Sonntag, 21. August 2016

Wenn Blicke töten können – Caravaggios „Haupt der Medusa“


Caravaggio: Haupt der Medusa (1597/98); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Der antike Dichter Ovid erzählt in seinen Metamorphosen (IV, 753-803), dass die wunderschöne Medusa, eine der drei Gorgonen-Schwestern, von Poseidon im Tempel der Athene vergewaltigt wird. Athene, Zeugin der Tat, bestraft daraufhin – nicht den Täter, sondern Medusa, indem sie sie in ein hässliches Ungeheuer mit Schlangenhaaren, langer Zunge und glühenden Augen verwandelt. Fortan genügt ein Blick in ihre Augen, um versteinert zu werden. Dem Göttersohn Perseus gelingt es, sich der schlafenden Medusa zu nähern und ihr den Kopf abzuschlagen – er nutzt dazu eine Tarnkappe, einen Spiegelschild und geflügelte Schuhe. Mit dem Medusenhaupt an seinem Schild, dessen versteinernde Wirkung anhält, besiegt Perseus danach zahlreiche Feinde und schenkt den Kopf schließlich Athene.
Caravaggio (1571–1610) hat das soeben abgeschlagene, schlangenbesetzte Haupt der Medusa 1597/98 auf einen Prunkschild gemalt (genauer: auf ein schildförmiges, mit Leinwand überzogenes Stück Pappelholz). Das Gemälde stellt also dar, was es zugleich ist. In Auftrag gegeben wurde das Werk von Kardinal del Monte als Geschenk für Ferdinando I.; es war für die neue Waffenkammer des Großherzogs bestimmt. Der Kardinal gehörte zu den frühen Förderern Caravaggios – Ende 1595 hatte er den Maler für fünf Jahre als Mitglied des Haushalts in seinen Palazzo aufgenommen.
Mund und Augen der Medusa sind weit aufgerissen, Blutströme schießen aus dem Hals, ihr letzter grauenhaft verzerrter Blick erscheint wie eingefroren, „fixiert den Betrachter mit eindringlicher Direktheit und droht diesen seinerseits zu versteinern“ (Schütze 2009, S. 72). Was Caravaggio auf seinem Schild zeigt, ist das Spiegelbild der Medusa, in dem die Sterbende sich selbst erblickt – Perseus nutzte ihn, um sein Gegenüber nicht direkt ansehen zu müssen. Klaus Krüger hat die bildlichen Paradoxien benannt, mit denen Caravaggio den Betrachter irritiert: „Die Darstellung verkörpert ein akutes Hier und Jetzt und manifestiert sich doch zugleich als ein vergangenener Moment, derjenige der Enthauptung; sie setzt einen Schrei in Szene, dessen Hörbarkeit indes unhörbar ist; sie zeigt ein erstarrtes Leben und eine lebendige Erstarrung, einen höchst lebhaft-reaktiven Blick, der gleichwohl ohne innere Regung wie ins Leere gerichtet ist“ (Krüger 2006, S. 26).
Um die Verkürzungen des Spiegelbildes auf dem konvexen Malgrund überzeugend abbilden zu können, dürfte sich der Maler eines schildförmigen Spiegels bedient haben (eines „scudo a specchio“), der zu seinem Hausstand gehörte und auch in dem Gemälde Die Bekehrung Maria Magdalenas erscheint (siehe meinen Post Erleuchtet von göttlicher Gnade“). Wahrscheinlich hat Caravaggio für das Medusenhaupt sein eigenes Antlitz in diesem Spiegel studiert.
Caravaggio: Die Bekehrung Maria Magdalenas (1598/99); Detroit, The Detroit Institute of Art
Der römische Barockmaler maß sich bei der Wahl seines Themas mit keinem Geringerem als Leonardo da Vinci (1452–1519): Der berühmte Renaissance-Künstler hatte nämlich gleichfalls einen mit einem Medusenhaupt geschmückten Schild geschaffen, der zu den mediceischen Sammlungen gehörte, jedoch seit 1587 verschollen war. Caravaggios Medusenschild sollte den von Leonardo ersetzen – und natürlich wollte der junge Künstler den großen Meister übertreffen. Zugleich erinnerte Caravaggio mit seinem abgeschlagenen Gorgonenhaupt an Benvenuto Cellins bekannte Bronzestatue des Perseus auf der Pizza della Signoria in Florenz (siehe meinen Post „Cellinis Medusentöter“).
Benvenuto Cellini: Perseus (1554-1554); Florenz, Piazza della Signoria
Caravaggio stellt mit seinem Schild nicht nur den Medusa-Mythos dar, sondern demonstriert auch die Wirkmacht seiner Malkunst: Er hat den entsetzten, immer noch versteinernden Blick der Medusa im Spiegel des Schildes festgehalten „und dabei mit solch dramatischer Lebendigkeit versehen, dass der staunende Betrachter vor Schrecken und Bewunderung vor dem Bild erstarrt“ (Schütze 2009, S. 72).
Giambattista Marino (1569–1625) hat das Gemälde in einem Madrigal seiner Galeria (1619) beschrieben und als Allegorie der militärischen Tugenden Ferdinandos de’ Medici gedeutet:

