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Diego Velázquez: Venus mit dem Spiegel/Rokeby-Venus (um 1648/51); London, National Gallery
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Auf einem breitformatigen Gemälde zeigt uns Diego Velázquez (1599–1660) eine junge, sehr schlanke nackte Frau, die sich mit dem Rücken zum Betrachter auf einem mit luxuriösen Stoffen bedeckten Lager ausstreckt. Den Kopf auf den rechten Arm gestützt, blickt sie in einen Spiegel, den ein kleiner geflügelter Knabe kniend vor sie hält. Hinterfangen wird die Szene von einer leicht zur Seite gezogenen roten Draperie. Hell hebt sich das leicht rosige Inkarnat der nackten Frau von dem seidig schimmernden schwarzen Stoff ab, auf den sie sich gebettet hat. Akzente setzen die weißen und mattgrünen Schleier vor Schoß und Brust der Frau sowie die blauen und rosa Bänder über der Schulter und in den Händen des Knaben. Der Ort der Szene ist nicht näher bestimmbar; die neutrale grau-braune Fläche rechts neben dem Vorhang ist leer. Das verlorene Profil der dunkelhaarigen Nackten lenkt den Blick auf den schwarz gerahmten Spiegel vor ihr in der Mitte des Bildes; verschwommen erscheint dort das Gesicht der Frau. Die Draperien nehmen die Linienzüge des Körpers auf; die nach rechts ansteigenden Falten des schwarzen Seidentuches „tragen den Körper in einem Bogen, der das Bild in seiner gesamten Breite durchspannt“ (Prater 2014, S. 201).
Bei einer schönen nackten Frau in Gesellschaft eines geflügelten Knaben, der niemand anders sein kann als der Liebesgott Amor, muss es sich wohl um Venus, seine Mutter, handeln. Und wenn der Kleine ihr mit einem Spiegel zu Diensten ist, scheint das Thema offensichtlich die Toilette der Liebesgöttin zu sein. Allerdings blickt sich die Frau nicht selbst im Spiegel an, um etwa ihr Aussehen zu prüfen. Vielmehr wird der Spiegel so gehalten, dass sie den Betrachter sieht. Hier entstehen einige der Irritationen, die Kunsthistoriker bis heute beschäftigen: Wieso ist der Kopf im Spiegel so unmotiviert „unscharf“? Und: Stellt sich der Betrachter mittig vor die im Gemälde dargestellte Szene, ist nach den Gesetzen der Optik das von Velázquez gemalte Gesicht eigentlich nicht sichtbar. Venus kann sich also im Spiegel, den Amor ihr präsentiert, nicht sehen, und der Betrachter wiederum kann Venus, wie sie im Spiegel reflektiert wird, ebenfalls nicht sehen. Im Spiegel erscheinen müsste vielmehr ein Fragment des vom weißen Tuch teilweise verdeckten nackten Körpers.
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Von der Suffragette Mary Richardson 1914 regelrecht zerhackt |
Velázquez‘ Venus mit dem Spiegel wird erstmals 1651 in einem Inventar erwähnt; das Bild dürfte zwischen 1648 und 1651 entstanden sein. 1813 gelangte es in den Besitz des englischen Abgeordneten John Morritt, der das Gemälde in seinem Landsitz Rokeby Hall aufhängen ließ – wodurch es seinen bis heute gängigen Namen Rokeby-Venus erhielt. Seit 1906 befindet sich das Bild in der Londoner National Gallery. Am 10. März 1915 verübte dort eine militante Frauenrechtlerin ein Attentat auf die Rokeby-Venus, obwohl nur für dieses eine Bild ein Sicherheitsbeamter abgestellt worden war. Mit einem Fleischerbeil zerschlug sie das Glas und brachte dem freiliegenden Gemälde dann mehrere Schnitte bei; die Leinwand konnte allerdings erfolgreich restauriert werden.
Die Rokeby-Venus war ursprünglich kein autonomes Kunstwerk. Es ist eine Auftragsarbeit, die Velázquez als Pendant-Ergänzung zu einem bereits vorhandenen Gemälde geschaffen hat, nämlich zu der Aktdarstellung eines unbekannten venezianischen Malers des 16. Jahrhunderts. Die beiden Bilder mit dem gleichen Format (122,5 x 177 cm) wurden seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts nachweislich als Paar bzw. Gegenstücke aufgehängt. Das venezianische Gemälde zeigt ebenfalls eine ausgestreckte nackte Frau in gleicher Größe (knapp lebensgroß) und in analoger Pose – nur wird sie von vorne gezeigt. Auch Physiognomie und Haartracht der beiden Frauen sind einander sehr ähnlich. Der Pendant-Charakter der beiden Gemälde zeigt sich auch darin, dass Velázquez seinen Akt in einem Interieur darstellt, während das venezianische Bild die Frau in einer Landschaft einbettet – „wobei die geschwungene Kontur des roten Vorhangs spiegelsymmetrisch der Grenze zwischen dem dunklen Vordergrund und dem hellen Hintergrund im venezianischen Gemälde entspricht“ (Thürlemann 2006, S. 77/78).
