Dienstag, 19. Dezember 2017

Ohne Buße keine Barmherzigkeit – Michelangelos sixtinische Propheten

Michelangelo: Der Prophet Jeremia (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Die alttestamentlichen Propheten werden seit Augustinus in vier „große“ und zwölf „kleine“ eingeteilt. Neben den bereits vorgestellten fünf Sibyllen (siehe meinen Post „Vereint unter einem Himmel“) hat Michelangelo an der Decke der Sixtina auch sieben biblische Propheten dargestellt, nämlich die vier „großen“ Jesaja, Hesekiel, Jeremias und Daniel und die drei „kleinen“ Sacharja, Joel und Jonas.
Der Prophet Sacharja (in der lateinischen Bibel Zacharias genannt) ist auf der Schmalseite über dem Eingangsportal zu sehen: Er wendet sich mit seinem üppigen weißen Bart im Profil nach rechts, um in einem Buch zu blättern, das er mit beiden Händen vor sein Gesicht hält. Auch der Oberkörper präsentiert sich im Profil, der rechte Arm verläuft bildparallel. Mit dem Unterkörper sitzt Zacharias jedoch leicht schräg auf seiner Marmorbank, der linke Fuß berührt mit den Zehen den Boden, der rechte Fuß, der auf einem Holzkasten ruht, wird vom Gewand des Propheten verdeckt.
Michelangelo: Der Prophet Sacharja (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Dass Sacharja über dem Eingangsportal freskiert ist, wird von Kunsthistorikern vielfach damit erklärt, dass er unter anderem den Einzug Christi in Jerusalem prophezeit hat, was im Matthäus-Evangelium (Kapitel 21,4-5) ausführlich zitiert wird; auch für die in die Kapelle Einziehenden erscheint dieser Bezug sehr passend. Sacharja hat darüber hinaus den Neubau des Tempels in Jerusalem vorausgesagt, den die Israeliten nach ihrer Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft in Angriff nahmen. Die Sixtinische Kapelle wiederum war ein anspruchsvoller Neubau, den der Rovere-Papst Sixtus IV. nach dem Vorbild des ersten Tempels Salomos hatte errichten lassen; dessen Ausstattung wurde nun von seinem Neffen, Papst Julius II., vollendet. Auch auf diesen Zusammenhang dürfte der Prophet Sacharja über dem Eingangsportal anspielen; darüber hinaus verbanden die Zeitgenossen mit dem Thema „Neubau des Tempels“ noch ein weiteres Großprojekt, nämlich den Neubau von St. Peter, zu dem erst wenige Jahre zuvor, am 18. April 1506, der Grundstein gelegt worden war. Nicht ohne Grund dürfte sich deswegen gerade unter der Darstellung des Propheten Sacharja das Wappen der Rovere mit den päpstlichen Insignien befinden, das noch der Ausstattung unter Sixtus IV. angehört: „Die Rovere-Päpste haben gewissermaßen die Prophezeiung des Zacharias Wirklichkeit werden lassen“ (Herzner 2015, S. 191).
Michelangelo: Der Prophet Joel (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Joel sitzt nahezu frontal auf seiner Marmorbank. Sein konzentrierter Blick ist auf den Anfang einer langen Schriftrolle gerichtet, die er in den Händen hält. Das Pergament hat sich in der Mitte verdreht – was Joel aber nicht bemerkt, so sehr scheint er von dem gefesselt, was er liest. Sein schräg auf den Text gerichteter Blick wird unterstrichen durch den leicht nach rechts geneigten Körper: Unbewusst lehnt sich der Prophet mit dem rechten Unterarm gegen ein steiles hölzernes Lesepult. Der Unterschenkel des vorgestreckten rechten Beins steht dabei fast senkrecht; der nackte Fuß berüht mit den Zehen die Vorderkante der Bodenplatte.
Bei der Schriftrolle könnte es sich um den Anfang des Buches Joel handeln, wo in drastischen Worten eine Heuschreckenplage geschildert wird. Der Prophet deutet die Naturkatastrophe als Strafe Gottes und dient ihm als Anlass, das Volk Israel nachdrücklich zu Umkehr und Buße aufzurufen: „Doch auch jetzt noch, spricht der Herr, kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen! Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider und kehrt um zu dem Herrn, eurem Gott! Denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte, und es reut ihn bald die Strafe“ (Joel 2,12-13; LUT).
Von Jesaja ist eine Fülle an Weissagungen überliefert, die ihn zu einem der wichtigsten Propheten der christlichen Theologie und Kunstgeschichte haben werden lassen. Er hat die Passion Christi prophezeit (Jesaja 52,13-53,12) und ebenso die Jungfrauengeburt (Jesaja 7,14). Doch Michelangelos Darstellung des Jesaja enthält keinen Hinweis auf diese beiden wichtigen Weissagungen. Jesaja sitzt entspannt auf seiner Marmorbank; er ist offensichtlich im Begriff, über eine soeben gelesene Textpassage nachzudenken, denn er hat das Buch an seiner linken Seite abgestellt, aber einige Finger der rechten Hand greifen in die Seiten, sodass die fragliche Stelle sofort wieder aufgeschlagen werden kann. Die linke Hand ragt mit dem angewinkelten Zeigefinger nach oben ins Leere – wahrscheinlich hat der Prophet eben noch seinen Kopf in diese Hand gestützt, bis er durch etwas aufgeschreckt worden ist. Mit erregter Geste und weit aufgerisssenen Augen weist der Putto hinter dem Rücken des Propheten auf ein plötzliches Ereignis hin – doch Jesaja wendet zwar den Kopf, aber scheint nicht in den Blick nehmen zu wollen, worauf der Putto weist.
Weh mir, ich vergehe!“ (Jesaja 6,5)
Jesajas Augenlider senken sich tief herab, die Augen sind fast geschlossen, nur mit dem inneren Auge nimmt der Prophet wahr, was plötzlich geschieht. Die kräftige Falte über der Nasenwurzel und die wild züngelnden Haarlocken verweisen ebenfalls auf die innere Anspannung, die Jesaja erfasst hat. Michelangelo meint hier höchstwahrscheinlich die berühmte Gottesvision, die in Jesaja 6,1-4 beschrieben wird: „In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch“ (LUT). Jesaja soll, so der Auftrag Gottes an ihn, das Volk Israel ermahnen, sein Leben auf Gott auszurichten, weil es sonst in die Katastrophe führt. Ähnlich wie Joel ruft auch Jesaja die gottvergessenen Israeliten zu Umkehr und Buße auf.
Michelangelo: Der Prophet Hesekiel (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Hesekiel ist als einziger Prophet in lebhafter Bewegung wiedergegeben. Eben noch hat er in der Schriftrolle gelesen, deren größten, zusammengerollten Teil er fest in der linken Hand hält, als auf der rechten Seite etwas geschieht, das seine Aufmerksamkeit fesselt. Erschrocken und zugleich überwältigt neigt er sich mit weit aufgerissenen Augen dem entgegen, was wir nicht sehen. Der ins Profil gewendete Kopf ist, als Zeichen äußerster Erregung, so weit vorgereckt wie nur eben möglich. Dargestellt ist, so Volker Herzner, das wohl bedeutendste Ereignis im Leben des Hesekiel: seine Vision der „Herrlichkeit des Herrn“ und die damit verbundene Berufung zum Propheten (Hesekiel 1,4-28). Auch er wird in der Folge das Volk Israel eindringlich dazu aufrufen, zu einem gottgefälligen Leben umzukehren.