La testa di Medusa in una rotella
di Michelagnolo da Caravaggio
nella Galeria del Gran Duca di Toscana

Hor quai nemici fian, che freddi marmi
Non diuengan repente
In mirando, Signor, nel vostro scudo
Quel fier Gorgone, e crudo,
Cui fanno orribilmente
Volumi viperini
Squallida pompa e spauentosa ai crini?
Ma che! Poco l’armi
A voi sia d’huopo il formidabil mostro,
Che la vera Medusa è il valor vostro.


Das Haupt der Medusa auf einem Schild
von Michelangelo da Caravaggio,
in der Galerie des Großherzogs von Toskana

Nun, was für Feinde wären das, die nicht sofort
zu kaltem Stein würden,
wenn sie, Herr, auf eurem Schild
jene stolze und grausame Gorgo betrachten,
der auf schreckliche Weise
ein Gewirr von Vipern
einen hässlichen und furchtbaren Haarschmuck bildet?
Doch was! Von geringerem Nutzen
ist euch im Kampf das schreckliche Ungeheuer:
denn die wahre Medusa ist euer Mut.

(übersetzt von Christiane Kruse und Rainer Stillers; aus Giambattista Marino, La Galeria. Zweisprachige Auswahl. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2009, S. 50/51)

Eine Enthauptung mit schreckensweiten Augen und aufgerissenem Mund hat Caravaggio etwa zeitgleich auch in seinem Gemälde Judith und Holofernes wiedergegeben (siehe meinen Post „Barock-Splatter“). Beide Bilder belegen das Interesse des Künstlers an heftigen Affekten, die sich besonders im Gesichtsausdruck zeigen; ein erstes Beispiel hierfür ist sein frühes Werk Jüngling, von einer Eidechse gebissen.
Caravaggio: Judith und Holofernes (1598/99); Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
Caravaggio: Jüngling, von einer Eidechse gebissen (1593/94); Florenz, Fondazione Longhi
Constanze Hager hat jüngst noch eine alternative Deutung zu Caravaggios Medusenschild vorgestellt: Der Maler zeige nicht die gespiegelte Enthauptung Medusas, sondern das Gorgoneion selbst, also das tatsächliche Medusenhaupt auf dem Schild der Göttin Athene. „Wäre eine Spiegelung gemeint, ließe sich erwarten, dass die Umgebung, in der die Gorgo sich bei ihrer Enthauptung befand, mitgespiegelt würde“ (Hager 2016, S. 48); die konvexe Oberfläche des Malgrundes müsste außerdem, so Hager, ein deutlich konvex verzerrtes Spiegelbild zur Folge haben. Da keine Details darauf hinwiesen, dass es sich bei Caravaggios Gemälde um ein spiegelndes, metallisches Schild handele, wäre es naheliegend, es als das hölzerne Schild zu betrachten, das es tatsächlich ist“ (Hager 2016, S. 49). Das abgebildete Medusenhaupt sei daher als plastischer Kopf zu verstehen, der auf einen grünen Schild geheftet ist und auf diesen einen Schatten wirft“ (Hager 2016, S. 50). Durch Schatten und Blutwunde verdeutliche Caravaggio, dass es sich bei dem Gorgonenhaupt um einen abgetrennten Kopf handelt.
Caravaggios Medusa ist – wie könnte es anders sein – auch tiefenpsychologisch interpretiert worden: In dem kurzen Aufsatz „Das Medusenhaupt“ von 1922  deutet Sigmund Freud den abgeschlagenen Kopf der Gorgo als Symbol für die männliche Kastrationsangst. Die Zahnreihe im weit geöffneten Mund wiederum erinnert an den Mythos der vagina dentata („bezahnte Vagina“), den Freud ebenfalls mit der Kastrationsangst in Verbindung bringt.