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Tizian: Venus bei der Toilette (um 1555); Washington, National Gallery of Art
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Als eine der möglichen Inspirationsquellen für Velázquez‘ Venus mit dem Spiegel wird immer wieder eine Komposition von Tizian genannt: seine Venus bei der Toilette. Und noch ein weiteres Gemälde scheint in der Vorgeschichte zu dem Bild von Velázquez eine Rolle gespielt zu haben: Um 1614/15 schuf Peter Paul Rubens ebenfalls eine Toilette der Venus; sein Gemälde bezieht sich offensichtlich auf Tizians Komposition mit dem gleichen Thema. Abgesehen von dem hinzugefügten Kopf der schwarzen Dienerin in der rechten oberen Ecke gibt es, was die Figuren und den Handlungsrahmen betrifft, zwischen Rubens‘ Gemälde und dem Bild von Tizian keine Unterschiede – bis auf eine entscheidende Änderung: Rubens‘ fast vollständig nackte, sitzende Venus ist in Rückenansicht dargestellt. Auch Amor – bei Rubens größer gewachsen als bei Tizian – hat für den Betrachter die Seite gewechselt. „Im Vergleich der beiden Bilder ergibt sich für den Betrachter der Eindruck, als wäre Tizians Figurengruppe von Rubens um 180° im Uhrzeigersinn gedreht worden, wobei freilich die reflektierende Seite des Spiegels weiterhin nach vorne ausgerichtet bleibt“ (Thürlemann 2006, S. 81).
Allerdings hat der Spiegel bei Rubens eine andere Form und zeigt ein anderes Bild: Er ist achteckig und an den Rändern facettiert. Vor allem aber ist darin das Gesicht der Venus nicht mehr fragmentarisch, sondern wie in einem gemalten Porträt vollständig zu sehen. Auch die Venus von Rubens blickt über das Spiegelbild auf den Betrachter zurück. Der ist jetzt jedoch nicht mehr, wie bei Tizian, ein ertappter Voyeur im eigentlichen Sinn. „Es stellt sich vielmehr eine Art Komplizenschaft zwischen Venus, die sich zusammen mit ihrem Gehilfen um ihre Schönheit kümmert, und dem Betrachter ein, der ihre Schönheit bewundert. Der erotisch motivierte Blick ist kein Vergehen mehr“ (Thürlemann 2006, S. 82).
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Peter Paul Rubens: Toilette der Venus (um 1615); Vaduz, Liechtenstein Museum
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So ergibt sich die Verbindung zu Velázquez: Sein Frauenakt scheint die Kenntnis von Rubens‘ Variation der Tizian-Komposition vorauszusetzen. Anders aber als bei Rubens, bei dem sich zwar ebenfalls das ganze Gesicht der Venus im Spiegel zeigt, ist der Spiegel bei Velázquez vom Kopf der Göttin jedoch deutlich entfernt – mit den bereits beschriebenen optischen Konsequenzen. Das gilt, wenn der Betrachter sich mittig vor das schwarz gerahmte Gemälde stellt, um es zu betrachten. Anders aber steht es, so führt Felix Thürlemann aus, wenn man vom gemalten, ebenfalls schwarz gerahmten Spiegelbild ausgeht. Es verweise das Betrachterauge nämlich in eine Position außerhalb des linken Randes der Bildfläche. „Denn nur aus dieser Position kann der vom gemalten Spiegelbild postulierte Rezipient einem elementaren Spiegelgesetz folgend (Einfallswinkel = Ausfallswinkel) das Gesicht der Göttin im Spiegel sehen“ (Thürlemann 2006, S. 86). Venus umgekehrt aber sieht darin nicht sich, sondern den links vom Bild anzunehmenden Betrachter. Auch Velázquez spielt also das Spiel mit dem ertappten Voyeur. Und wenn man die Rolle Amors mit bedenkt, so ist er es, der den Spiegel so hält, dass Venus nicht sich selbst, sondern den in ihrem Rücken stehenden Voyeur ins Gesichtsfeld bekommt. „Es ist mehr das Wissen um das Gesehenwerden, nicht das Sehen selbst, das bei Velázquez den Betrachter zum wirklichen ertappten Voyeur mit schlechtem Gewissen macht“ (Thürlemann 2066, S. 86).
Da der Rückenakt das Gemälde dominiert, stellt man sich als Betrachter unwillkürlich mittig vor die Bildfläche; wer jedoch das im Spiegel reflektierte Gesicht ernst nimmt, ist gezwungen, eine Position links vom Gemälde einzunehmen. Dieser seitliche Betrachterstandpunkt der Rokeby-Venus entspricht ihrer Funktion als Pendant-Ergänzung zum venezianischen Frauenakt, der links von Velázquez‘ Gemälde hing. „Wer Venus‘ Gesicht nach einer kohärenten mimetischen Logik, die auch die Spiegelgesetze mit einschließt, sehen will, muss sich mittig vor das Pendantpaar, das heißt links von Velázquez‘ Gemälde, hinstellen“ (Thürlemann 2006, S. 86).
