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Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, 1. Schauseite (1512-1516); Colmar, Musée d’Unterlinden
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Matthias
Grünewalds berühmtestes Werk ist der Wandelaltar, den er von 1512 bis 1516 für
das Antoniterkloster im elsässischen Isenheim schuf. Der Altar änderte sein
Aussehen im Verlauf des Kirchenjahres, indem seine Bildtafeln auf- oder
zugeklappt wurden. Geschlossen (wie an Werktagen und zu Bußzeiten üblich)
zeigte er die Kreuzigung, links und rechts davon auf schmalen Seitentafeln die
Heiligen Sebastian und Antonius sowie in der Predella (dem Altar-Unterbau) die
Beweinung Christi. An Marienfesten, zu Ostern und zu Pfingsten öffnete man das
Passionsbild, und die zweite Schauseite bot sich dar: links die Verkündigung an
Maria, in der Mitte die Geburt Jesu und das Engelskonzert,
rechts die Auferstehung des Gekreuzigten. Zu den Patroziniumsfesten wurde der
Altar ein weiteres Mal aufgeschlagen. Dann sahen die Betrachter die
Schnitzfiguren des Antonius, Augustinus und Hieronymus (geschaffen von Nikolaus von Hagenau),
dazu das Gespräch zwischen Antonius und Paulus auf dem linken und die
Versuchung des Antonius auf dem rechten Seitenflügel. Heute ist der Altar im Colmarer Musée d’Unterlinden so umgebaut, dass alle Schauseiten gleichzeitig
zu sehen sind. Die Auferstehung Christi habe ich bereits vor einiger Zeit näher
besprochen (siehe meinen Post „Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne“), jetzt, nach der Neueröffnung des Museums,
will ich mich intensiver mit der Kreuzigungsszene befassen, die während der
meisten Zeit des Jahres zu sehen war. Sie ist mit einer Höhe von 2,69 m Höhe und einer Breite von 3,07 m die wohl größte uns bekannte Darstellung einer Kreuzigung.
Die
Trennungslinie der beiden zugeklappten Flügel liegt auf der linken Kante des
Kreuzesbalkens und fällt daher kaum auf. Da eine Mittelrahmung fehlt, entsteht
eine einheitliche, nicht unterteilte Szenerie. Vor einer düsteren, kargen
Landschaft erhebt sich im Zentrum das grob zubehauene Kreuz, an dem wir Jesus
ganz nah, nämlich dicht über dem steinigen Erdboden und in vorderster Bildebene, hängen sehen. „Ein
durchgehender Tonus spannt diesen Leib, zerrt und spreizt die Finge
der nageldurchbohrten Hände, verkrampft die Füße und Zehen, die das
Suppedaneum nicht berühren wollen. Und das bedeutet, dass er nicht im Tod gelöst und zusammengesackt, sondern ungeachtet seiner Verfärbung und
der Seitenwunde sterbend, aber noch am Leben und voll Schmerzempfindung ist und dies durch Körpersprache und Pathognomie äußert“ (Prater 2019, S. 14). Der Himmel hinter dem Kreuz hat sich völlig verfinstert,
was den Evangelien der Synoptiker entspricht (Matthäus 27,45; Markus 15,34;
Lukas 23,44). Hinter dem Kreuz wird ein felsiges Ufer sichtbar, an dem ein grünlich-leuchtender Fluss vorüberfließt. Das andere Ufer scheint ebenfalls felsig zu sein, schemenhaft sind die Silhouetten einiger gebäude zu erahnen.