Hesekiel ist ohne Frage einer der wichtigsten Propheten des Alten Testaments. Aus seiner Vison des Tetramorph (Viergestalt) entwickelte die christliche Kunst die Majestas Domini und die vier Evangelistensymbole (Engel, Adler, Stier und Löwe). Hesekiel weissagte, neben vielen anderen wichtigen Ereignissen, schließlich die Rückkehr Israels aus dem Exil (Hesekiel 39,25-29) und den neuen Tempelbau (Hesekiel 40-43); seine Erwähnung der „porta clausa“ des neuen Tempels, die geschlossen bleiben soll, da durch sie der Herr, der Gott Israels, gegangen ist (Hesekiel 44,2), wurde im Mittelalter zum wichtigsten Symbol der Geburt Christi durch die Jungfrau Maria.
Michelangelo: Der Prophet Daniel (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Der jugendliche Prophet Daniel hält ein großes, geöffnetes Buch in seinem Schoß. Er stützt es jedoch nur, indem sein Handgelenk auf dem Schnitt aufliegt und die Hand selbst darüber nach unten hängt. Gehalten wird der Foliant hauptsächlich von einem der beiden Putten, der sich mit seinem Rücken wie ein Atlant unter den oberen Teil geschoben hat. Daniel scheint nicht die Absicht zu haben, in dem großen Buch (es ist das größte aller an der sixtinischen Decke dargestellten Bücher) noch zu blättern und irgendwelche Seiten nachzuschlagen; es muss eine einzige, nun aufgeschlagene Stelle sein, die seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Daniel hat sich jedoch völlig von diesem Buch ab- und dem Schreibpult rechts von ihm zugewandt. Ein großer Bogen Papier oder Pergament liegt auf dem Pult. Der Prophet ist dabei, etwas aufzuschreiben, aber die Hand führt keine Feder, obwohl an der Rückseite des Pultes ein Tintenfass hängt; stattdessen halten die Fingerspitzen seiner Rechten ein kleines Stückchen Kohle. Offensichtlich macht er sich Notizen oder Anmerkungen zu dem Gelesenen.
Daniels Gesichtsausdruck scheint von tiefer Trauer erfüllt, wie die senkrechten Stirnfalten und die fast geschlossenen Augen andeuten. Anlass sind, so Volker Herzner, die Schriften des Jeremias. Daniel, der sich mit seinem Volk immer noch in Babylonischer Gefangenschaft befindet, erfährt aus ihnen: „Siebzig Jahre soll Jerusalem wüst liegen“ (Daniel 9,2; LUT). Wenig später erscheint dann allerdings der Engel Gabriel und erklärt Daniel, dass die „siebzig Jahre“ von Gott zu „siebzig Wochen“ ermäßigt wurden (Daniel 9,24; LUT).
Michelangelo: Der Prophet Jeremias (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Der sechste Prophet ist Jeremias, den Michelangelo als mächtige, in Schwermut versunkene Gestalt frontal auf seiner Marmorbank darstellt. Der Kopf, den Jeremias in die rechte Hand stützt, erscheint wie eine große Last; hinter der Hand verschwinden der Mund und der Unterkiefer bis zur Nase, darunter hängt der lange weiße Bart herab. Die Augen sind geschlossen, der Blick bleibt ganz nach innen gerichtet; die linke Hand hängt kraftlos über den Oberschenkel herab. Jeremias hat die Füße überkreuzt, dabei aber die Beine weit geöffnet. Als einziger der sixtinischen Propheten trägt er Stiefel. Die beiden Begleitpersonen des Propheten, älter als die anderen und anscheinend weiblichen Geschlechts, sind ebenfalls erfüllt von Trauer.
Links neben der Marmorbank hängt eine geöffnete Schriftrolle über die Stufen herab, deren erste Zeile sich gut lesen lässt: „ALEF.V“. „Aleph“ ist der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets in lateinischer Umschreibung, und in diesem Zusammenhang kann er als eindeutiger Hinweis auf die Klagelieder des Jeremias verstanden werden, die zu seinen wichtigsten und bewegendsten Schriften zählen. Der Buchstabe „V“ nach dem „ALEF“ ist zweifellos als das römische Zahlwort „Fünf“ zu lesen und wohl ein Verweis auf die insgesamt fünf Kapitel der Klagelieder. Jeremias bringt mit seiner Trauer nur körperlich zum Ausdruck, was er in den Klageliedern in Worte fasst. Anlass zur Klage ist die Wegführung der Juden in die Babylonische Gefangenschaft und die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar. Jeramias selbst blieb in der Stadt und gab sich hier seiner Klage hin: „Ich bin der Mann, der Elend sehen muss durch die Rute seines Grimmes. Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht. Er hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag. Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen. Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben. Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind. Er hat mich ummauert, dass ich nicht herauskann, und mich in harte Fesseln gelegt. Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet“ (Klagelieder 3,1-8; LUT).
Michelangelo: Der Prophet Jona (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Blickfang für jeden Betrachter der sixtinischen Decke ist ohne Frage der Prophet Jona über der Altarwand. Diesen besonderen Platz nimmt er wohl deshalb ein, weil Christus selbst auf Jona als „Zeichen“ für seine Auferstehung verweist: „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht fordert ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein“ (Matthäus 12,39-40; LUT). Der große Fisch hinter Jona zeigt an, dass der Prophet nach seiner Errettung aus dem Bauch des Fisches, in dem er drei Tage und drei Nächte verbringen musste, dargestellt ist. Volker Herzner bezweifelt aber, dass Jona von Michelangelo als Typus der Auferstehung gemeint ist, da jegliches Anzeichen dafür fehle, dass Jona über seine Errettung glücklich sei.
Jona lehnt sich weit zurück, um Blickkontakt mit Gott im Himmel aufzunehmen. Er will ihm jedoch nicht etwa danken, so Herzner, denn dazu stehe die Geste der beiden ausgestreckten Zeigefinger, die aus den eng nebeneinander gehaltenen Händen nach rechts unten weisen, in Widerspruch. Denn nichts anderes als den Zornausbruch des Propheten gegen den barmherzigen Gott zeige Michelangelos Jona. In leidenschaftlicher Erregung lehnt sich Jona weit zurück, um Gott auf die sündige, aber reumütige Stadt Ninive hinzuweisen, die nach Ansicht des Propheten nicht verschont werden darf.
Jona sitzt neben dem großen Fisch in einer Efeulaube, die Gott gewissermaßen aus pädagogischen Gründen rasch nacheinander wachsen und verdorren ließ (Jona 4,6-11). Der Prophet begehrt auf gegen Gott, weil er von ihm eine gerechte Bestrafung der Sünder erwartet hat, jedoch erleben muss, dass Gott in seiner Güte und Barmherzigkeit selbst die größten Sünden vergibt, wenn sie aufrichtig bereut werden. Alle sixtinischen Propheten haben gemeinsam, dass sie zur Buße und einem gottgefälligen Leben aufrufen; ihren Mahnungen verleihen sie mit der Ankündigung von Gottes Strafgericht Nachdruck. Aber allein Jona führt mit seinem Zorn gegen Gott vor Augen, wie eng Buße und Barmherzigkeit verknüpft sind – Erlösung setzt Umkehr voraus. Deswegen, so Volker Herzner, dürfte Michelangelo Jona eine so herausgehobene Position an der sixtinischen Decke gegeben haben.

Literaturhinweise
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 29. Juni 2022)  

Dienstag, 14. November 2017

Vereint unter einem Himmel – Michelangelos sixtinische Sibyllen

Michelangelo: Die erythräische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Das Sockelgeschoss der von Michelangelo ausgemalten Sixtinischen Decke wird beherrscht von zwölf monumentalen Sitzfiguren: sieben Propheten des Alten Testaments und fünf sogenannten Sibyllen. Sie besetzen die zwölf Zwickel des Kapellengewölbes. Michelangelo vereint damit im wichtigsten Sakralraum der damaligen Christenheit die griechisch-römische mit der biblischen Welt.
Propheten des Alten Testaments waren von Beginn an ein Thema der christlichen Kunst, denn das Christentum verstand die Geburt Christi, sein Leiden wie seine Auferstehung als Erfüllung dessen, was diese Seher vorhergesagt hatten. Die Sibyllen dagegen gehören der heidnischen Antike an; als Verkünderinnen der Staatsorakel hatten sie große Bedeutung. Die hohe Achtung, die das Volk den Sibyllen entgegenbrachte, versuchten christliche Autoren zu nutzen, indem man ihre Weissagungen mit christlichen Messiaserwartungen verknüpfte. Möglich war dies, weil die Sibyllen Zeugnis ablegen von nur einem Gott; außerdem sagen sie die Passion des Gottesssohns und das Jüngste Gericht voraus. Legitimiert für die christliche Theologie werden die heidnischen Seherinnen vor allem durch Augustinus: In einem ganzen Kapitel seines Werkes De civitate (18,23) beschäftigt er sich mit der Vision der erythräischen Sibylle zum Jüngsten Gericht.
Von Michelangelos sieben Propheten nehmen Zacharias und Jonas die beiden prominentesten Plätze ein, nämlich die an den Schmalseiten der Kapelle (Zacharias über dem Eingangsportal und Jonas über der Altarwand). Die übrigen fünf Propheten und fünf Sibyllen wechseln sich an den Längsseiten im Verhältnis 2:3 bzw. 3:2 ab; auf der Südseite die Delphica, Jesaja, die Cumäa, Daniel und die Libyca, auf der Nordseite Joel, die Erythräa, Hesekiel, die Persica und Jeremias.
Michelangelo: Decke der sixtinischen Kapelle (1508-1512); Rom, Sixtina (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Sehergestalten nehmen Plätze in kargen Sitznischen ein, deren Hauptmerkmal eine glatte, die Figuren überragende Rückwand und seitlich begrenzende, mit Puttenskulpturen dekorierte Pfeiler sind. Vorkragende, von Konsolen getragene steinerne Platten schaffen den Fußraum. Unterhalb dieser Platte, die unterschiedlich tief in den Gewölbezwickeln ihren Sitz hat, befindet sich eine große gerahmte, an grünen Bändern aufgehängte Tafel mit dem Namen der jeweils dargestellten Figur; noch darunter, im untersten Zwickel, stehen „lebendige“ Putten, die sich mit den grünen Girlanden beschäftigen oder auch die Tafeln stützen. Die Thronnischen werden bekrönt von einem reich profilierten, über den seitlichen Pfeilern verkröpften Gesims, das zugleich ein Teil des Rahmens ist, „der den gesamten flachen Deckenspiegel des Gewölbes als autonomen Bereich für die Darstellung des Genesis-Zyklus abtrennt und aussondert“ (Herzner 2015, S. 156).

Über den seitlichen Pfeilern der Thronnischen steigen Gurtbögen auf, die über den Deckenscheitel hinweg die Verbindung zu den Thronnischen der gegenüberliegenden Seite herstellen. Diese insgesamt zehn Gurtbögen gliedern den inneren Bereich der Decke in neun Felder, in denen neun Szenen aus den biblischen Genesis-Erzählungen dargestellt sind. Die Pfeiler, die die Thronnischen begrenzen, haben allerdings einen geringeren Abstand voneinander als die Pfeiler von einer Thronnische zur nächsten. Das hat Folgen für die Abmessungen der neun Bildfelder im Gewölbespiegel: Über den Thronnischen sind sie deutlich schmaler als über den Stichkappen. Es resultiert daraus ein Wechsel von vier breiteren und fünf schmaleren Feldern. Dieser Wechsel wird noch dadurch drastisch verstärkt, dass die breiteren Felder zur Gänze die Fläche zwischen den begrenzenden Gesimsen ausfüllen; den schmaleren steht jedoch, da an den beiden Schmalseiten bronzefarbene Medaillons eingefügt sind, nur eine sehr viel kleinere Fläche zur Verfügung. Außerdem sind den kleineren Bildfeldern die Ignudi zugeordnet: Diese nackte Jünglingsfiguren (siehe meinen Post „Michelangelo feiert das schöne Geschlecht“) sitzen auf Sockeln über den Pfeilern der Thronnischen einander gegenüber und halten sowohl Eichengirlanden als auch Bänder, die zur Befestigung der erwähnten Medaillons dienen.

Was nun alle Sibyllen Michelangelos verbindet, ist ihre heilsgeschichtliche Aufgabe: nämlich Künderinnen von Christi Geburt und Passion unter den Heiden zu sein. „Die unmittelbare Konsequenz davon ist, daß ihre Namen für die verschiedenen heidnischen Weltteile stehen, aus denen sie stammen“ (Herzner 2015, S. 178). Die Delphica, die Erythräa, die Cumäa, die Persica und die Lybica repräsentieren Griechenland, Ionien, Italien, Asien und Afrika. Die Seherinnen sind dabei in verschiedenen Altersstufen wiedergegeben. Allen Sibyllen sind zwei Putten, gelegentlich auch weiblichen Geschlechts, beigegeben, die sich zumeist in ihrem Rücken aufhalten.
Michelangelo: Die delphische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Die delphische Sibylle ist von allen die jüngste. Sie sitzt schräg nach links auf ihrer Bank, den Blick anscheinend in die Tiefe der Kapelle gerichtet, doch galt ihre Aufmerksamkeit zuvor dem mit der linken Hand gehaltenen Rotulus, „als sie plötzlich, mit angstvoll geweiteten Augen den Kopf in die entgegengesetzte Richtung wendet, offenbar weil sie von dort einen Anruf empfing, der ihre Beschäftigung mit den schriftlichen Zeugnissen als nebensächlich erscheinen lässt“ (Herzner 2015, S. 180). Der fast waagrecht vor der Brust ausgestreckte linke Arm wirkt wie eine Barriere, „die den Kopf in die Tiefe rücken läßt, aus der heraus der Blick der Seherin umso nachdrücklicher in die Weite geht“ (ebd.). Zusätzlich geben der ansteigende rechte Arm und der die ganze Figur in ihrem Rücken einschließende Gewandbogen diesem Blick eine große Energie mit. Der Kopf ist ganz in Ruhe, das Gesicht dabei frontal wiedergegeben, was der Sibylle eine große Würde und Autorität verleiht.
Frauen, die ihre Muskeln spielen lassen
Die Erythräa galt als älteste Sibylle. Sie ist ebenfalls als junge und sehr würdevolle Gestalt dargestellt. Nach rechts gewendet und den Kopf ins Profil gedreht, sitzt die Erythräa mit übergeschlagenem Bein auf ihrer Bank; sie ist ganz nach links gerückt, um in dem hinter ihr stehenden, aufgeschlagenen Folianten lesen zu können. Der aufmerksame Blick auf den Text wird durch den ausgestreckten linken Arm unterstrichen. Die Sibylle hat jedoch mit der linken Hand am rechten Rand des Buches eine große Menge an Seiten in den Griff genommen. Das erscheint merkwürdig, ist aber wohl aus der Absicht zu erklären, den Schluss des Buches aufzuschlagen. Das Ende des Buches verweist auf das Ende der Geschichte, das Jüngste Gericht, dessen Künderin die Erythräa vor allem war. Ihre würdevoll-gelassene Haltung „könnte als Hinweis darauf zu verstehen sein, daß das endzeitliche Gericht unausweichlich allen Menschen bevorsteht“ (Herzner 2015, S. 182). Auf der rechten Seite hinter dem Buch sind zwei Putten zu sehen; sie verdeutlichen, dass über den Studien der Sibylle inzwischen die Nacht hereingebrochen ist, denn der eine ist im Begriff, mit einer Fackel eine Öllampe anzuzünden, während der andere sich vor Müdigkeit die Augen reibt.
Das Studium in einem Buch ist merkwürdigerweise auch die Haupttätigkeit der übrigen drei Sibyllen, der Cumäa, der Persica und der Libyca. Denn das Besondere sibyllinischer Weissagung bestand ja darin, dass sie nicht aus Büchern erfolgte, sondern auf unmittelbarer Eingebung beruhte. Dagegen ist bei Michelangelos Sibyllen „Sehen und Hören nicht dominant, sondern lesendes Forschen“ (Kuhn 1975, S. 49/50). Denn die Bücher dienen nicht zur Aufzeichnung der Weissagungen, was die Sibyllen ja auch niemals taten. „Michelangelo kam es anscheinend darauf an, die Sibyllen als reguläre Vertreterinnen der Buch-Religion zu ,verfälschen‘, aber damit gleichzeitig auch zu legitimieren. Offensichtlich war der Verzicht auf die den Sibyllen eigentümliche Raserei der Preis, den sie für ihre Akzeptanz als klarsichtige christliche Seherinnen zahlen mußten“ (Herzner 2015, S. 184).
Michelangelo: Die cumäische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Die Cumäa ist die einzige der sixtinischen Sibyllen, die annähernd frontal auf der Bank sitzt, sodass ihre gewaltigen Beine in den Raum zu ragen scheinen. Sie blickt in den links von ihr aufliegenden Folianten, den sie mit beiden Händen offenhält. Ihr Kopf ist deswegen ins Profil gewendet, auch die Schulterpartie folgt dieser Bewegung. Quer vor der Figur erstreckt sich ihr nackter muskulöser linker Arm, der zusammen mit den wuchtigen bedeckten Beinen dieser Sibylle ihren geradezu herkulischen Charakter verleiht. Die Züge hohen Alters beschränken sich vor allem auf das Gesicht; sie äußern sich aber auch in der Weitsichtigkeit, wegen der die Sibylle das Buch von ihren Augen entfernt hält. Die Putten schauen der Cumäa beim Lesen zu, sie blicken ebenfalls in das Buch, anscheinend jedoch, ohne irgendetwas verstehen zu können; der vordere hält unter dem rechten Arm ein weiteres großformatiges Buch für künftige Studien der Sibylle bereit.
Michelangelo: Die persische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Die Persica, zwischen den Propheten Hesekiel und Jeremias platziert, erscheint als Gegenstück zur Cumäa. Beide sind, so Carl Justi, „grandios häßliche Weiber“ (Justi 1900, S. 109), aber im Unterscheid zur kraftstrotzenden Cumäa ist die Persica dürr, bucklig und kurzsichtig – sie hält ihr Buch ganz nah vor die Augen, um die Schrift noch lesen zu können. Die Sibylle hat sich seitlich auf die Bank gesetzt, damit mehr Licht auf ihr Buch fällt, dabei ist ihr Kopf ins verlorene Profil gewendet. Die beiden Putten verhalten sich ruhig und andächtig; der vordere steht im Schatten, den das Buch wirft.
Michelangelo: Die libysche Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Die ebenfalls seitlich sitzende Libyca wendet sich nach links und hantiert mit einem großen Folianten in der Nische über und hinter ihr: Legt sie ihn weg, oder holt sie ihn herab? Da sie mit der linken Hand nicht den festen Einband erfasst, sondern nur etwa die erste Hälfte der Seiten etwas angehoben hat, „kann sie nicht im Begriff sein, das Buch auf der Ablage niederzulegen, aber ebenso wenig kann sie dabei sein, das Buch von dort herabzuholen“ (Herzner 2015, S. 186). Beachtet man, wie sie mit der rechten Hand unter die übrigen Seiten mitsamt dem Einband gegriffen hat, dann kann sie wohl nur beabsichtigen, den Folianten zu schließen. Die kunstvoll arrangierte Sitzhaltung der Sibylle lässt nicht darauf schließen, dass er an einer anderen Stelle, als er sich jetzt befindet, verwendet werden soll. Nur die Spitzen der Zehen berühren den Boden, der linke Fuß kann sich erhöht auf einen Holzblock stützen, wie er keiner anderen sixtinischen Sibylle zur Verfügung steht. Der Blick der Lybica ist gesenkt – oder sind die Augen geschlossen, weil der Blick nach innen geht? Die Sibylle hat vieles aus dem Buch erfahren, nun will sie vielleicht über das Gelesene nachsinnen. Dazu scheint die hereinbrechende Nacht die beste Zeit zu sein, die sich wiederum im Schlafsack des vorderen Putto und den abgelegten kostbaren Kleidern der zum Teil schon entblößten Libyca ankündigt.

Literaturhinweise
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;
Justi, Carl: Michelangelo. Beiträge zur Erklärung der Werke und des Menschen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1900;
Kuhn, Rudolf: Michelangelo. Die sixtinische Decke. Beiträge über ihre Quellen und zu ihrer Auslegung. De Gruyter, Berlin/New York 1975.

