Giuseppe Sanmartino: Verhüllter Christus (1753); Neapel, Cappella Sansevero (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Totenlager
Christi besteht aus einem niedrigen Podest, das mit einer Decke aus dunkelgrünem
Stein verkleidet ist. Das Tuch liegt fast glatt auf dem Untergrund auf und
wirft nur wenige dicke Falten, sodass der Stein einen schweren Stoff
suggeriert. Eine umlaufende Borte und ein fransenverzierter Saum unterstreichen
die Kostbarkeit der Decke. Auf dem Podest befinden sich das eigentliche
Ruhelager und der Leichnam, die beide aus einem Block weißen Marmors gearbeitet
sind. Die Liegestatt Christi besteht aus einer Matratze und zwei mit Quasten
verzierten Kissen. Am Kopfende hat der Bildhauer das Lager mit dem Schriftzug
„JOSEPH NEAP. SANMARTINO FECIT 1753“ signiert.
Ein Andachtsbild, das die compassio des Betrachters wecken soll |
Der Oberkörper
Christi ist gegen die beiden Kissen gestützt, sein Kopf liegt, zur linken Seite
gedreht, auf dem oberen, etwas kleineren Polster. Sein Gesicht wirkt wie das
eines ruhig Schlafenden, die Augen sind geschlossen. Die linke Hand ruht in
seinem Schoß, die rechte hingegen an seiner Seite. Die Füße, an denen genau wie
an den Händen und am Oberkörper die Wundmale in Form tiefer Einstiche zu sehen
sind, liegen nebeneinander.
Die kraftlose und
etwas eingesunkene Gestalt zeigt deutlich, dass es sich um einen Toten handelt.
Selbst unter dem Stoff des Leichentuches bleiben die Merkmale eines Leichnams erkennbar,
so beispielsweise die hervortretenden Rippenbögen und die eingefallenen Bauchmuskeln.
Das dünne Leichentuch schmiegt sich dem Gesicht in derart feinen Falten an,
dass dessen Züge hindurchscheinen. Während es über die rechte Gesichtshälfte
herabgleitet und daher mehr Falten wirft, liegt es über der linken fast
gänzlich glatt an. Die Faltenzüge ziehen sich vom Gesicht aus weiter über den
Oberkörper und setzen sich in vielen schmalen Wellen fort, mit denen das Tuch
bis zu den Füßen verläuft.
Meisterschaft, die sprachlos macht |
Die Zartheit des
Leichentuchs wird noch betont durch einen feinen Spitzensaum, der rechts neben
den Füßen Christi auf der Matratze aufliegt. Auf der anderen Seite sind einige
der Leidenswerkzeuge abgelegt – drei Nägel, eine Zange und die Dornenkrone.
„Insbesondere die Dornenkrone bildet ein bildhauerisches Meisterwerk, das
ebenso wie das transparente Leichentuch und die scheinbar weichen Polster
allein schon Sanmartinos technisches Können beweist“ (Deckers 2010, S. 285). Die Zange, die nicht direkt zu den Leidenswerkzeugen gehört, verweist nicht auf die Kreuzigung selbst, wohl aber auf die nachfolgende Kreuzabnahme. Sie erinnert an diesen Moment, „der nicht in einer fernen Vergangenheit zu denken ist, sondern im Gegenteil als ein gerade vergangener erscheint“ (Oy-Marra 2018, S. 176).
Alle vier Evangelien berichten von der Verhüllung Christi mit einem Grabtuch (Matthäus 27,57-69; Markus 15,46; Lukas 23,56; Johannes 19,38-40):
„Am Abend aber kam ein reicher Mann aus Arimathäa,
der hieß Josef und war auch ein Jünger Jesu. Der ging zu Pilatus und bat um den
Leib Jesu. Da befahl Pilatus, man sollte ihm den geben. Und Josef nahm den Leib
und wickelte ihn in ein reines Leinentuch und legte ihn in sein eigenes neues
Grab, das er in einen Felsen hatte hauen lassen, und wälzte einen großen Stein
vor die Tür des Grabes und ging davon“ (Matthäus 27,57-60).
Stefano Maderno: Hl. Cäcilie (1599/1600); Rom, Santa Cecilia in Trastevere (für die Großansicht einfach anklicken) |
Eines der wichtigstes
Vorbilder für Sanmartinos Verhüllten
Christus ist sicherlich Stefano Madernos Skulptur der Hl. Cäcilie in der römischen Kirche Santa Cecilia in Trastevere
(1599/1600). Maderno zeigt die Märtyrerin so, wie sie der Überlieferung nach in
ihrem Grab gefunden wurde. Als Modell für Sanmartino muss auch Gianlorenzo
Berninis römische Liegefigur der Sl. Ludovica
Albertoni in San Francesco a Ripa (1671-1674) genannt werden. Nicht nur die
Pose der Sterbenden, die ebenfalls ihren Oberkörper gegen ein Kissen stützt,
sondern auch die Einzelheiten des Ruhelagers – außer dem Kissen die Matratze
und die üppige fransenbesetzte Decke im Vordergrund – fordern zu einem
Vergleich der beiden Skulpturen auf. Gerade Berninis virtuose Bearbeitung des
Marmors, die aus dem Stein ein augenscheinlich weiches Ruhelager werden lässt,
setzte Maßstäbe für nachfolgende Liegefiguren.
Gianlorenzo Bernini: Sl. Ludovica Albertoni (1671-1674); Rom, San Francesco a Ripa (für die Großansicht einfach anklicken) |
Aber auch auf die neapolitanische
Tradition kann verwiesen werden: Während des 17. Jahrhunderts wurden immer öfter
vollplastische Abbilder des Heilands aus Holz oder Wachs in grabesähnlichen Nischen
unter den Altären in den Sakralbauten Neapels und Kampaniens aufgebahrt. Diese
Exemplare werden bisweilen heute noch bei Karfreitagsprozessionen mitgeführt. Sanmartinos
Lehrmeister, der neapolitanische Bildhauer Matteo Bottiglieri (1684–1757), ging
seinem Schüler mit der Darstellung Christi in Gestalt einer vollplastischen
Liegefigur aus Marmor voraus, die er 1724 für den Dom Santi Stefano e Agata in
Capua schuf. Auch hier sind Kopf und Oberkörper des Leichnams gegen ein Polster
gestützt, die Dornenkrone und die Nägel neben den Füßen angeordnet.
Matteo Bottiglieri: Cristo morente (1724); Capua, Dom |
Blick in die Cappella Sansevero |
Literaturhinweise
Albright, Thomas D.: The Veiled Christ of Cappella Sansevero: On Art, Vision and Reality. In: Leonardo 46 (2013), S. 19-23;
Deckers, Regina: Die Testa velata in der Barockplastik. Zur Bedeutung von Schleier und
Verhüllung zwischen Trauer, Allegorie und Sinnlichkeit. Hirmer Verlag, München
2010;
Oy-Marra, Elisabeth: Der verschleierte Christus in der Cappella Sansevero in Neapel. Überlegungen zum Christusbild in der Frühaufklärung. In: Elisabeth Oy-Marra/Dietrich Scholler (Hrsg.), Parthenope – Neapolis – Napoli. Bilder einer porösen Stadt. Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2018, S. 163-182.
(zuletzt bearbeitet am 5. November 2024)
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