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Der geschundene Leib des Gottessohns |
Unter einer weit ausgreifenden Dornenkrone ist das Haupt des
Gekreuzigten tief herabgesunken, der Mund mit farblosen Lippen in äußerster Pein
geöffnet. An seinem Körper sind nicht nur die Qualen der Kreuzigung, sondern
auch die vorangegangenen Misshandlungen ablesbar. Grünewald zeigt den Sohn Gottes überaus
drastisch mit geschundenem, von Wunden übersäten Leib, voller Dornensplitter,
mit verrenkten und geschwollenen Füßen, krampfhaft gespreizten, aufwärts
gedrehten Fingern und zerfetztem Lendentuch. Er ist der „Mann der Schmerzen“,
von dem der Prophet Jesaja spricht: „Wir aber hielten ihn für den, der geplagt
und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat
willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf
ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jesaja
53,4-5; LUT). Der durchgebogene Querbalken veranschaulicht dabei die Sündenlast
dieser Welt, die Christus am Kreuz auf sich lädt.
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Der Aufschrei der Hände |
Den Gestus
der nach oben geöffneten Hände, deren in die Höhe gestreckte Finger über den
Querbalken des Kreuzes hinausragen, hat Grünewald in allen von ihm gemalten
Kreuzigungen verwendet, so z. B. im Tauberbischofsheimer Altarblatt. Die
Gebärde erinnert an den letzten Aufschrei des sterbenden Christus: „Mein Gott,
mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46; LUT). Die seit der Antike
bekannte Haltung signalisiert verzweifeltes Klagen ebenso wie hilfesuchendes
Flehen und wurde sowohl für die Trauernden unter dem Kreuz wie auch für die
Frauen verwendet, die Christi Leichnam beweinen. Grünewald überträgt dieses
Klagemotiv in einzigartiger Weise auf Christus selbst. „Das impulsive
Aufbegehren des Sterbenden übertönt den tränenreichen Schmerz der unter dem
Kreuz Versammelten“ (Reuter 2007, S. 84).
Das
Kreuz, das sich von der Unterkante des Bildes bis zur Oberkante im erhöhten
Auszug erstreckt, ist zusammen mit der Christusfigur aus der Bildmitte leicht
nach rechts verschoben, damit die Öffnungskante deren Kopf und Leib nicht
zerteilt. Gleichzeitig steht auf diese Weise für die Trauernden auf der linken
Seite mehr Platz zur Verfügung als für die isolierte Figur Johannes des Täufers
rechts. Er ist jedoch im Maßstab größer und mächtiger als die Gestalten links;
mit seinem überlangen rechten Zeigefinger weist er auf den Gekreuzigten und
füllt so die Bildfläche.
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Vorbild für den Betrachter: Maria, Johannes und Maria Magdalena |
In
untröstlichem Kummer, die Hände zusammengepresst, ist die Mutter Jesu ganz
ihrem Sohn zugewandt. Die Augen geschlossen und bleich wie ihr weißes Gewand,
scheint sie in Ohnmacht zu sinken; Johannes, der Lieblingsjünger Jesu und
spätere Evangelist, stützt sie fürsorglich. Er übernimmt dabei gegenüber Maria
die Sohnesrolle, die Jesus ihm vom Kreuz herab zugewiesen hat (Johannes
19,26-27). Der weite weiße Stoff, in den Maria gehüllt ist, lässt an
ein Leichentuch denken, wurde aber auch als Nonnentracht interpretiert. Maria
Magdalena, mit langem, offenen Haar (eines ihrer traditionellen Kennzeichen)
unter einem Schleiertuch, kniet in einem überlangen, lachsroten Kleid dicht vor
dem Kreuzesstamm. Auch sie ringt verzweifelt die Hände und blickt fast
senkrecht zu Christus empor. „Von Maria und Johannes hebt sie sich deutlich ab,
und doch ist sie mit diesen beiden durch die Schwingung, die sie in ihrer
Haltung beschreibt, kompositionell verbunden“ (Arndt 2007, S. 25). Ihre
gefalteten Hände korrespondieren in der Vereinzelung der gestreckten Finger mit
denen des Gekreuzigten. Das Gesicht der Maria Magdalena ist wie das der beiden
anderen Trauernden schmerzverzerrt – sie sind Compassio-Gestalten, mit denen sich der Betrachter identifizieren
soll. Nur schwer erkennbar ist auf dem Salbgefäß Magdalenas, das auf die Grablegung vorausweist, die Jahreszahl 1515 zu lesen.