(zuletzt bearbeitet am 18. März 2024) 

Dienstag, 7. November 2017

Ins Ohr geflüstert – Rembrandt malt den Evangelisten Matthäus


Rembrandt: Der Evangelist Matthäus (1661); Paris, Louvre
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Bis in die Frühe Neuzeit galt das Matthäus-Evangelium als das wichtigste der vier Evangelien: Man ging davon aus, dass es, wie das Johannes-Evangelium, von einem Apostel geschrieben wurde und damit eine höhere Authentizität besaß als die beiden von Lukas und Markus, die gemäß der Überlieferung nur Schüler von Aposteln waren. Da man annahm, das Matthäus-Evangelium sei im Unterschied zu den drei anderen nicht in griechischer, sondern in hebräischer Sprache verfasst, hielt man es damals für das älteste der vier Evangelien – deswegen bekam es seinen Platz am Beginn des Neuen Testaments. In der bildenden Kunst wird Matthäus meist als Schreibender dargestellt, an einem Pult, mit Schreibfeder, Buch oder auch mit Buchrolle, und in der Regel identifizierbar durch sein Evangelistensymbol: einen Engel.
Rembrandts Gemälde von 1661 zeigt einen bärtigen Matthäus im Moment des inspirierten Schreibens. Er befindet sich vor einem Pult, dessen Tischkante parallel zur unteren Bildgrenze durch einen dicken Farbbalken sichtbar wird. Vor ihm liegt ein aufgeschlagenes Buch, das die hellste Stelle des Gemäldes bildet. „Mit trockener Farbe und festem Strich hat Rembrandt die beleuchteten Kanten von sechs Buchseiten auf den graubraunen Malgrund gesetzt“ (Suthor 2014, S. 123). Es dürfte sich um das Manuskript seines Evangeliums handeln. Der Text besteht einfach aus waagrecht gezogenen, aus der Farbmasse herausgekratzten Linien.
Ein Engel tritt von hinten an den Evangelisten heran, legt ihm die Hand sanft auf die Schulter und flüstert ihm die Worte ins Ohr, die Matthäus niederschreiben soll. Wir sehen außer der rechten Hand und dem Kopf des Engels nur noch eine angeschnittene Schulter, auf die das gelockte Haar fällt – Flügel und Nimbus, die ihn als himmlisches Wesen kennzeichnen würden, fehlen auf den ersten Blick. Der Zwischenraum oberhalb der beiden Köpfe ist durch Farbtupfer ausgefüllt, die allerdings einen fedrigen Flügel meinen könnten. Rembrandts Engel aus Fleisch und Blut ist für den Betrachter eine reale Erscheinung, nicht aber für Matthäus – der seine Gegenwart gar nicht zu bemerken scheint.
Rembrandt: Paulus im Gefängnis (1627); Stuttgart, Staatsgalerie
Der Blick des Matthäus ist nicht auf sein Buch gerichtet, sondern scheint ganz nach innen gewendet zu sein, konzentriert horchend. Sein Mund ist wie der des Engels leicht geöffnet; während seine sehnige Rechte den Federkiel gezückt hält, streicht er mit der Linken über seinen Bart (ganz ähnlich wie in seinem Frühwerk Paulus im Gefängnis von 1627) – oder berührt seinen Hals. Der Geste des Matthäus, die sich im Zentrum des Gemäldes befindet, dürfte deswegen besondere Bedeutung zukommen: „Matthäus greift sich an sein eigenes Stimmorgan und öffnet den Mund. Er ist folglich Medium der Stimme, die er aufmerksam zu vernehmen scheint“ (Suthor 2014, S. 124). Zusätzlich zu dieser Gebärde verweisen die dick aufgetragenen Furchen auf der glänzenden Strirn des Evangelisten auf seine intensive Konzentration.
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599); 1945 in Berlin verbrannt
Rembrandts Bildidee ist in Caravaggios erster Fassung seiner Matthäus-Darstellung vorformuliert (siehe meinen Post „Matthäus, der Analphabet“). Caravaggios Matthäus macht allerdings den Eindruck, als würde er in diesem Moment erst schreiben lernen. Ein Engel steht dicht neben ihm und hat seinen Arm ausgestreckt, um dem Evangelisten die Hand zu führen. Dessen Gesichtsausdruck zeigt nicht nur Einfalt, sondern ebenso großes Erstaunen. Matthäus wirkt, als würde er „erst mitlesend realisieren, was seine Hand notiert“ (Suthor 2014, S. 125/126). Ganz offensichtlich ist er nicht Autor des Textes – sondern quasi nur das Schreibwerkzeug. Caravaggio inszeniert in seinem Bild also vor allem den Engel als Medium für das Wort Gottes: Er greift sich – ähnlich wie der Matthäus von Rembrandt – mit der Linken an den Hals und hat den Mund sprechend geöffnet, als würde er dem Evangelisten nicht nur die Hand führen, sondern ihm dabei auch die niederzuschreibenden Worte diktieren.
Rembrandt: Titus, lesend (um 1656/57); Wien, Kunsthistorisches Museum
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Als Modell für Rembrandts Engel wird in der Regel Titus gesehen, der Sohn des Künstlers. Sein Bildnis in Wien, das ihn lesend darstellt, zeigt denselben Jungen mit großer Nase und tiefliegenden Augen in etwas jüngeren Jahren. Titus wurde 1641 geboren und überlebte als einziges der vier Kinder von Rembrandt und seiner Frau Saskia van Uylenburgh das Kindesalter. Kurz vor seinem Vater starb er Anfang September 1668 im 27. Lebensjahr an der Pest.

Literaturhinweis
Barasch, Moshe: Die Inspiration des Evangelisten Matthäus in der Kunst der Reformation und der Gegenreformation. In: Moshe Barasch, Das Gottesbild. Studien zur Darstellung des Unsichtbaren. Wilhelm Fink Verlag, München 1998, S. 174-195;
Bikker, Jonathan: Kontemplation. In: Bikker, Jonathan/Weber, Gregor J.M. (Hrsg.), Der späte Rembrandt. Hirmer Verlag, München 2014, S. 215-233;
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.

(zuletzt bearbeitet am 17. Dezember 2024)

Samstag, 4. November 2017

Der helle Schein in unsren Herzen – Rembrandts „Selbstbildnis als Apostel Paulus“