Literaturhinweise
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 103-106;
Hager, Constanze: Caravaggios Medusenschild von 1598 – ein Gorgoneion? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 97 (2016), S. 62;
Harten, Jürgen/Martin, Jean-Hubert (Hrsg.): Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 256-257;
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 67-69;

Krüger, Klaus: Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in Caravaggios Frühwerk. In: Jürgen Harten und Jean-Hubert Martin (Hrsg.), Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 24-35;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011.

(zuletzt bearbeitet am 30. November 2024) 

Montag, 15. August 2016

Schenkel, die sich selbst genügen – Gustav Klimts „Danae“


Gustav Klimt: Danae (1907/08); Wien, Sammlung Dichand (für die Großansicht einfach anklicken)
Gustav Klimts Gemälde Danae (um 1907/08) ist eines der wenigen Bilder des österreichischen Künstlers, das dessen zahlreichen erotischen Zeichnungen näher kommt. In diesen über 4000 privaten Aktzeichnungen interessiert er sich mit manischer Produktivität und geradezu obsessiv für die sexuelle Lust der Frau – eine Lust, die ohne den männlichen Körper auskommt. In seinem Atelier standen ihm Modelle zur Verfügung, die bereit waren, vor ihm zu masturbieren, lesbische oder heterosexuelle Liebesspiele nachzustellen. Die weiblichen Akte Klimts zeigen Frauen als begehrenswerte Genießerinnen, in sinnlichen Posen erotischen Phantasien hingegeben. Wer sie ansieht, dringt auf unerlaubtes Terrain vor und wird zum Voyeur einer lustvollen Situation. Die Frauen werden in ihrer Sinnlichkeit zwar lüstern beobachtet, aber nicht bloßgestellt.
Eine der schier unzähligen Aktzeichnungen Gustav Klimts (1912/13); Wien, Leopold Museum
Entsprechend den zeitgenössischen Konventionen verbrämt Klimt die Darstellung mythologisch: Danae ist die Tochter der Eurydike und des Königs Akrisios, dem man weissagt, dass ihn ein Enkel töten wird. Um dessen Geburt zu verhindern, will Akrisios seiner Tochter keine Bekanntschaft mit einem Mann ermöglichen, und sperrt sie in einen Turm. Doch für den Göttervater Zeus, der sich in Danae verliebt hat, ist diese Hürde leicht zu nehmen: Er verwandelt sich in einen goldenen Regen, gelangt so zu Danae und zeugt mit ihr Perseus, der später tatsächlich Akrisios tötet.
Tizian: Danae (1553); Madrid, Museo del Prado (für die Großansicht einfach anklicken)
Sabine Poeschel sieht in Klimts Danae eine Reverenz an Tizians gleichnamiges Gemälde. „Vor allem der gewaltige Oberschenkel als Blickfang bildet eine deutliche Parallele zu Tizians Werk, von dem sich eine Kopie in Wien befindet“ (Poeschel 2014, S. 136). Eine weitere Verbindung sind die rötlichen Haare, die Tizian zurückhaltender rotblond angelegt hat. Danaes Hingabe an den Göttervater wandelt Klimt jedoch in eine selbstgenügsame Autoerotik um. Das Bild wird beherrscht von Danaes mächtigem Schenkel, hinter dem das männliche Element, der Goldregen, lediglich als Ornament erscheint. Klimts Danae öffnet sich nicht, vielmehr rollt sie sich zusammen, während die geöffneten Lippen den erotischen Selbstgenuss der schönen Nackten bezeugen und der locker auf die Fessel herabgerollte Strumpf eine entspannte Situation anzeigt. Der Betrachter wird Zeuge einer intimen Szene, in der die junge Frau sich gänzlich unbeobachtet gibt.

