Sonntag, 21. August 2016

Wenn Blicke töten können – Caravaggios „Haupt der Medusa“


Caravaggio: Haupt der Medusa (1597/98); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Der antike Dichter Ovid erzählt in seinen Metamorphosen (IV, 753-803), dass die wunderschöne Medusa, eine der drei Gorgonen-Schwestern, von Poseidon im Tempel der Athene vergewaltigt wird. Athene, Zeugin der Tat, bestraft daraufhin – nicht den Täter, sondern Medusa, indem sie sie in ein hässliches Ungeheuer mit Schlangenhaaren, langer Zunge und glühenden Augen verwandelt. Fortan genügt ein Blick in ihre Augen, um versteinert zu werden. Dem Göttersohn Perseus gelingt es, sich der schlafenden Medusa zu nähern und ihr den Kopf abzuschlagen – er nutzt dazu eine Tarnkappe, einen Spiegelschild und geflügelte Schuhe. Mit dem Medusenhaupt an seinem Schild, dessen versteinernde Wirkung anhält, besiegt Perseus danach zahlreiche Feinde und schenkt den Kopf schließlich Athene.
Caravaggio (1571–1610) hat das soeben abgeschlagene, schlangenbesetzte Haupt der Medusa 1597/98 auf einen Prunkschild gemalt (genauer: auf ein schildförmiges, mit Leinwand überzogenes Stück Pappelholz). Das Gemälde stellt also dar, was es zugleich ist. In Auftrag gegeben wurde das Werk von Kardinal del Monte als Geschenk für Ferdinando I.; es war für die neue Waffenkammer des Großherzogs bestimmt. Der Kardinal gehörte zu den frühen Förderern Caravaggios – Ende 1595 hatte er den Maler für fünf Jahre als Mitglied des Haushalts in seinen Palazzo aufgenommen.
Mund und Augen der Medusa sind weit aufgerissen, Blutströme schießen aus dem Hals, ihr letzter grauenhaft verzerrter Blick erscheint wie eingefroren, „fixiert den Betrachter mit eindringlicher Direktheit und droht diesen seinerseits zu versteinern“ (Schütze 2009, S. 72). Was Caravaggio auf seinem Schild zeigt, ist das Spiegelbild der Medusa, in dem die Sterbende sich selbst erblickt – Perseus nutzte ihn, um sein Gegenüber nicht direkt ansehen zu müssen. Klaus Krüger hat die bildlichen Paradoxien benannt, mit denen Caravaggio den Betrachter irritiert: „Die Darstellung verkörpert ein akutes Hier und Jetzt und manifestiert sich doch zugleich als ein vergangenener Moment, derjenige der Enthauptung; sie setzt einen Schrei in Szene, dessen Hörbarkeit indes unhörbar ist; sie zeigt ein erstarrtes Leben und eine lebendige Erstarrung, einen höchst lebhaft-reaktiven Blick, der gleichwohl ohne innere Regung wie ins Leere gerichtet ist“ (Krüger 2006, S. 26).
Um die Verkürzungen des Spiegelbildes auf dem konvexen Malgrund überzeugend abbilden zu können, dürfte sich der Maler eines schildförmigen Spiegels bedient haben (eines „scudo a specchio“), der zu seinem Hausstand gehörte und auch in dem Gemälde Die Bekehrung Maria Magdalenas erscheint (siehe meinen Post Erleuchtet von göttlicher Gnade“). Wahrscheinlich hat Caravaggio für das Medusenhaupt sein eigenes Antlitz in diesem Spiegel studiert.
Caravaggio: Die Bekehrung Maria Magdalenas (1598/99); Detroit, The Detroit Institute of Art
Der römische Barockmaler maß sich bei der Wahl seines Themas mit keinem Geringerem als Leonardo da Vinci (1452–1519): Der berühmte Renaissance-Künstler hatte nämlich gleichfalls einen mit einem Medusenhaupt geschmückten Schild geschaffen, der zu den mediceischen Sammlungen gehörte, jedoch seit 1587 verschollen war. Caravaggios Medusenschild sollte den von Leonardo ersetzen – und natürlich wollte der junge Künstler den großen Meister übertreffen. Zugleich erinnerte Caravaggio mit seinem abgeschlagenen Gorgonenhaupt an Benvenuto Cellins bekannte Bronzestatue des Perseus auf der Pizza della Signoria in Florenz (siehe meinen Post „Cellinis Medusentöter“).
Benvenuto Cellini: Perseus (1554-1554); Florenz, Piazza della Signoria
Caravaggio stellt mit seinem Schild nicht nur den Medusa-Mythos dar, sondern demonstriert auch die Wirkmacht seiner Malkunst: Er hat den entsetzten, immer noch versteinernden Blick der Medusa im Spiegel des Schildes festgehalten „und dabei mit solch dramatischer Lebendigkeit versehen, dass der staunende Betrachter vor Schrecken und Bewunderung vor dem Bild erstarrt“ (Schütze 2009, S. 72).
Giambattista Marino (1569–1625) hat das Gemälde in einem Madrigal seiner Galeria (1619) beschrieben und als Allegorie der militärischen Tugenden Ferdinandos de’ Medici gedeutet:

La testa di Medusa in una rotella
di Michelagnolo da Caravaggio
nella Galeria del Gran Duca di Toscana

Hor quai nemici fian, che freddi marmi
Non diuengan repente
In mirando, Signor, nel vostro scudo
Quel fier Gorgone, e crudo,
Cui fanno orribilmente
Volumi viperini
Squallida pompa e spauentosa ai crini?
Ma che! Poco l’armi
A voi sia d’huopo il formidabil mostro,
Che la vera Medusa è il valor vostro.


Das Haupt der Medusa auf einem Schild
von Michelangelo da Caravaggio,
in der Galerie des Großherzogs von Toskana

Nun, was für Feinde wären das, die nicht sofort
zu kaltem Stein würden,
wenn sie, Herr, auf eurem Schild
jene stolze und grausame Gorgo betrachten,
der auf schreckliche Weise
ein Gewirr von Vipern
einen hässlichen und furchtbaren Haarschmuck bildet?
Doch was! Von geringerem Nutzen
ist euch im Kampf das schreckliche Ungeheuer:
denn die wahre Medusa ist euer Mut.

(übersetzt von Christiane Kruse und Rainer Stillers; aus Giambattista Marino, La Galeria. Zweisprachige Auswahl. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2009, S. 50/51)

Eine Enthauptung mit schreckensweiten Augen und aufgerissenem Mund hat Caravaggio etwa zeitgleich auch in seinem Gemälde Judith und Holofernes wiedergegeben (siehe meinen Post „Barock-Splatter“). Beide Bilder belegen das Interesse des Künstlers an heftigen Affekten, die sich besonders im Gesichtsausdruck zeigen; ein erstes Beispiel hierfür ist sein frühes Werk Jüngling, von einer Eidechse gebissen.
Caravaggio: Judith und Holofernes (1598/99); Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
Caravaggio: Jüngling, von einer Eidechse gebissen (1593/94); Florenz, Fondazione Longhi
Constanze Hager hat jüngst noch eine alternative Deutung zu Caravaggios Medusenschild vorgestellt: Der Maler zeige nicht die gespiegelte Enthauptung Medusas, sondern das Gorgoneion selbst, also das tatsächliche Medusenhaupt auf dem Schild der Göttin Athene. „Wäre eine Spiegelung gemeint, ließe sich erwarten, dass die Umgebung, in der die Gorgo sich bei ihrer Enthauptung befand, mitgespiegelt würde“ (Hager 2016, S. 48); die konvexe Oberfläche des Malgrundes müsste außerdem, so Hager, ein deutlich konvex verzerrtes Spiegelbild zur Folge haben. Da keine Details darauf hinwiesen, dass es sich bei Caravaggios Gemälde um ein spiegelndes, metallisches Schild handele, wäre es naheliegend, es als das hölzerne Schild zu betrachten, das es tatsächlich ist“ (Hager 2016, S. 49). Das abgebildete Medusenhaupt sei daher als plastischer Kopf zu verstehen, der auf einen grünen Schild geheftet ist und auf diesen einen Schatten wirft“ (Hager 2016, S. 50). Durch Schatten und Blutwunde verdeutliche Caravaggio, dass es sich bei dem Gorgonenhaupt um einen abgetrennten Kopf handelt.
Caravaggios Medusa ist – wie könnte es anders sein – auch tiefenpsychologisch interpretiert worden: In dem kurzen Aufsatz „Das Medusenhaupt“ von 1922  deutet Sigmund Freud den abgeschlagenen Kopf der Gorgo als Symbol für die männliche Kastrationsangst. Die Zahnreihe im weit geöffneten Mund wiederum erinnert an den Mythos der vagina dentata („bezahnte Vagina“), den Freud ebenfalls mit der Kastrationsangst in Verbindung bringt.

Literaturhinweise
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 103-106;
Hager, Constanze: Caravaggios Medusenschild von 1598 – ein Gorgoneion? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 97 (2016), S. 62;
Harten, Jürgen/Martin, Jean-Hubert (Hrsg.): Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 256-257;
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 67-69;

Krüger, Klaus: Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in Caravaggios Frühwerk. In: Jürgen Harten und Jean-Hubert Martin (Hrsg.), Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 24-35;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011.

(zuletzt bearbeitet am 30. November 2024) 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen