Michelangelo: Der Prophet Jeremia (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Die alttestamentlichen Propheten werden
seit Augustinus in vier „große“ und zwölf „kleine“ eingeteilt. Neben den
bereits vorgestellten fünf Sibyllen (siehe meinen Post „Vereint unter einem Himmel“) hat Michelangelo an der Decke der Sixtina auch sieben biblische
Propheten dargestellt, nämlich die vier „großen“ Jesaja, Hesekiel, Jeremias und
Daniel und die drei „kleinen“ Sacharja, Joel und Jonas.
Der Prophet Sacharja (in der
lateinischen Bibel Zacharias genannt) ist auf der Schmalseite über dem
Eingangsportal zu sehen: Er wendet sich mit seinem üppigen weißen Bart im
Profil nach rechts, um in einem Buch zu blättern, das er mit beiden Händen vor
sein Gesicht hält. Auch der Oberkörper präsentiert sich im Profil, der rechte
Arm verläuft bildparallel. Mit dem Unterkörper sitzt Zacharias jedoch leicht
schräg auf seiner Marmorbank, der linke Fuß berührt mit den Zehen den Boden,
der rechte Fuß, der auf einem Holzkasten ruht, wird vom Gewand des Propheten verdeckt.
Michelangelo: Der Prophet Sacharja (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Dass Sacharja über dem Eingangsportal freskiert
ist, wird von Kunsthistorikern vielfach damit erklärt, dass er unter anderem
den Einzug Christi in Jerusalem prophezeit hat, was im Matthäus-Evangelium
(Kapitel 21,4-5) ausführlich zitiert wird; auch für die in die Kapelle
Einziehenden erscheint dieser Bezug sehr passend. Sacharja hat darüber hinaus den
Neubau des Tempels in Jerusalem vorausgesagt, den die Israeliten nach ihrer Rückkehr
aus der Babylonischen Gefangenschaft in Angriff nahmen. Die Sixtinische Kapelle
wiederum war ein anspruchsvoller Neubau, den der Rovere-Papst Sixtus IV. nach
dem Vorbild des ersten Tempels Salomos hatte errichten lassen; dessen Ausstattung
wurde nun von seinem Neffen, Papst Julius II., vollendet. Auch auf diesen
Zusammenhang dürfte der Prophet Sacharja über dem Eingangsportal anspielen;
darüber hinaus verbanden die Zeitgenossen mit dem Thema „Neubau des Tempels“
noch ein weiteres Großprojekt, nämlich den Neubau von St. Peter, zu dem erst
wenige Jahre zuvor, am 18. April 1506, der Grundstein gelegt worden war. Nicht
ohne Grund dürfte sich deswegen gerade unter der Darstellung des Propheten Sacharja
das Wappen der Rovere mit den päpstlichen Insignien befinden, das noch der
Ausstattung unter Sixtus IV. angehört: „Die Rovere-Päpste haben gewissermaßen
die Prophezeiung des Zacharias Wirklichkeit werden lassen“ (Herzner 2015, S.
191).
Michelangelo: Der Prophet Joel (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Joel sitzt nahezu frontal auf seiner Marmorbank.
Sein konzentrierter Blick ist auf den Anfang einer langen Schriftrolle
gerichtet, die er in den Händen hält. Das Pergament hat sich in der Mitte
verdreht – was Joel aber nicht bemerkt, so sehr scheint er von dem gefesselt,
was er liest. Sein schräg auf den Text gerichteter Blick wird unterstrichen
durch den leicht nach rechts geneigten Körper: Unbewusst lehnt sich der Prophet
mit dem rechten Unterarm gegen ein steiles hölzernes Lesepult. Der
Unterschenkel des vorgestreckten rechten Beins steht dabei fast senkrecht; der
nackte Fuß berüht mit den Zehen die Vorderkante der Bodenplatte.