Literaturhinweise
Ayres, Sara: Staging the Female Look: A Viennese Context of Display for Klimts Danae. In: Oxford Art Journal 37 (2014), S. 227-244;
Natter, Tobias G. (Hrsg.): Gustav Klimt. Sämtliche Gemälde. Taschen Verlag, Köln 2012;
Poeschel, Sabine: Starke Männer, schöne Frauen. Die Geschichte des Aktes. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014.

(zuletzt bearbeitet am 31. August 2020)

Montag, 8. August 2016

Liebliche Maid aus spätgotischer Zeit – Martin Schongauers „Heilige Familie“ (Wien)


Martin Schongauer: Heilige Familie (um 1475); Wien, Kunsthistorisches
Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Das Kunsthistorische Museum in Wien ist angefüllt mit zahllosen Meisterwerken, einige davon in immensem Format, wie z. B. die beiden Rubensschen Kawenzmänner Die Wunder des hl. Franz Xaver und Die Wunder des hl. Ignatius von Loyola (beide 535 x 395 cm). Da passiert es schnell, dass man eine Kostbarkeit wie die Heilige Familie von Martin Schongauer (um 1440–1491) wegen seiner geringen Größe übersieht (26,3 x 17,1 cm), zumal sie in einer Glasvitrine und mit geringer Beleuchtung ausgestellt ist. Zum Glück ermöglicht das wundervolle „Google Art Projekt“, das zunächst unscheinbare Täfelchen größer, vor allem aber hochaufgelöst zu bestaunen und selbst kleinste Details heranzuzoomen.
Martin Schongauer: Heilige Familie (um 1470); München, Alte Pinakothek
Das Wiener Gemälde ist eine der vier noch erhaltenen kleinformatigen Tafeln von der Hand Martin Schongauers, bei denen es sich nicht um Altar-, sondern um sogenannte Andachtsbilder handelt: Es sind mobile, für den privaten Besitz und Gebrauch gedachte Werke, die auch auf Reisen mitgenommen werden konnten. In der Münchner Alten Pinakothek wird ein exakt gleich großes Täfelchen aufbewahrt, das auch thematisch verwandt ist. Beide Bilder zeigen Maria, die sich mit dem Kind auf ihrem Schoß beschäftigt, sowie Joseph mit Ochs und Esel im Stall. Schongauer verschmilzt in ihnen Elemente aus Darstellungen der Geburt Christi und der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten mit dem Typus der Sitzmadonna. Dabei erinnert die solide Steinarchitektur auf dem Wiener Gemälde nur wenig an die zum Stall umfunktionierte Ruine in Bethlehem, die bei der Geburt Christi sehr häufig zur Szenerie gehört.
Während sich Maria um das Kind kümmert, besorgt der Ziehvater Joseph, ein Heubündel im Arm, das Füttern der Tiere und wirft dabei zurückhaltend einen Blick auf das Idyll im Vordergrund. Den Korb mit Weintrauben hat Joseph wohl ebenfalls herbeigeschafft – Schongauer verdeutlicht damit, dass der deutlich ältere Mann seine Rolle als Nährvater Jesu wahrnimmt und sich um das Wohl der ihm Anvertrauten kümmert. Maria hat ihrerseits soeben eine Traube aus dem Korb genommen. „Mittels der Früchte wird ein Vorher und ein Nachher angedeutet, werden dem Bild ein Handlungsablauf und ein anekdotisches Element hinzugefügt“ (Kemperdick 2004, S. 177).
