Martin Schongauer: Heilige Familie (um 1475); Wien, Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Kunsthistorische Museum in Wien ist angefüllt mit
zahllosen Meisterwerken, einige davon in immensem Format, wie z. B. die beiden
Rubensschen Kawenzmänner Die Wunder des hl.
Franz Xaver und Die Wunder des hl. Ignatius von Loyola (beide
535 x 395 cm). Da passiert es schnell, dass man eine Kostbarkeit wie die Heilige Familie von Martin Schongauer
(um 1440–1491) wegen seiner geringen Größe übersieht (26,3 x 17,1 cm), zumal
sie in einer Glasvitrine und mit geringer Beleuchtung ausgestellt ist. Zum
Glück ermöglicht das wundervolle „Google Art Projekt“, das zunächst
unscheinbare Täfelchen größer, vor allem aber hochaufgelöst zu bestaunen und selbst
kleinste Details heranzuzoomen.
Martin Schongauer: Heilige Familie (um 1470); München, Alte Pinakothek |
Das Wiener Gemälde ist eine der vier noch erhaltenen
kleinformatigen Tafeln von der Hand Martin Schongauers, bei denen es sich nicht
um Altar-, sondern um sogenannte Andachtsbilder handelt: Es sind mobile, für den privaten Besitz und Gebrauch gedachte Werke, die auch auf
Reisen mitgenommen werden konnten. In der Münchner Alten Pinakothek wird ein
exakt gleich großes Täfelchen aufbewahrt, das auch thematisch verwandt ist.
Beide Bilder zeigen Maria, die sich mit dem Kind auf ihrem Schoß beschäftigt,
sowie Joseph mit Ochs und Esel im Stall. Schongauer verschmilzt in ihnen
Elemente aus Darstellungen der Geburt Christi und der Ruhe auf der Flucht nach
Ägypten mit dem Typus der Sitzmadonna. Dabei erinnert die solide
Steinarchitektur auf dem Wiener Gemälde nur wenig an die zum Stall
umfunktionierte Ruine in Bethlehem, die bei der Geburt Christi sehr häufig zur
Szenerie gehört.
Während sich Maria um das Kind kümmert, besorgt der
Ziehvater Joseph, ein Heubündel im Arm, das Füttern der Tiere und wirft dabei
zurückhaltend einen Blick auf das Idyll im Vordergrund. Den Korb mit
Weintrauben hat Joseph wohl ebenfalls herbeigeschafft – Schongauer verdeutlicht
damit, dass der deutlich ältere Mann seine Rolle als Nährvater Jesu wahrnimmt
und sich um das Wohl der ihm Anvertrauten kümmert. Maria hat ihrerseits soeben
eine Traube aus dem Korb genommen. „Mittels der Früchte wird ein Vorher und ein
Nachher angedeutet, werden dem Bild ein Handlungsablauf und ein anekdotisches
Element hinzugefügt“ (Kemperdick 2004, S. 177).
Die Trauben, die Maria ihrem Kind reichen wird, haben
eine symbolische Bedeutung: Sie weisen auf den eucharistischen Wein und damit
auf die Passion Christi voraus. In gleicher Weise spielt auch die Garbe, die
Joseph direkt neben dem Knaben in den Händen hält, auf das Brot als den Leib
des Herrn an (Matthäus 26,26-28). Bei dem Beutelbuch auf Marias Knie dürfte es
sich um Schriften der alttestamentlichen Propheten handeln, die den kommenden
Erlöser vorausgesagt haben. Trotz dieser theologischen Bezüge wirkt die Szene
sehr natürlich und hat einen deutlich genrehaften Charakter. „Reizend ist der
interessierte, vorfreudige Blick des Jungen erfaßt, der seine Hände ganz
zurückhält, während die Mutter ihm sorgsam eine Beere aus der Traube pflückt“
(Kemperdick 2004, S. 177). Dabei bewegt Jesus, wie dies Kleinkinder eben tun,
unruhig ein wenig die Beine, sodass man unter seinen angehobenen rechten Fuß
sehen kann. Auch der Esel im Dunkel des hinteren Durchgangs scheint angesichts
dieser traulichen Szene zu lächeln ...
