheinen. Während es über die rechte Gesichtshälfte herabgleitet und daher mehr Falten wirft, liegt es über der linken fast gänzlich glatt an. Die Faltenzüge ziehen sich vom Gesicht aus weiter über den Oberkörper und setzen sich in vielen schmalen Wellen fort, mit denen das Tuch bis zu den Füßen verläuft.
Meisterschaft, die sprachlos macht
Die Zartheit des Leichentuchs wird noch betont durch einen feinen Spitzensaum, der rechts neben den Füßen Christi auf der Matratze aufliegt. Auf der anderen Seite sind einige der Leidenswerkzeuge abgelegt – drei Nägel, eine Zange und die Dornenkrone. „Insbesondere die Dornenkrone bildet ein bildhauerisches Meisterwerk, das ebenso wie das transparente Leichentuch und die scheinbar weichen Polster allein schon Sanmartinos technisches Können beweist“ (Deckers 2010, S. 285). Die Zange, die nicht direkt zu den Leidenswerkzeugen gehört, verweist nicht auf die Kreuzigung selbst, wohl aber auf die nachfolgende Kreuzabnahme. Sie erinnert an diesen Moment, „der nicht in einer fernen Vergangenheit zu denken ist, sondern im Gegenteil als ein gerade vergangener erscheint“ (Oy-Marra 2018, S. 176).
Alle vier Evangelien berichten von der Verhüllung Christi mit einem Grabtuch (Matthäus 27,57-69; Markus 15,46; Lukas 23,56; Johannes 19,38-40): „Am Abend aber kam ein reicher Mann aus Arimathäa, der hieß Josef und war auch ein Jünger Jesu. Der ging zu Pilatus und bat um den Leib Jesu. Da befahl Pilatus, man sollte ihm den geben. Und Josef nahm den Leib und wickelte ihn in ein reines Leinentuch und legte ihn in sein eigenes neues Grab, das er in einen Felsen hatte hauen lassen, und wälzte einen großen Stein vor die Tür des Grabes und ging davon“ (Matthäus 27,57-60).
Stefano Maderno: Hl. Cäcilie (1599/1600); Rom, Santa Cecilia in Trastevere
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Eines der wichtigstes Vorbilder für Sanmartinos Verhüllten Christus ist sicherlich Stefano Madernos Skulptur der Hl. Cäcilie in der römischen Kirche Santa Cecilia in Trastevere (1599/1600). Maderno zeigt die Märtyrerin so, wie sie der Überlieferung nach in ihrem Grab gefunden wurde. Als Modell für Sanmartino muss auch Gianlorenzo Berninis römische Liegefigur der Sl. Ludovica Albertoni in San Francesco a Ripa (1671-1674) genannt werden. Nicht nur die Pose der Sterbenden, die ebenfalls ihren Oberkörper gegen ein Kissen stützt, sondern auch die Einzelheiten des Ruhelagers – außer dem Kissen die Matratze und die üppige fransenbesetzte Decke im Vordergrund – fordern zu einem Vergleich der beiden Skulpturen auf. Gerade Berninis virtuose Bearbeitung des Marmors, die aus dem Stein ein augenscheinlich weiches Ruhelager werden lässt, setzte Maßstäbe für nachfolgende Liegefiguren.
Gianlorenzo Bernini: Sl. Ludovica Albertoni (1671-1674); Rom, San Francesco a Ripa
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Aber auch auf die neapolitanische Tradition kann verwiesen werden: Während des 17. Jahrhunderts wurden immer öfter vollplastische Abbilder des Heilands aus Holz oder Wachs in grabesähnlichen Nischen unter den Altären in den Sakralbauten Neapels und Kampaniens aufgebahrt. Diese Exemplare werden bisweilen heute noch bei Karfreitagsprozessionen mitgeführt. Sanmartinos Lehrmeister, der neapolitanische Bildhauer Matteo Bottiglieri (1684–1757), ging seinem Schüler mit der Darstellung Christi in Gestalt einer vollplastischen Liegefigur aus Marmor voraus, die er 1724 für den Dom Santi Stefano e Agata in Capua schuf. Auch hier sind Kopf und Oberkörper des Leichnams gegen ein Polster gestützt, die Dornenkrone und die Nägel neben den Füßen angeordnet. 
Matteo Bottiglieri: Cristo morente (1724); Capua, Dom
Sanmartinos Skupltur verbindet also die im neapolitanischen Raum tradierte Darstellung Christi auf seinem Totenlager mit den Zutaten der kostbaren Liegestatt, wie sie von den römischen Vorbildern bekannt waren. Doch die Originalität des Cristo velato zeigt sich ohne Frage vor allem in der erstaunlichen Verhüllung der Figur – Meisterschaft, die sprachlos macht.
Blick in die Cappella Sansevero

Literaturhinweise
Albright, Thomas D.: The Veiled Christ of Cappella Sansevero: On Art, Vision and Reality. In: Leonardo 46 (2013), S. 19-23;
Deckers, Regina: Die Testa velata in der Barockplastik. Zur Bedeutung von Schleier und Verhüllung zwischen Trauer, Allegorie und Sinnlichkeit. Hirmer Verlag, München 2010;
Oy-Marra, Elisabeth:  Der verschleierte Christus in der Cappella Sansevero in Neapel. Überlegungen zum Christusbild in der Frühaufklärung. In: Elisabeth Oy-Marra/Dietrich Scholler (Hrsg.), Parthenope – Neapolis – Napoli. Bilder einer porösen Stadt. Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2018, S. 163-182.

(zuletzt bearbeitet am 5. November 2024)

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