Die Trauben, die Maria ihrem Kind reichen wird, haben eine symbolische Bedeutung: Sie weisen auf den eucharistischen Wein und damit auf die Passion Christi voraus. In gleicher Weise spielt auch die Garbe, die Joseph direkt neben dem Knaben in den Händen hält, auf das Brot als den Leib des Herrn an (Matthäus 26,26-28). Bei dem Beutelbuch auf Marias Knie dürfte es sich um Schriften der alttestamentlichen Propheten handeln, die den kommenden Erlöser vorausgesagt haben. Trotz dieser theologischen Bezüge wirkt die Szene sehr natürlich und hat einen deutlich genrehaften Charakter. „Reizend ist der interessierte, vorfreudige Blick des Jungen erfaßt, der seine Hände ganz zurückhält, während die Mutter ihm sorgsam eine Beere aus der Traube pflückt“ (Kemperdick 2004, S. 177). Dabei bewegt Jesus, wie dies Kleinkinder eben tun, unruhig ein wenig die Beine, sodass man unter seinen angehobenen rechten Fuß sehen kann. Auch der Esel im Dunkel des hinteren Durchgangs scheint angesichts dieser traulichen Szene zu lächeln ...
Farblich dominieren die beiden Rottöne von Marias Mantel und Kleid, die sich leuchtend vom hellen, grünlich-braunen Untergrund abheben. Die bildparallele steinerne Wand, vor der Maria sitzt, markiert die Grenze zwischen Innen- und Außenraum. Joseph steht zwar nah bei seiner Frau, befindet sich aber hinter der Türschwelle im Schatten des Stallinnern, von dem sich seine dunkle Gestalt nur wenig abhebt. „Sein Kopf taucht gleichsam aus dem Raumschatten in eine mittlere Helligkeit hervor, während das Inkarnat Mariens und ihres Kindes im hellen Außenlicht leuchten“ (Kemperdick 2004, S. 181). Dabei greift die kleine rundbogige Nische hinter der jungen Mutter die Form der Türöffnung auf. Maria selbst entspricht einem lieblichen Mädchentyp mit zarten Gesichtszügen, den Schongauer wohl mit Blick auf  das geringe Format der Tafel und die mehr intim-anekdotische als repräsentativ-hoheitsvolle Szene gewählt hat.
Bestimmend für die Komposition ist vor allem die bildteilende, den Raum durchziehende Diagonale von links oben nach rechts unten: Sie verläuft von Josephs Kopf zum Flechtkorb voller Trauben. „Der Korb ist das vorderste Bildelement, Josephs Gesicht, dessen Garbe diejenige des Korbes rötlicher und dunkler variiert, ist das wichtigste Motiv hinten; ungefähr in der räumlichen Mitte zwischen beiden befindet sich Christus“ (Kemperdick 2004, S. 181).