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Johannes der Täufer, der Wegbereiter Jesu |
Johannes
der Täufer neben dem Kreuz zu sehen überrascht, denn seine Anwesenheit ist ein Anachronismus:
Der im Jahr 29 auf Befehl des Herodes ermordete Wegbereiter Jesu kann nicht
Zeuge von dessen Tod gewesen sein. Grünewald hat ihn in braunem Fellkleid und
rotem Umhang dargestellt, „aufrecht und fest wie eine Statue“ (Arndt 2007, S.
26). Johannes nimmt ganz allein die rechte Seite unter dem Kreuz ein; seine rechte Hand mit dem ausgestreckten Ziegefinger leuchtet regelrecht vor dem tiefdunklen Hintergrund auf. Auch Johannes scheint zu trauern, doch zugleich ist er sich offenbar der heilsgeschichtlichen Notwendigkeit des Geschehens bewusst. Sein Zeigegestus kennzeichnet ihn unmissverständlich als letzten der Propheten
– als den, der Jesus tauft und in ihm den Messias und Erlöser erkennt. Er sieht
den Opfertod Christi voraus und weiß um dessen Bedeutung für die
Menschheitsgeschichte: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Johannes
1,29; LUT). Zu seinen Füßen sehen wir dieses Agnus
Dei leibhaftig vor uns. Wie auf der Mitteltafel des Genter Altars von Jan
van Eyck fließt Blut aus der Brust des Tieres in einen Kelch und verweist auf die
Eucharistiefeier, die täglich vor diesem Bild zelebriert wurde. Die in der
rechten Armbeuge des Johannes angebrachte und daher direkt mit dem Zeigegestus
verbundene Inschrift lautet „ILLVM OPORTET / CRESCERE / ME AVTEM / MINVI“ („Er
muss wachsen, ich aber muss abnehmen“, Johannes 3,30; LUT).
Grünewald
hat den Gekreuzigten deutlich größer als den Täufer und die Trauernden ihm
gegenüber dargestellt. Bewusst durchbricht der Künstler den einheitlichen
Maßstab, um die Göttlichkeit Jesu hervorzuheben. In der Beweinungsszene der
Predella setzt Grünewald dieses Gestaltungsmittel erneut ein: Hier sind die
Trauernden, vor allem Johannes, dem Leichnam Christi so nahe gerückt, dass
dessen „Übergröße“ sofort auffällt.
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Ein muskulöser Sebastian im Kontrapost – ohne italienische Vorbilder kaum denkbar |
Flankiert
wird die Kreuzigungsszene von Standflügeln mit Darstellungen der Schutzpatrone
Sebastian (links) und Antonius (rechts). Es handelt sich um die Wunderheiligen
gegen Pest und das sogenannte Antoniusfeuer, eine meist tödlich verlaufende, in
jedem Fall aber zu schweren Verkrüppelungen führende Erkrankung. Die beiden
Figuren waren bei geschlossenen Altarflügeln die meiste Zeit des Jahres für die
Kranken und Pilger vom Kirchenraum aus sichtbar, die ihnen dann ihre Anliegen,
vorrangig ihre Bitten um Heilung, vorbringen konnten.
Wie
Wächter rahmen Sebastian und Antonius das Geschehen auf Golgatha, wie Statuen
auf kunstvoll gearbeiteten, steinernen Sockeln stehend. Während die Postamente in Grisaille ausgeführt sind,
erscheinen die farbig gehaltenen Figuren lebendig. Den muskulösen Oberkörper
Sebastians – zu erkennen sind die unter der Haut verlaufenden Sehnen und
Muskelstränge – haben viele Kunsthistoriker mit italienischen Vorbildern in
Verbindung gebracht. Er ist trotz der von den Pfeilen herrührenden Wunden
deutlich weniger von dem erlittenen Martyrium gezeichnet als der Gekreuzigte. Sebastian ist wie üblich als Aktfigur dargestellt, aber auxh in ei weites Tuch gehüllt, „dessen tiefrote Farbe seine Blutzeugenschaft geradezu plakativ verkündet“ (Prater 2019, S. 16).