Bei der Schriftrolle könnte es sich um
den Anfang des Buches Joel handeln, wo in drastischen Worten eine Heuschreckenplage
geschildert wird. Der Prophet deutet die Naturkatastrophe als Strafe Gottes und
dient ihm als Anlass, das Volk Israel nachdrücklich zu Umkehr und Buße aufzurufen:
„Doch auch jetzt noch, spricht der Herr, kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit
Fasten, mit Weinen, mit Klagen! Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider und
kehrt um zu dem Herrn, eurem Gott! Denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und
von großer Güte, und es reut ihn bald die Strafe“ (Joel 2,12-13; LUT).
Von Jesaja ist eine Fülle an
Weissagungen überliefert, die ihn zu einem der wichtigsten Propheten der
christlichen Theologie und Kunstgeschichte haben werden lassen. Er hat die
Passion Christi prophezeit (Jesaja 52,13-53,12) und ebenso die Jungfrauengeburt
(Jesaja 7,14). Doch Michelangelos Darstellung des Jesaja enthält keinen Hinweis
auf diese beiden wichtigen Weissagungen. Jesaja sitzt entspannt auf seiner
Marmorbank; er ist offensichtlich im Begriff, über eine soeben gelesene Textpassage
nachzudenken, denn er hat das Buch an seiner linken Seite abgestellt, aber einige
Finger der rechten Hand greifen in die Seiten, sodass die fragliche Stelle
sofort wieder aufgeschlagen werden kann. Die linke Hand ragt mit dem
angewinkelten Zeigefinger nach oben ins Leere – wahrscheinlich hat der Prophet
eben noch seinen Kopf in diese Hand gestützt, bis er durch etwas aufgeschreckt worden
ist. Mit erregter Geste und weit aufgerisssenen Augen weist der Putto hinter
dem Rücken des Propheten auf ein plötzliches Ereignis hin – doch Jesaja wendet
zwar den Kopf, aber scheint nicht in den Blick nehmen zu wollen, worauf der
Putto weist.
„Weh mir, ich vergehe!“ (Jesaja 6,5) |
Jesajas Augenlider senken sich tief
herab, die Augen sind fast geschlossen, nur mit dem inneren Auge nimmt der
Prophet wahr, was plötzlich geschieht. Die kräftige Falte über der Nasenwurzel
und die wild züngelnden Haarlocken verweisen ebenfalls auf die innere
Anspannung, die Jesaja erfasst hat. Michelangelo meint hier
höchstwahrscheinlich die berühmte Gottesvision, die in Jesaja 6,1-4 beschrieben
wird: „In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf
einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim
standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr
Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer
rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle
Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres
Rufens und das Haus ward voll Rauch“ (LUT). Jesaja soll, so der Auftrag Gottes an
ihn, das Volk Israel ermahnen, sein Leben auf Gott auszurichten, weil es sonst
in die Katastrophe führt. Ähnlich wie Joel ruft auch Jesaja die gottvergessenen
Israeliten zu Umkehr und Buße auf.
Michelangelo: Der Prophet Hesekiel (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Hesekiel ist als einziger Prophet in
lebhafter Bewegung wiedergegeben. Eben noch hat er in der Schriftrolle gelesen,
deren größten, zusammengerollten Teil er fest in der linken Hand hält, als
auf der rechten Seite etwas geschieht, das seine Aufmerksamkeit fesselt. Erschrocken
und zugleich überwältigt neigt er sich mit weit aufgerissenen Augen dem
entgegen, was wir nicht sehen. Der ins Profil gewendete Kopf ist, als Zeichen
äußerster Erregung, so weit vorgereckt wie nur eben möglich. Dargestellt ist, so
Volker Herzner, das wohl bedeutendste Ereignis im Leben des Hesekiel: seine
Vision der „Herrlichkeit des Herrn“ und die damit verbundene Berufung zum
Propheten (Hesekiel 1,4-28). Auch er wird in der Folge das Volk Israel
eindringlich dazu aufrufen, zu einem gottgefälligen Leben umzukehren.