Rembrandt: Selbstbildnis als Apostel Paulus (1661); Amsterdam, Rijksmuseum
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Rembrandt hat sich im Verlauf seiner Karriere vielfach in „Rollenporträts“ selbst dargestellt; sein erstes unstrittiges Selbstbildnis im Kostüm einer historischen Persönlichkeit und sein einziges als biblische Gestalt ist das Selbstbildnis als Apostel Paulus von 1661. Der Griff des Schwertes, der aus dem Mantel des Apostels ragt, spielt darauf an, dass er den antiken Märtyrerakten zufolge bei den Christenverfolgungen unter Kaiser Nero enthauptet wurde. Die Waffe verweist aber ebenso auf das Wort Gottes, das Paulus in seinem Epheserbrief als das „Schwert des Geistes“ bezeichnet (Epheser 6,17; LUT). Das halb aufgerollte Manuskript, dass der Apostel in den Händen hält, ist ein weiteres traditionelles Paulus-Attribut. Links oben auf der vorderen Seite sind hebräisch anmutende Zeichen zu erkennen. Dem Blick des Betrachters dargeboten, soll das Manuskript wahrscheinlich einen der Briefe darstellen, die der Apostel während seiner Gefangenschaft in Rom schrieb. Das Gefängnis wird durch das vergitterte Fenster im Hintergrund oben rechts angedeutet.
Paulus wurde insgesamt vier Mal eingekerkert, worauf er sich wiederholt in seinen Briefen bezieht, manchmal metaphorisch, indem er sich als „der Gefangene Christi Jesu“ bezeichnet (Epheser 3,1; LUT). Auch das Licht, das von links oben einfällt, gewinnt in diesem Zusammenhang symbolische Bedeutung – gemeint ist die göttliche Erleuchtung, die in den Paulusbriefen mehrmals thematisiert wird: „Denn Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi“ (2. Korinther 4,6; LUT).
Das intensiv beleuchtete Haupt des Apostels erinnert darüber hinaus an die Bekehrung des ehemaligen Christenverfolgers, der sich auf der Straße nach Damaskus „vom Saulus zum Paulus“ wandelte: „Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ (Apostelgeschichte 9,3-4; LUT). Die Kopfbedeckung ist nicht das Malerbarett, das wir aus anderen Rembrandt-Selbstbildnissen kennen, sondern eine Art Turban, der wohl auf den Vorderen Orient zur biblischen Zeit verweisen soll. Rembrandt hat hier die dicke Farbe in verschiedenen Tönen mit kräftigen Strichen übereinandergesetzt, um zu zeigen, wie sich der gewickelte Stoff über die Stirn spannt.
Rembrandt: Petrus und Paulus im Gespräch (1628); Melbourne, National Gallery of Victoria
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Rembrandt hat Paulus im Verlauf seiner Karriere mehrmals dargestellt. In einem seiner frühesten Gemälde, Petrus und Paulus im Gespräch, sind die beiden wichtigsten Apostel im Studierzimmer wiedergegeben, vielleicht in der Diskussion über die Geltung des jüdischen Gesetzes für die junge christliche Gemeinde begriffen (Apostelgeschichte 15,4-21). Auf einem weiteren Frühwerk sehen wir einen in sich gekehrten Paulus im Gefängnis, der im Schreiben innehält. Dass er in Gedanken versunken ist, machen die hochgezogenen Augenbrauen und die gerunzelte Stirn deutlich – durchaus vergleichbar mit dem Gesichtsausdruck auf dem Amsterdamer Selbstporträt.
Rembrandt: Paulus im Gefängnis (1627); Stuttgart, Staatsgalerie
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Christian Tümpel versteht Rembrandts Selbstbildnis als persönliches Bekenntnis: Wenn er sich in seinem späten Bild als Apostel Paulus darstellt, erkenne er damit an, wie unvollkommen sein Leben geblieben und wie sehr er auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen sei. Als Mittelpunkt der paulinischen Verkündigung gilt, dass der Mensch ganz aus Gnade von Gott angenommen und „allein durch den Glauben“ gerecht wird (Römer 3,28; LUT). Wenn Rembrandt in die Rolle des Paulus schlüpft, dann liegt nahe, dass er sich mit dessen Theologie identifiziert und ihn als Glaubensvorbild betrachtet. Und dieser Rembrandt-Paulus ruft gleichzeitig auch den Betrachter auf, es ihm gleichzutun: „Folgt meinem Beispiel wie ich dem Beispiel Christi!“ (1. Korinther 11,1; LUT). Erinnert sei hier auch an Rembrandts Kreuzaufrichtung in der Münchner Alten Pinakothek, die auch ein Selbstbildnis bzw. Rollenporträt des Künstlers enthält: Rembrandt stellt sich als einen der Schergen dar und bekennt sich auf diese Weise zu seiner Mitschuld am Leiden und Tod Christi. Auch auf diesem Gemälde geht es neben dem persönlichen Bekenntnis darum, dass sich der Betrachter Rembrandt „anschließt“, sich in ihm wiedererkennt.
Rembrandt: Kreuzaufrichtung (1633); München, Alte Pinakothek
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Dass sich Rembrandt mit Paulus identifiziert, hängt möglicherweise nicht nur mit seinen religiösen Überzeugungen zusammen. Der Amsterdamer Meister hat im Lauf seines Lebens sehr häufig biblische Themen aufgegriffen und könnte sich, so die These von H. Perry Chapman, wie Paulus als Verkünder des christlichen Glaubens gesehen haben. Belegt ist das nicht, aber sicherlich wurde Paulus in den damaligen protestantischen Kreisen als zentrale Gestalt des Urchristentums betrachtet. Das dürfte ohne Frage auch Rembrandt so gesehen haben.

Literaturhinweise
Chapman, H. Perry: Rembrandt’s Self-Portraits. A Study in Seventeenth-Century Identity. Princeton University Press, Princeton 1990, S. 126;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 657-658;
Tümpel, Christian: Rembrandt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 125;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 16. März 2024)  

Sonntag, 15. Oktober 2017

Den Knaben will ich haben! – Rembrandts Radierung „Josef und Potiphars Weib“


Rembrandt van Rijn: Josef und Potiphars Weib (1634); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Gemahlin des ägyptischen Würdenträgers Potiphar bedrängt dessen jungen und tüchtigen Verwalter Josef immer wieder mit ihren erotischen Avancen (1. Mose 39, 1-21). Doch Josef ist nicht nur seinem irdischen Herrn gegenüber loyal, er hält sich auch Gott gegenüber an das Gebot, keinen Ehebruch zu begehen. Eines Tages schließlich packt Potiphars Frau ihn an seinem Gewand, um ihn in ihr Bett zu ziehen – Josef jedoch flieht und lässt das Kleidungsstück in ihren Händen zurück. Das ist die Szene, die uns Rembrandt (1606–1669) in seiner Radierung von 1634 präsentiert. Später wird Potiphars Frau den Rock benutzen, um Josef der versuchten Vergewaltigung zu beschuldigen – der deswegen im Gefängnis landet.
Die nur 9 x 11,5 cm große Grafik zeigt zwei erbitterte Kämpfer. Potiphars Frau liegt, schlangenhaft gewunden, auf ihrer zerwühlten Bettstatt und versucht Josef mit der linken Hand auf ihr Lager zu zerren. Dabei entblößt sie ihren fülligen Unterleib – ob das Nachthemd in ihrem Furor nach oben rutscht oder sie sich Josef bewusst lasziv darbietet, sei dahingestellt. Um sich dem Griff ihrer Hände zu entziehen, stemmt sich der Bedrängte mit dem Gewicht seines ganzen Körpers in die entgegengesetzte Richtung. Es ist wie ein Tauziehen – zwischen der Tugendhaftigkeit Josefs und der zudringlichen sexuellen Begierde seiner Herrin. Rembrandt teilt die Darstellung deutlich in eine dunkle Seite des Ehebruchs und eine helle der Standhaftigkeit. Für manche Kunsthistoriker findet allerdings auch in Josefs Innerem ein Kampf statt: „Sein Mund ist seltsam schlaff, die Augen dunkel und zusammengekniffen, als zeige sich in ihnen die Spannung zwischen Erregung und Abscheu. Soll er oder soll er nicht?“ (Schama 2000, S. 398). Josefs Gesichtsausdruck, sein Zurückweichen und Sich-Abwenden angesichts der Handgreiflichkeit seiner Herrin könnten aber ebenso die Abscheu verdeutlichen, die ihn in dieser Situation erfüllt. Jedenfalls berührt er die Frau des Potiphar an keiner Stelle ihres Körpers. Rembrandt hat Josef vor einer Tür platziert, vielleicht um anzudeuten, dass ihm die Flucht gelingen wird.
Rembrandt: Das französische Bett (1646); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Der mächtige Bettposten an der rechten Seite ist von Rembrandt deutlich phallisch gestaltet – er betont zusätzlich die Lüsternheit einer Frau, die sich einfach nehmen will, was sie haben möchte. Einen solchen Bettpfosten hat Rembrandt auch in seiner erotischen Radierung Das französische Bett (1646; siehe meinen Post Oh là là!) prominent platziert, um auf die Erektion der Hauptfigur anzuspielen ... Josefs Hände, die starke Schatten werfen, versuchen nicht, den Klammergriff seiner Herrin abzuschütteln, sie schirmen ihn vielmehr vor dem Anblick der rasierten Scham ab, die sich unterhalb des großen Bauches darbietet. Denn bedrängender noch als das gewaltsame Handeln wiegt die zur Schau gestellte Nacktheit: Potiphars Frau hat ihr linkes Bein angewinkelt und damit den Blick auf ihre Vagina freigegeben – und unsere Augen als Betrachter sind ihr offen ausgesetzt. Rembrandt führt uns auf seiner Radierung nicht nur ein Tugendbeispiel vor Augen, sondern konfrontiert uns auf diese Weise auch mit der Macht der Sexualität und unserer eigenen Verführbarkeit. Wir sehen nicht nur ein, sondern zwei Bilder: die biblische Erzählung und das weibliche Geschlecht, zwischen denen unser Blick hin und her wandert“ (Müller 2017, S. 25).
Nach Rembrandts Tod wurde seine Grafik von seinen Kritikern oft als Paradebeispiel dafür angeführt, dass er von Aktdarstellungen nichts verstehe: Er ziehe das Rohe und Naturhafte der reizvollen Gestalt, also dem klassischen Schönheitsideal vor.
Lovis Corinth: Potiphars Weib (1914); Krefeld, Kaiser Wilhelm Museum
Mit der gleichen Drastik wie sein bewundertes Vorbild Rembrandt hat Lovis Corinth (1858-1925) 1914 die alttestamentliche Geschichte ins Bild gesetzt, wobei er die Fleischeslust der nun gänzlich nackten Frau und den Schrecken Josefs nochmals zu steigern verstand.