Ob es sich bei dem Velázquez-Akt nun wirklich um Venus handelt oder um eine venusgleiche Sterbliche, der Amor ebenso willig dient wie seiner Mutter, lässt sich letztlich nicht mit Bestimmtheit sagen. Auf jeden Fall aber verkörpert die Rokeby-Venus ein weibliches Schönheitsideal, das sich deutlich von dem fast aller anderen gemalten Frauenakte des 16. und 17. Jahrhunderts unterscheidet. Ihr schlanke und taillenbetonte Figur ist einzigartig in der Malerei der Frühen Neuzeit.
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Hermaphrodit (2. Jh. v.Chr); Paris, Louvre; Matratze von Gianlorenzo Bernini (1620)
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Der Kunsthistoriker Carl Justi äußerte 1888 die Vermutung, Velázquez habe den Körper seiner liegenden Schönheit nach dem Vorbild des Schlafenden Hermaphroditen geformt, einer berühmten antiken Skulptur, die 1618 in Rom ausgegraben wurde und sich heute im Louvre befindet. Spätestens 1650 hat ihn auch Veláquez bewundert. Der spanische Maler war von der Marmorfigur dermaßen beeindruckt, dass er eine Bronzekopie für die königliche Sammlung in Madrid herstellen ließ. Der Schlafende Hermaphrodit liegt auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, sodass man, wenn man sich ihm von hinten nähert, neben den weichen Schenkeln, dem rundlichen Gesäß und der schmalen Taille auch schon das Gesicht sehen kann. Wer da schläft, scheint eindeutig eine Frau zu sein. Wenn man um die Figur herumgeht, folgt die Überraschung: Zwar ist auch ihre Brust durchaus weiblich geformt, aber das Geschlecht könnte männlicher nicht sein – ihr Penis ist erigiert. Die Mutter der mythologischen Gestalt des Hermaphroditos ist nun keine andere als Venus selbst. Bei Ovid heißt es, er habe seinen Eltern so sehr geglichen, dass sie sich entschieden, ihm einen Nahmen zu geben, in dem sie als als Hermes und Aphrodite mitklingen (IV, 271-388). |
Diego Velázquez: Las Hilanderas (um 1657); Madrid, Museo del Prado
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Diego Velázquez: Weibliche Figur (um 1648); Dallas, Meadows Museum
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Der nackte Körper der Rokeby-Venus mag zwar stark den an Schlafenden Hermaphroditen erinnern, aber das gilt nicht für ihren Kopf, und schon gar nicht für ihr Gesicht. Von ihrer Frisur und dem leicht verlorenen Profil her gleicht sie der Spinnerin vorne rechts auf Velázquez‘ Gemälde Las Hilanderas (um 1657). Und sie gleicht darüber hinaus dem Mädchen auf einem Bild, das heute unter dem Titel Weibliche Figur im Meadows Museum in Dallas hängt (um 1648). Möglicherweise hat Velázquez also seine Venus vor dem Spiegel, das Wollfäden aufwickelnde Mädchen auf den Hilanderas und die Weibliche Figur nach dem gleichen Modell gemalt.
Literaturhinweise
Justi, Carl: Velázquez und sein Jahrhundert. Zweiter Band.
Max Cohen & Sohn, Bonn 1888, S. 368-372;
Poeschel, Sabine: Starke Männer – schöne Frauen. Die Geschichte
des Aktes. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014, S. 107-109,
Prater, Andreas: Im Spiegel der Venus. Velázquez und die Kunst, einen Akt zu
malen, Prestel Verlag, München: 2002;
Prater, Andreas: Diego Velázquez – Venus mit dem Spiegel
(Rokeby Venus). In: Sabine Haag (Hrsg.), Velázquez. Kunsthistorisches Museum
Wien. Hirmer Verlag, München 2014, S. 201-207;
Prater, Andreas: Bilder ohne Ikonographie? Velázquez und die
venezianische Malerei. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 77 (2014), S.
333-360;
Thürlemann, Felix: Velázquez’ Venus mit dem Spiegel. Das Gemälde als
Transformator des Blicks. In: Steffen Bogen u.a. (Hrsg.), Bilder • Räume • Betrachter. Festschrift für Wolfgang Kemp zum 60. Geburtstag. Dietrich
Reimer Verlag, Berlin 2006, S. 74-89;
Zollinger, Edi: Herkules am Spinnrad. Rubens – Velázquez –
Picasso. Carl Hanser Verlag, München 2020, S. 128-131.
(zuletzt bearbeitet am 19. September
2022)
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