Hesekiel ist ohne Frage einer der
wichtigsten Propheten des Alten Testaments. Aus seiner Vison des Tetramorph (Viergestalt) entwickelte die
christliche Kunst die Majestas Domini
und die vier Evangelistensymbole (Engel, Adler, Stier und Löwe). Hesekiel
weissagte, neben vielen anderen wichtigen Ereignissen, schließlich die Rückkehr
Israels aus dem Exil (Hesekiel 39,25-29) und den neuen Tempelbau (Hesekiel
40-43); seine Erwähnung der „porta clausa“ des neuen Tempels, die geschlossen
bleiben soll, da durch sie der Herr, der Gott Israels, gegangen ist (Hesekiel
44,2), wurde im Mittelalter zum wichtigsten Symbol der Geburt Christi durch die
Jungfrau Maria.
Michelangelo: Der Prophet Daniel (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Der jugendliche Prophet Daniel hält ein
großes, geöffnetes Buch in seinem Schoß. Er stützt es jedoch nur, indem sein
Handgelenk auf dem Schnitt aufliegt und die Hand selbst darüber nach unten hängt.
Gehalten wird der Foliant hauptsächlich von einem der beiden Putten, der sich
mit seinem Rücken wie ein Atlant unter den oberen Teil geschoben hat. Daniel
scheint nicht die Absicht zu haben, in dem großen Buch (es ist das größte aller
an der sixtinischen Decke dargestellten Bücher) noch zu blättern und
irgendwelche Seiten nachzuschlagen; es muss eine einzige, nun aufgeschlagene
Stelle sein, die seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Daniel hat sich
jedoch völlig von diesem Buch ab- und dem Schreibpult rechts von ihm zugewandt.
Ein großer Bogen Papier oder Pergament liegt auf dem Pult. Der Prophet ist
dabei, etwas aufzuschreiben, aber die Hand führt keine Feder, obwohl an der
Rückseite des Pultes ein Tintenfass hängt; stattdessen halten die Fingerspitzen
seiner Rechten ein kleines Stückchen Kohle. Offensichtlich macht er sich Notizen
oder Anmerkungen zu dem Gelesenen.
Daniels Gesichtsausdruck scheint von
tiefer Trauer erfüllt, wie die senkrechten Stirnfalten und die fast
geschlossenen Augen andeuten. Anlass sind, so Volker Herzner, die Schriften des
Jeremias. Daniel, der sich mit seinem Volk immer noch in Babylonischer
Gefangenschaft befindet, erfährt aus ihnen: „Siebzig Jahre soll Jerusalem wüst
liegen“ (Daniel 9,2; LUT). Wenig später erscheint dann allerdings der Engel Gabriel
und erklärt Daniel, dass die „siebzig Jahre“ von Gott zu „siebzig Wochen“
ermäßigt wurden (Daniel 9,24; LUT).
Michelangelo: Der Prophet Jeremias (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Der sechste Prophet ist Jeremias,
den Michelangelo als mächtige, in Schwermut versunkene Gestalt frontal auf
seiner Marmorbank darstellt. Der Kopf, den Jeremias in die rechte Hand stützt, erscheint
wie eine große Last; hinter der Hand verschwinden der Mund und der Unterkiefer
bis zur Nase, darunter hängt der lange weiße Bart herab. Die Augen sind
geschlossen, der Blick bleibt ganz nach innen gerichtet; die linke Hand hängt
kraftlos über den Oberschenkel herab. Jeremias hat die Füße überkreuzt, dabei
aber die Beine weit geöffnet. Als einziger der sixtinischen Propheten trägt er
Stiefel. Die beiden Begleitpersonen des Propheten, älter als die anderen und
anscheinend weiblichen Geschlechts, sind ebenfalls erfüllt von Trauer.