Literaturhinweise
Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt – Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 188;
Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 102-105;
Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 52;
Müller, Jürgen: Sex mit dem Sünder. Überlegungen zu Rembrandts Darstellung von Sexualität am Beispiel ausgewählter Radierungen. In: Jürgen Müller/Jan-David  Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 21-35; 
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 398-399.

(zuletzt bearbeitet am 20. November 2024) 

Dienstag, 19. September 2017

Das Porträt im österreichischen Expressionismus (3): Oskar Kokoschka malt Auguste Forel


Oskar Kokoschka: Bildnis Auguste Forel (1910); Mannheim, Kunsthalle
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Mit seinen frühen Porträts legte der österreichische Expressionist Oskar Kokoschka (1886–1980) den Grundstein zu seinem Ruhm. Sie gelten allgemein als sein bedeutendster Beitrag zur europäischen Moderne. Als weiteres Beispiel für Kokoschkas Bildniskunst sei hier nach dem Porträt von Herwarth Walden das von Auguste Forel (1848–1931) vorgestellt. Es ist 1910 entstanden und befindet sich heute in der Kunsthalle Mannheim.
Wie der größte Teil seiner frühen Bildnisse hat Kokoschka den berühmten Schweizer Psychiater und Hirnforscher als Halbfigur porträtiert. Die Farbigkeit ist dabei recht zurückhaltend ausgefallen: Sie changiert zwischen Siena-, Umbra- und Brauntönen, die zudem sehr dünnflüssig aufgetragen sind und die Struktur der Leinwand durchscheinen lassen. Damit weicht Kokoschka deutlich von den kräftigen, kontrastreich gesetzten Farben seiner expressionistischen Malerfreunde ab.
Kopf und Hände Forels sind vor dem nicht näher bestimmbaren Hintergrund besonders herausgearbeitet. Auch bei diesem Porträt setzt Kokoschka ein für ihn typisches Gestaltungsmittel ein: kalligrafische, kratzende Eingriffe in die Farbfläche, etwa mit dem Ende des Pinsels. Sie sind ein grafisches Element, mit dem der Künstler z. B. die Gesichtszüge überzieht, indem er in die nasse Farbe nervöse Linien einritzt. Nur die dunkelbraunen, weit geöffneten Augen, deren Ausdruck zwischen Konzentration und Erschöpfung schwanken, bringen ein beruhigendes Moment in die zeichnerisch aufgewühlte Gesichtslandschaft.
Der Oberkörper Forels, den Kokoschka von links zeigt, ist nur schemenhaft angedeutet. Der Oberarm verläuft parallel zum rechen, der Unterarm horizontal zum unteren Bildrand. Hier greifen keine eingeritzten Schraffuren in die Oberfläche ein, die Umrisslinien scheinen vielmehr fleckig in den Hintergrund überzugehen. Lediglich das Händepaar am linken unteren Bildeck ist mit dunkelrot-braunen Pinselstrichen deutlich hervorgehoben.
Die altersbedingt gichtknöchigen Hände hat Kokoschka ebenfalls durch Kratzungen betont, die durchsichtig gewordene Haut des alten Mannes durch stumpfe Abschabungen akzentuiert, die den hellen Leinwandgrund freilegen. Über die verbleibende freie Hintergrundfläche sind abstrakte Ornamente in Form von sternförmigen, gekräuselten oder geschlängelten Einritzungen verteilt. Vereinzelt finden sie sich auch auf Forels Oberkörper.
Vermittelt wurde der Porträtauftrag durch den Wiener Architekten Otto Wagner, der sich für den damals 24-jährigen Kokoschka einsetzte. Forel hatte sich vorbehalten, das Bildnis zurückweisen zu können (und nicht bezahlen zu müssen), sollte es ihm nicht gefallen – und das tat er auch. Offensichtlich störte Forel vor allem, dass Kokoschka ihn zeigte, als habe er einen Schlaganfall erlitten. Das Bildnis gelangte deswegen in den Kunsthandel und wurde 1913 von der Kunsthalle Mannheim erworben. 1912, zwei Jahre nach der Entstehung des Gemäldes, erlitt Forel übrigens tatsächlich einen Schlaganfall und ähnelte danach sehr der Darstellung auf Kokoschkas Leinwand.


Literaturhinweis
Natter, Tobias G. (Hrsg.): Oskar Kokoschka. Das moderne Bildnis 1909 bis 1914. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002.