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Der standfeste Eremit
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Antonius
dagegen ist vollständig bekleidet und deutlich größer als sein Gegenüber wiedergegeben. Mit der linken Hand hält er einen Tau-Stab, sein Hauptattribut.
In dem Fenster hinter Sebastian erkennt man zwei heranfliegende Engel, die
Marterwerkzeuge und Märtyrerkrone des Heiligen mit sich führen. Im Rücken von
Antonius wiederum ist ein fauchendes weibliches Ungeheuer im Begriff, von außen
das Butzenscheibenfenster rechts oben zu zerschlagen, um sich ihm nähern zu
können. Der Eremit bleibt davon aber ebenso unbeeindruckt wie der Blutzeuge Sebastian von seinem Martyrium auf der Seite gegenüber. „Teufel und Pfeile sind hier nicht Bestandteile dramatischer Bilderzählungen, sondern bloße Attribute“ (Prater 2019, S. 17). Wie die Säule rechts hinter Sebastian ist auch der Pfeiler links hinter Antonius ein Symbol der Constantia, der Standhaftigkeit. Standhaftigkeit ist die beide Heilige verbindende Tugend und war ebenso bedeutsam für die Klostergemeinschaft, zumal im Hinblick auf Leiden und Anfechtungen aller Art.
Die ganz
in Düsternis gehüllte Kreuzigungsszene – selbst die hellen Gewandteile, das
zerschlissene Lendentuch Jesu, das weiße Gewand Marias und das Fell des Lammes,
sind in schmutzig grau-gelblichen Nuancen wiedergegeben – wird bestimmt von
leuchtenden Rottönen rechts und links vom Kreuz, die als Passionsfarben gelten.
„Die Gewandung des Täufers, ein blutrot gefärbtes Fell, dessen rauhe Seite er
nach innen trägt, dient vor allem als kompositorisches Element, das die beiden Gruppen
zu Seiten des Kreuzes zusammenhält“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 214). Der
ausgefranste und zerlöcherte Stoff des Lendentuchs Christi gleicht übrigens der
Windel, in der Maria auf der zweiten Schauseite ihr Kind hält – damit deutet
Grünewald schon bei der Geburt Jesu die Passion und den Tod des Erlösers an.
Bei
genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Figur des Täufers sehr plastisch
gestaltet ist, die Beinstellung, der ausgestreckte Arm und der Kopf sind anatomisch sehr
überzeugend wiedergegeben, während Maria und Johannes flach und
unproportionierter wirken. Der rechte Arm des Evangelisten erscheint überlängt
und knochenlos, die Hände sind seltsam verformt. Anne-Marie Bonnet und Gabriel
Kopp-Schmidt gehen davon aus, dass diese Unterschiede darauf hinweisen, dass am
Isenheimer Altar nicht nur Matthias Grünewald, sondern eine Werkstatt mit
deutlich unterscheidbaren Handschriften am Werk war. Die unterschiedlich ausgeführten
Gestalten sind besonders deutlich an der Predella unterhalb der Kreuzigung
erkennbar. „Die extrem verformten Gesichter und Körper der Akteure stehen in
starkem Kontrast zu den Heiligenfiguren der Standflügel mit ihren Volumen und
ihren individuellen Physiognomien“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 214).
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Passionskruzifix aus St. Maria im Kapitol, Köln (um 1300) |
Die
Leiden Christi wurden in spätmittelalterlichen Passionstraktaten sehr
detailliert beschrieben. Auf den Einfluss solcher Schriften, die seit dem 13.