Links neben der Marmorbank hängt eine
geöffnete Schriftrolle über die Stufen herab, deren erste Zeile sich gut lesen
lässt: „ALEF.V“. „Aleph“ ist der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets in
lateinischer Umschreibung, und in diesem Zusammenhang kann er als eindeutiger
Hinweis auf die Klagelieder des Jeremias verstanden werden, die zu seinen
wichtigsten und bewegendsten Schriften zählen. Der Buchstabe „V“ nach dem
„ALEF“ ist zweifellos als das römische Zahlwort „Fünf“ zu lesen und wohl ein Verweis
auf die insgesamt fünf Kapitel der Klagelieder. Jeremias bringt mit seiner
Trauer nur körperlich zum Ausdruck, was er in den Klageliedern in Worte fasst.
Anlass zur Klage ist die Wegführung der Juden in die Babylonische Gefangenschaft
und die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar. Jeramias selbst blieb in der
Stadt und gab sich hier seiner Klage hin: „Ich bin der Mann, der Elend sehen
muss durch die Rute seines Grimmes. Er hat mich geführt und gehen lassen in die
Finsternis und nicht ins Licht. Er hat seine Hand gewendet gegen mich und
erhebt sie gegen mich Tag für Tag. Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und
mein Gebein zerschlagen. Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit
Bitternis und Mühsal umgeben. Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die
längst tot sind. Er hat mich ummauert, dass ich nicht herauskann, und mich in
harte Fesseln gelegt. Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die
Ohren zu vor meinem Gebet“ (Klagelieder 3,1-8; LUT).
Michelangelo: Der Prophet Jona (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Blickfang für jeden Betrachter der sixtinischen Decke ist ohne Frage der Prophet Jona über der Altarwand. Diesen
besonderen Platz nimmt er wohl deshalb ein, weil Christus selbst auf Jona als
„Zeichen“ für seine Auferstehung verweist: „Ein böses und ehebrecherisches
Geschlecht fordert ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden
außer dem Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte
im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im
Herzen der Erde sein“ (Matthäus 12,39-40; LUT). Der große Fisch hinter Jona zeigt
an, dass der Prophet nach seiner
Errettung aus dem Bauch des Fisches, in dem er drei Tage und drei Nächte
verbringen musste, dargestellt ist. Volker Herzner bezweifelt aber, dass Jona
von Michelangelo als Typus der Auferstehung gemeint ist, da jegliches Anzeichen
dafür fehle, dass Jona über seine Errettung glücklich sei.
Jona lehnt sich weit zurück, um
Blickkontakt mit Gott im Himmel aufzunehmen. Er will ihm jedoch nicht etwa danken,
so Herzner, denn dazu stehe die Geste der beiden ausgestreckten Zeigefinger,
die aus den eng nebeneinander gehaltenen Händen nach rechts unten weisen, in
Widerspruch. Denn nichts anderes als den Zornausbruch des Propheten gegen den
barmherzigen Gott zeige Michelangelos Jona. In leidenschaftlicher Erregung
lehnt sich Jona weit zurück, um Gott auf die sündige, aber reumütige Stadt
Ninive hinzuweisen, die nach Ansicht des Propheten nicht verschont werden darf.
Jona sitzt neben dem großen Fisch in
einer Efeulaube, die Gott gewissermaßen aus pädagogischen Gründen rasch
nacheinander wachsen und verdorren ließ (Jona 4,6-11). Der Prophet begehrt auf
gegen Gott, weil er von ihm eine gerechte Bestrafung der Sünder erwartet hat,
jedoch erleben muss, dass Gott in seiner Güte und Barmherzigkeit selbst die
größten Sünden vergibt, wenn sie aufrichtig bereut werden. Alle sixtinischen Propheten
haben gemeinsam, dass sie zur Buße und einem gottgefälligen Leben aufrufen;
ihren Mahnungen verleihen sie mit der Ankündigung von Gottes Strafgericht
Nachdruck. Aber allein Jona führt mit seinem Zorn gegen Gott vor Augen, wie eng
Buße und Barmherzigkeit verknüpft sind – Erlösung setzt Umkehr voraus.
Deswegen, so Volker Herzner, dürfte Michelangelo Jona eine so herausgehobene Position
an der sixtinischen Decke gegeben haben.
Literaturhinweise
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 29. Juni 2022)