Der geflochtene Korb in der unteren Bildhälfte zieht schnell den Blick auf sich: So herausgehoben präsentiert, auf schlichtem Grau und mit etwas Freiraum, wirkt er wie ein Stillleben. Schongauer lässt ihn im einfallenden Licht beinahe so kostbar aussehen wie die Goldgefäße, Kronen oder sonstigen Preziosen, die auf zahlreichen mittelalterlichen Bildern im Vordergrund eine leere Ecke füllen. „Die Trauben schimmern wie Perlen oder Edelsteine auf und werden dabei hinsichtlich ihrer Reflexionseigenschaften fein nach den etwas durchscheinenderen grünen und den opakeren roten Beeren differenziert“ (Kemperdick 2004, S. 184). Auf einer Achse mit dem Korb hat Schongauer in der Nische ein zweites kleines Stillleben eingefügt: eine braune Pilgerflasche, das mit nur wenigen Lichtakzenten gleichsam einen Gegenpol am dunklen Ende der Farbskala bildet. Das bauchige Trinkgefäß führt Joseph auch auf Schongauers Kupferstich Flucht nach Ägypten mit sich.
Martin Schongauer: Flucht nach Ägypten (um 1470); Kupferstich
Jan van Eyck: Lucca-Madonna (um 1437); Frankfurt, Städel Museum
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Mit seiner exzellenten Feinmalerei, durch die alle Bildgegenstände sehr wirklichkeitsnah wirken, und dem kleinen Format scheint Schongauer sich an dem flämischen Maler Jan van Eyck  (um 1390–1441) zu orientieren. Beide Künstler kleiden darüber hinaus die Marienfiguren auf ihren Täfelchen mit Vorliebe in Rot. Gestalten und Draperie zeigen bei Schongauer dagegen keine Anklänge an die Gemälde des Brügger Meisters, sondern sind in erster Linie von Werken des altniederländischen Malers Rogier van der Weyden (1400–1464) beeinflusst (siehe auch meinen Post „Malen mit dem Grabstichel“).
Martin Schongauer: Madonna auf der Rasenbank (um 1475); Kupferstich
Martin Schongauer gilt als Vollender der spätgotischen Malerei in Deutschland. Seiner Kunst wegen nannten ihn seine Zeitgenossen „Hipsch Martin“ oder auch „Martin Schön“. Wir kennen ihn vor allem als Grafiker – 115 seiner Kupferstiche sind erhalten geblieben. Sie waren in ganz Europa verbreitet und wirkten noch lange nach seinem Tod als Anregung auf andere Künstler. Auch Albrecht Dürer reiste nach Colmar, um bei Schongauer zu arbeiten – doch der Meister war bereits verstorben, als er eintraf. Dennoch ist Dürer wesentlich von der Formtradition der Schongauer-Werkstatt geprägt worden. Das malerische Werk Schongauers wurde von den Bilderstürmen und den Zeitläuften weitgehend vernichtet; nur wenige Gemälde sind auf uns gekommen, darunter die vier genannten Marien-Täfelchen und die berühmte Rosenhag-Madonna in Colmar (1473).

Literaturhinweise
Heinrichs, Ulrike: Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher. Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens. Deutscher Kunstverlag, München 2007, S. 323-326;
Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Biographie. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2004, S. 177-190;
Strolz, Monika: Martin Schongauer, Die Heilige Familie. In: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 4/5 (2002/2003), S. 358-371.

(zuletzt bearbeitet am 4. Juli 2020)

Dienstag, 2. August 2016

Die Königin, die ihren Kopf behielt – Hans Holbeins d.J. Porträt der Jane Seymour


Hans Holbein d.J.: Jane Seymour (1536/37); Wien,
Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Hans Holbein d.J. (1497–1543) hatte 1532 Basel endgültig in Richtung England verlassen und wurde 1536 Hofmaler Heinrichs VIII. Zu den ersten in dessen Dienst entstandenen Gemälden zählt das Porträt von Jane Seymour (1509–1537), das sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien befindet. Jane Seymour hatte nacheinander den Königinnen Katharina von Aragon und Anne Boleyn als Hofdame gedient; am Tag nach Annes Hinrichtung am 19. Mai 1536 verlobte sich der König mit ihr, und zehn Tage später wurde sie seine dritte Gemahlin. Am 3. Juni 1536 ließ Heinrich VIII. Jane zur Königin ausrufen – doch noch vor ihrer Krönung starb sie am 24. Oktober 1537 im Wochenbett, zwölf Tage nach der Geburt des so sehnlich erwarteten Thronfolgers Prinz Edward. Sie wurde als einzige der sechs Ehefrauen Heinrichs VIII. und als Mutter seines einzigen legalen Sohnes mit einem königlichen Staatsakt in der St. George’s Chapel in Windsor beigesetzt. 1547 erhielt Heinrich VIII. an ihrer Seite seine letzte Ruhestätte.
Hans Holbein d.J.: Heinrich VIII. (1537); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
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Jane Seymour ist in ihrer Zeit als Königin mehrmals von Holbein porträtiert worden. Als bedeutendstes Werk mit Janes Bildnis gilt die große Wandmalerei im königlichen Palast Whitehall in London, auf dem die Tudor-Dynastie dargestellt war. Jane wurde darauf in Lebensgröße und als ganze Figur wiedergegeben, zusammen mit ihrem Gatten und dessen Ahnen. Dieses 1537 entstandene Werk ging bei einen Brand 1698 verloren, seine Komposition ist jedoch durch eine kleinere, 1667 gemalte Kopie überliefert.
Auf dem Wiener Porträt steht Jane Seymour als Halbfigur und in Dreiviertelansicht vor einem nicht näher bestimmten blauen Hintergrund, auf den ihr Körper einen Schlagschatten wirft. Es gibt keinen Blickkontakt mit dem Betrachter; Jane hat ihre linke Hand auf die nach oben gekehrte Handfläche ihrer Rechten gelegt.
Unübertroffene Feinmalerei
Die Königin trägt ein Kostüm aus rotem Samt, dessen rechteckiger Halsauschnitt mit Perlen und Edelsteinen abgesetzt ist. Die Ärmel des Kostüms sind weit zurückgeschlagen, wodurch der mit einem Raster aus Goldfäden verzierte Futterstoff sichtbar wird. Darunter sind lose, offene Ärmel aus Silberbrokat angelegt, die von Juwelen zusammengehalten werden und in den Öffnungen ein weißes Hemd zum Vorschein kommen lassen. Das weiße Hemd zeigt an den Handgelenken eine schwarze Stickerei; im unteren Teil des Kostüms erscheint erneut das Silberbrokat der Ärmel.
Jane wurde immer mit einer englischen Haube dargestellt (im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Anne Boleyn, die die etwas modernere und rundere französische Haube bevorzugt hatte). Die Haube ist mit einem Streifen aus Goldbrokat besetzt, die Unterhaube entlang des Saumes mit Perlen und Edelsteinen verziert. Jane Seymour bestand darauf, dass auch ihre Hofdamen an Stelle der modernen französischen eine englische Haube trugen.
Alle Frauen Heinrichs VIII. waren reichlich mit kostbarem Schmuck ausgestattet
An der Halskette der Königin prangt ein aus zwei großen Steinen bestehender Anhänger, an dem eine birnenförmige Perle hängt. Über ihrer Brust ist ein großes Schmuckstück mit dem Christusmonogramm IHS am Kostüm befestigt, das aus dem außerordentlich großen Juwelenschatz Heinrichs VIII. stammte.
Die Vorzeichnung zum Porträt der Jane Seymour; Windsor Castle
Zu dem Bildnis Jane Seymours existiert eine vorbereitende Porträtzeichnung; die Konturen dieses Entwurfs wurden mit einer Durchdrück-Technik auf die noch unbemalte Leinwand übertragen; allerdings sind auf der Zeichnung andere Juwelen wiedergegeben als auf dem Gemälde in Wien.

Literaturhinweis
Hans Holbein der Jüngere 1497/98–1543. Porträtist der Renaissance. Belser Verlag, Stuttgart 2003, S. 114-119.

(zuletzt bearbeitet am 4. Juli 2020)