Farblich dominieren die beiden Rottöne von Marias Mantel und Kleid, die sich leuchtend vom hellen, grünlich-braunen Untergrund abheben. Die bildparallele steinerne Wand, vor der Maria sitzt,
markiert die Grenze zwischen Innen- und Außenraum. Joseph steht zwar nah bei
seiner Frau, befindet sich aber hinter der Türschwelle im Schatten des
Stallinnern, von dem sich seine dunkle Gestalt nur wenig abhebt. „Sein Kopf
taucht gleichsam aus dem Raumschatten in eine mittlere Helligkeit hervor, während
das Inkarnat Mariens und ihres Kindes im hellen Außenlicht leuchten“ (Kemperdick
2004, S. 181). Dabei greift die kleine rundbogige Nische hinter der jungen
Mutter die Form der Türöffnung auf. Maria selbst entspricht einem lieblichen
Mädchentyp mit zarten Gesichtszügen, den Schongauer wohl mit Blick auf das geringe Format der Tafel und die
mehr intim-anekdotische als repräsentativ-hoheitsvolle Szene gewählt hat.
Bestimmend für die Komposition ist vor allem die
bildteilende, den Raum durchziehende Diagonale von links oben nach rechts
unten: Sie verläuft von Josephs Kopf zum Flechtkorb voller Trauben. „Der Korb
ist das vorderste Bildelement, Josephs Gesicht, dessen Garbe diejenige des
Korbes rötlicher und dunkler variiert, ist das wichtigste Motiv hinten; ungefähr
in der räumlichen Mitte zwischen beiden befindet sich Christus“ (Kemperdick
2004, S. 181).
Der geflochtene Korb in der unteren Bildhälfte zieht
schnell den Blick auf sich: So herausgehoben präsentiert, auf schlichtem Grau
und mit etwas Freiraum, wirkt er wie ein Stillleben. Schongauer lässt ihn im
einfallenden Licht beinahe so kostbar aussehen wie die Goldgefäße, Kronen oder
sonstigen Preziosen, die auf zahlreichen mittelalterlichen Bildern im
Vordergrund eine leere Ecke füllen. „Die Trauben schimmern wie Perlen oder
Edelsteine auf und werden dabei hinsichtlich ihrer Reflexionseigenschaften fein
nach den etwas durchscheinenderen grünen und den opakeren roten Beeren
differenziert“ (Kemperdick 2004, S. 184). Auf einer Achse mit dem Korb hat
Schongauer in der Nische ein zweites kleines Stillleben eingefügt: eine braune
Pilgerflasche, das mit nur wenigen Lichtakzenten gleichsam einen Gegenpol am
dunklen Ende der Farbskala bildet. Das bauchige Trinkgefäß führt Joseph auch auf Schongauers Kupferstich Flucht nach Ägypten mit sich.
Martin Schongauer: Flucht nach Ägypten (um 1470); Kupferstich |
Jan van Eyck: Lucca-Madonna (um 1437); Frankfurt, Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Martin Schongauer: Madonna auf der Rasenbank (um 1475); Kupferstich |
Martin Schongauer gilt als Vollender der spätgotischen
Malerei in Deutschland. Seiner Kunst wegen nannten ihn seine Zeitgenossen
„Hipsch Martin“ oder auch „Martin Schön“. Wir kennen ihn vor allem als Grafiker
– 115 seiner Kupferstiche sind erhalten geblieben. Sie waren in ganz Europa
verbreitet und wirkten noch lange nach seinem Tod als Anregung auf andere
Künstler. Auch Albrecht Dürer reiste nach Colmar, um bei Schongauer zu arbeiten
– doch der Meister war bereits verstorben, als er eintraf. Dennoch ist Dürer
wesentlich von der Formtradition der Schongauer-Werkstatt geprägt worden. Das
malerische Werk Schongauers wurde von den Bilderstürmen und den Zeitläuften
weitgehend vernichtet; nur wenige Gemälde sind auf uns gekommen, darunter die
vier genannten Marien-Täfelchen und die berühmte Rosenhag-Madonna in Colmar
(1473).
Literaturhinweise
Heinrichs,
Ulrike: Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher. Kunst und
Wissenschaft unter dem Primat des Sehens. Deutscher Kunstverlag, München
2007, S. 323-326;
Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Biographie. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2004, S. 177-190;
Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Biographie. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2004, S. 177-190;
Strolz, Monika: Martin Schongauer, Die Heilige Familie.
In: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 4/5 (2002/2003), S. 358-371.
(zuletzt bearbeitet am 4. Juli 2020)
(zuletzt bearbeitet am 4. Juli 2020)
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