Jahrhundert Verbreitung fanden, wird die Entstehung der Cruzifixi dolorosi zurückgeführt, die den gemarterten Leib Christi
ungeschönt vor Augen führen. Die Wunden, die den gesamten Körper bedecken, sind
sowohl plastisch auf dem geschnitzten Korpus angebracht als auch aufgemalt, wie
z. B. bei dem Kölner Gabelkreuz in St. Maria im Kapitol (siehe meinen Post „Um unsrer Sünden willen zerschlagen“). Ohne Frage knüpft Grünewald mit der
Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars an das Christusbild dieser Cruzifixi dolorosi an. Der Anblick des
zerschlagenen Gottessohns diente den Gläubigen, und unter ihnen besonders den
Kranken und Elenden, als Trost und mahnte sie, duldsam wie er Leid und Schmerz
zu ertragen.
Matthias Grünewald und sein Werk waren bis Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu vergessen. Dann erst begann die kunstgeschichtliche Forschung, sich näher mit ihm zu befassen. Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich zeigten sich die Künstler in Deutschland zunehmend an Grünewald interessiert: Sie waren vor allem fasziniert von seiner exaltierten Gesten- und Gebärdensprache, den verzerrten und überlängten Körperformen und dem intensiven Kolorit. Entscheidend für die Wiederentdeckung Grünewalds war die Ausstellung des Isenheimer Altars vom 22. November 1918 bis zum 27. September 1919 in der Alten Pinakothek in München. Man hatte den Altar im Winter 1917 zum Schutz vor dem Kriegsgeschehen von Colmar nach München gebracht und dort restauriert. Danach wurde er der Öffentlichkeit präsentiert – und Tausende pilgerten regelrecht in die Alte Pinakothek, um Grünewalds Meisterwerk zu sehen, selbst während der bürgerkriegsähnlichen Zustände in den Tagen der Münchner Räterepublik im April und Mai 1919. Vor dem zeitgenössischen Hintergrund ist verständlich, dass die Kreuzigung in den Beschreibungen der Ausstellung die meiste Aufmerksamkeit erhielt: Sie ließ nicht nur die Grauen des Krieges lebendig werden, sondern spiegelte auch Trauer und Schmerz der Menschen. Dabei wurde wohl von vielen Betrachtern, so Katharina Heinemann, durch die Geste Johannes des Täufers „der Glaube als Ausweg aus dem durch Gewalt, Armut und Krankheit traumatisierenden Diesseits“ (Heinemann 2003, S. 13) verstanden.
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Erstrahlt wieder in jugendlicher Frische
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Von 2018 bis 2022 wurden umfangreiche Restaurierungsarbeiten am Isenheimer Altar durchgeführt, durch die Grünewalds Meisterwerk seinen ursprünglichen farblichen Glanz zurückgewonnen hat. Es bleibt ein absoluter Publikumsmagnet – Grünewalds Tafel haben das Musée d’Unterlinden nach dem Louvre zum meistbesuchten Museum Frankreichs gemacht.
Literaturhinweise
Arndt, Karl:
Mathis Neithart Gothart, genannt Grünewald in seiner Epoche. In: Staatliche
Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag,
München/Berlin 2007, S. 19-29;
Béguerie-De Paepe, Pantxika/Lorentz, Philippe (Hrsg.): Grünewald und der Isenheimer Altar.
Ein Meisterwerk im Blick. Musée d’Unterlinden, Colmar 2007;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance.
Schirmer/Mosel, München 2010, S. 211-225;
Heinemann, Katharina: Entdeckung und Vereinnahmung. Zur Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945. In: Brigitte Schad/Thomas Ratzka, Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Matthias Grünewalds im 20. Jahrhundert. Wienand Verlag, Köln 2003, S. 8-17;
Prater, Andreas: Der Isenheimer Altar. Eine Einführung in seine Bildwelt und deren Interpretation. In:
Werner
Frick/Günter Schnitzler (Hrsg.): Der
Isenheimer Altar. Werk und Wirkung. Rombach Verlag, Freiburg i.Br. 2019, S. 9-40;
Pressl, Claus: Grünewald und die Nation. Ein Beitrag zur Rezeption des Künstlers in Deutschland. In: Johanna Aufreiter u.a. (Hrsg.), KunstKritikGeschichte. Festschrift für Johann Konrad Eberlein. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2013, S. 313-331;
Reuter, Astrid: Zur expressiven
Bildsprache Grünewalds am Beispiel des Gekreuzigten. In: Staatliche Kunsthalle
Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag,
München/Berlin 2007, S. 78-86;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 13. März 2024)
Material
1.