(zuletzt bearbeitet am 4. November 2021)

Sonntag, 30. Juli 2017

Der wundersame Hirsch – Albrecht Dürers Kupferstich „St. Eustachius“


Albrecht Dürer: Der heilige Eustachius (um 1501); Kupferstich
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Die Legenda aurea berichtet von der wunderbaren Bekehrung des römischen Feldherrn Placidus, der im Dienst des Kaisers Trajan stand. Auf der Jagd verfolgte er einen mächtigen Hirsch; als er ihn auf einem Felsen stellte, wurde der Jäger von einer hellen Lichterscheinung geblendet – das Kreuz Christi erschien im Geweih des Hirsches, und Christus selbst sprach durch den Mund des Tieres zu ihm: „Eustachius, was jagst du mich, glaube mir, ich bin Christus und habe lange nach dir gejagt.“ Der Jäger bekehrte sich daraufhin zum Christentum und nahm den griechischen Namen Eustachius an. Eustachius, dessen Legende der des heiligen Hubertus verwandt ist, genoss als Jagdpatron und einer der vierzehn Nothelfer im späten 15. Jahrhundert große Popularität.
Albrecht Dürers Kupferstich – um 1501 entstanden und sein größter überhaupt – präsentiert die Begebenheit in einer rauen, von geborstenen Bäumen bestandenen Berglandschaft nahe einer Steilküste. Der Bildhintergrund wird von einer Höhenburg dominiert, zu der im Mittelgrund ein Torturm und eine Vorburg gehören. Am linken Rand ist in der Ferne eine weitere Burg zu erkennen, während rechts der Meeresspiegel und eine abgelegene Küste zu zwei einfachen Linien reduziert sind. Der Nürnberger Künstler scheint die Legende vor allem zum Anlass für eine detailreiche Naturdarstellung zu nehmen, „die sich teppichartig über die Bildfläche breitet“ (Schoch 2000, S. 94). Das eigentliche Geschehen tritt dagegen deutlich zurück: Wie eine Randfigur erscheint der Heilige im zeitgenössischen Jagdkostüm mit kurzem Wams, Beinkleidern, Stulpen, Fellmütze und Falknerhandschuhen. Allerdings vermisst man außer einem Hirschfänger mit Horngriff die klassischen Jagdwaffen wie Armbrust, Bogen oder Saufeder. 
Der Jäger ist auf die Knie gesunken und erhebt die Hände zu einer Geste, die Erstaunen und Anbetung zugleich ausdrückt. Der Gegenstand seiner Verehrung, der wundersame Hirsch, ist zwischen dem Geäst der Bäume gar nicht auf Anhieb auszumachen. Eben noch gejagt, wird das Wildtier nun zum Symbol für die irdischen Gefährdungen, denen sich der menschgewordene Gottessohn aussetzte. Der scheue Hirsch unterstreicht mit seinem Erscheinen am Waldesrand zugleich das Empfinden, wie kostbar und kurz der Augenblick ist, in dem sich das Geschehen ereignet“  (Schmitt 2012, S. 163).  Dürer verbirgt das entscheidende Motiv weitab von der breit geschilderten Szenerie im Vordergrund verbirgt. Der Betrachter muss das Bild regelrecht durchforsten, um zu erfassen, was eigentlich dargestellt ist. „Während man den Stich besonders aufmerksam anschaut, eignet man sich die Erzählung an. Diese Aufmerksamkeit zu schärfen, indem der Fokus der Handlung aus dem Blick gerückt wird, ist wahrscheinlich Teil von Dürers Erzählstrategie“ (Schmitt 2912, S. 163).
Aufmerksamkeit beanspruchen zunächst das Pferd und die fünf Windhunde des Jägers im Vordergrund. Mit einer Ausnahme sind sie in reiner Seitenansicht wiedergegeben und ohne Überschneidungen auf der Fläche verteilt – „wie eine Sammlung selbständiger Naturstudien auf einem Musterblatt“ (Schoch 2000, S. 94). Der mit Abstand auffälligste Bildgegenstand ist freilich – szenisch eigentlich völlig nachrangig – der Schimmel des Eustachius. Er fällt dem Betrachter nicht nur durch seine schiere Größe sofort ins Auge, sondern auch durch seine ruhigere, helltonigere grafische Struktur und durch seinen aus dem Bild auf uns gerichteten Blick. Hinzu kommt, dass Dürer sehr bewusst in Kopf, Hals und Vorderhand des Tieres die Mittelachse des Battes fortsetzt, die durch einen abgestorbenen Baum betont wird. In seinen wesentlichen Teilen ist das Pferd von Dürer konstruiert: So lässt sich der Rumpf einem Quadrat einschreiben, während der Kontur von Bauch, Brustschild und Hals dem Bogen eines mit dem Zirkel geschlagenen Kreissegments folgt.
Die Verehrung Christi geht in Dürers Kupferstich einher mit der Verherrlichung der Schöpfung. Von den Pflänzchen im Vordergrund über die Brücke mit dem Schwanenteich bis zu dem Vogelschwarm, der den Burgberg umkreist, ist jede Einzelheit mit derselben Genauigkeit geschildert, sodass winzige Details wie der Ritter, der den Burgberg hinaufreitet, oder der Falke, der einen Singvogel schlägt, „im Motivreichtum dieses Mikrokosmos untergehen“ (Schoch 2000, S. 94). Um die den Turm anfliegenden Vögel überhaupt darstellen zu können, hat Dürer sie auf Punkte reduziert; zum Vogelschwarm werden diese Punkte, indem er sie in einer Flugformation anordnet und an einer der Spitzen verdichtet.
Antonio Pisanello: Vision des hl. Eustachius (um 1438-1442); London, National Gallery
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Aus der Vielzahl von Naturstudien, die Dürer für seine Komposition verwendet haben muss, ist nur eine einzige, mit dem Pinsel gezeichnete Hundestudie in Windsor Castle erhalten geblieben. Der berühmte italienische Künstlerbiograf Giorgio Vasari (1511–1574) war sehr beeindruckt von Dürers Kupferstich und lobte 1568 unübertreffliche Schönheit der Hunde in ihren unterschiedlichen Posen. Auch Dürer selbst schätzte das Blatt als besondere Leistung seiner Hand: Noch auf seiner niederländischen Reise 1521, also rund 20 Jahre nach Erscheinen des Stiches, verschenkte oder verkaufte er den „Eustachium“ mindestens sechs Mal. Als mögliche Quellen für Dürers Arbeit haben Kunsthistoriker auf ein Tafelbild des italienschen Malers Antonio Pisanello (1395–1455) verwiesen: In der Anlage der Szene zeigen die beiden Kunstwerke auffallende Parallelen.
Gerhard Marcks: Hubertuswunder (1921); Holzschnitt
1921 hat der deutsche Bildhauer und Grafiker Gerhard Marcks (1889–1981) eine Hommage an das berühmte Dürer-Blatt angefertigt: Auf seinem Holzschnitt Hubertuswunder sind Mensch und Tier gegenüber der Vorlage gespiegelt; der Hirsch hat den Platz des Pferdes eingenommen, das bei Marcks nicht mehr vorkommt. Die erhobenen Arme des Hubertus sowie die beiden Hunde im Vordergrund lassen aber unzweifelhaft das bewunderte Vorbild erkennen.

Literaturhinweise
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 108-109;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 55-57;
Schmitt, Lothar: Der frühe Dürer und der Kupferstich im 15. Jahrhundert. In: Daniel Hess/Thomas Eser, Der frühe Dürer. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2012, S. 160-170;
Schoch, Rainer: Der heilige Eustachius. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 92-95;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 94.

(zuletzt bearbeitet am 31. Juli 2023)