In Kolmar stand ich einen
ganzen Tag lang vor dem Altar, ich wußte nicht, wann ich gekommen war, und ich
wußte nicht, wann ich ging. Als das Museum schloß, wünschte ich mir Unsichtbarkeit,
um über Nacht im Museum zu bleiben. Ich sah den Leib Christi ohne Wehleidigkeit,
der entsetzliche Zustand dieses Leibes erschien mir wahr, vor dieser Wahrheit wurde
mir bewußt, was mich an Kreuzigungen verwirrt hatte: ihre Schönheit, ihre Verklärung.
Die Verklärung gehört ins Engelkonzert, nicht ans Kreuz. Wovon man sich in
Wirklichkeit mit Grauen abgewandt hätte, das war im Bilde noch aufzufassen,
eine Erinnerung an das Entsetzen, das die Menschen einander bereiten. Krieg und
Gastod waren damals, im Frühjahr 1927, noch nah genug, um die Glaubwürdigkeit
dieses Bildes zu bewirken. Vielleicht ist die unentbehrlichste Aufgabe der Kunst
zu oft in Vergessenheit geraten: nicht Reinigung, nicht Trost, nicht ein Verfügen
über alles, so als ob es gut ausgehen würde, denn es geht nicht gut aus. Pest
und Geschwür und Qual und Grauen – und für die Pest, die verwunden ist,
erfinden wir schlimmeres Grauen. Was können noch die tröstlichen Täuschungen
bedeuten vor dieser Wahrheit, sie ist sich immer gleich und soll vor Augen
bleiben. Alles Entsetzliche, das bevorsteht, ist hier vorweggenommen. Der
Finger des Johannes, ungeheuerlich, weist darauf hin: das ist es, das wird es
wieder sein. Und was bedeutet das Lamm in dieser Landschaft? War dieser
faulende Mensch am Kreuz das Lamm? Ist er großgewachsen und Mensch geworden, um
ans Kreuz geschlagen zu werden und Lamm zu heißen?
(aus: Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Carl Hanser
Verlag, München/Wien 1980, S. 258/259)
2.
Grünewald
Wie
sich das Blut bis in die Augen preßt,
Und
sich die Arme aus den Schultern renken,
Die
Haut hängt schlaff, von Todesangst durchnäßt,
Es zerrt der Schmerz in Sehnen
und Gelenken:
Ich
muß sie malen, diese große Last.
Ein
Höllenreich ist über uns errichtet.
Von
keinem Schein von oben her belichtet,
So
lebt der Mensch, geduckt, sich selbst verhaßt.
Ich
muß sie malen, diese Finsternis,
Es
geht die Erde mittendurch‘ ein Riß,
Und
aus dem Abgrund kommt Geheul und Winseln.
Ein
grüner Flor von Licht. Ein wenig Schimmer
Wie
Spur von blödem Lächeln, das noch immer
Erlösung hofft, und
winziges Sterneblinzeln.
Johannes
R. Becher
(aus: Johannes R. Becher, Gesammelte Werke. Bd. 4,
Gedichte 1936-1941. Berlin/Weimar 1966, S. 78)
3.
Kolmar.
Grünewald
Dein
wunder leib erträgt der henker klaue ·
Der
ungeheuer huf und ekle härung
Sein
lebtag · dass er für ein nu sich schaue
Im
rosigen lächeln siegender verklärung.
Stefan
George
(aus: Stefan George, Werke. Ausgabe in zwei Bänden.
Düsseldorf/München 31976, Bd. 1. S. 334)