Jean-Baptiste Carpeaux: Ugolino und seine Söhne (1865-1867); New York, Metropolitan Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der toskanische Graf Ugolino della
Gherardesca lebte von 1220 bis 1289 und war einer der führenden Politiker der
Stadtrepublik Pisa. Im Konflikt mit dem Erzbischof Ruggieri degli Ubaldini, der
selbst die Macht in Pisa anstrebte, wurde er gefangen genommen und mit seinen
Söhnen (und Enkeln) in einen Turm gesperrt, wo sie, so die Überlieferung, an
Hunger starben. Der italienische Dichter Dante Alighieri (1265–1321)
verarbeitete diese Geschichte im Inferno
seiner Göttlichen Komödie. Zusammen
mit anderen politischen Verrätern fror er Ugolino in dem Eissee Kozytus ein,
der sich im neunten Höllenkreis befindet, und zwar Kopf an Kopf mit seinem
Feind, dem Erzbischof. Die Begegnung des Höllenwanderers Dante mit dem Grafen
wird im 32. Gesang des Inferno
geschildert, während Ugolino selbst im 33. Gesang sein eigenes tragisches
Schicksal erzählt. Nach einer länger andauernden Gefangenschaft wird den
Eingesperrten eines Tages die Nahrung verweigert. Auf die Fragen und das Weinen
seiner Söhne antwortet Ugolino mit Schweigen, er wird „zu Stein im Innern“:
„Sobald ein wenig Licht hereingedrungen
zum schmerzensreichen Kerker, konnt ich
sehen
In vier Gesichtern meinen eigenen
Anblick.
Da biß ich mir vor Schmerz in beide
Hände,
Und jene, welche glaubten, daß aus
Hunger
Ich so getan, sind sogleich
aufgestanden
Und sagten: »Vater, unser Schmerz wär
kleiner,
Wenn du von uns würdest essen, denn du
schenktest
Dies arme Fleisch uns, du sollst es
auch nehmen.«
Da war ich still, sie nicht mehr zu
betrüben;
Den und den nächsten Tag schwiegen wir
alle.
Was tatst du dich nicht auf, o harte
Erde!
Als wir zum vierten Tag gekommen waren,
Warf Gaddo sich mir lang zu meinen Füßen
Und sprach: »Mein Vater, kannst du mir
nicht helfen?«
So starb er, und so wahr du mich hier
siehest,
Sah ich drei nacheinander fallen
Am fünften und am sechsten Tag; ich
selber,
Schon blind, begann um sie
herumzukriechen.
Zwei Tage rief ich sie, als sie gestorben;
Dann war der Hunger stärker als die
Trauer.“
De letzte Zeile des 33. Inferno-Gesangs ist unterschiedlich
gedeutet worden: Die Interpretationen reichen von der These, dass Ugolino
lediglich an Hunger sterbe, über eine bewusste Ambivalenz Dantes, die die
Möglichkeit des Kannibalismus offen lässt, bis zum tatsächlichen Verzehren der
Kinderleichen. Der französische Bildhauer Jean-Baptiste Carpeaux (1827–1875)
hat diese dramatische Episode zu einer überlebensgroßen, zwischen 1857 und 1861
entstandenen Marmorskulptur verdichtet. Die Geschichte des Grafen Ugolino war
dem Publikum in der Entstehungszeit von Carpeaux’ Werk wohlvertraut. Im Zuge
einer romantischen Rückbesinnung auf das Mittelalter, die sich als gothic revival von England aus in ganz
Europa ausbreitete, erfreuten sich Dante und seine Göttliche Komödie im 19. Jahrhundert größter Beliebtheit.
Umgeben von seinen vier Söhnen, die
Nähe suchend eng an ihn herangerückt sind, sitzt Ugolino, die Glieder
aneinandergepresst, auf einem Felsblock, an den ihn ein sein rechtes Fußgelenk
umschließender Ring fesselt. Die Figur ist mit ihren übereinandergestellten
Füßen leicht nach links gedreht, wobei der rechte Ellbogen auf dem linken
Oberschenkel aufliegt, während der rechte Arm sich auf den Rücken eines Sohnes
stützt. Ugolinos nackten Körper durchzieht eine Anspannung, die von den
ineinander verkrallten Zehen über die einzelnen Muskeln und Sehnen und den Biss
in die eigenen Finger bis zu den grimmigen Gesichtszügen aufsteigt. Während der
älteste Sohn Ugolinos Beine umschlingt und ihm sein Gesicht mit sprechendem
Mund zuwendet, versucht ein jüngerer Bruder auf der gegenüberliegenden Seite
sein Gesicht im Schoß des Vaters zu vergraben. Der dritte, hinter dem Ältesten
positionierte Junge hält sich, von Schwäche gezeichnet, noch am Oberschenkel
Ugolinos fest, das jüngste Kind liegt bereits leblos zu seinen Füßen.
In der Rückansicht erhebt sich über dem
mit einem Tuch bedeckten Felsblock, der von den Körpern der Kindern wie
eingerahmt wirkt, der monumentale Rücken der Hauptfigur, an dem sich nicht nur die
Muskeln, sondern auch Wirbelsäule und Rippen überdeutlich abzeichnen.
Verzweiflung und Schmerz der Figur zeigen sich deutlich an ihrer
Körperoberfläche, schlagen sich nieder in Anspannung und Verkrampfung, in
expressiv hervortretenden Muskeln, Sehnen und Knochen, in verzerrten
Gesichtszügen, ja selbst im wirren Haar Ugolinos.
Auffallend an Carpeaux’ Werk ist, wie
dicht die fünf Figuren zu einer Gruppe zusammengefügt sind. Der Bildhauer hat
seine Skulptur pyramidal aufgebaut, wobei Ugolinos Kopf als Spitze allerdings
aus der Mitelachse heraus nach rechts gerückt ist. Eng sind die Söhne an den
Vater gedrängt, sie bilden eine regelrechte Anhäufung von Körpern. Die
„Verdichtung der Gesamtkomposition wird noch einmal von der Ugolino-Figur
selbst aufgenommen, die sich ganz in sich zurückzieht, sich so klein und schmal
wie möglich macht“ (Santorius 2012, S. 116). Ugolino verschließt sich dadurch
dem doppelten Appell des ältesten Sohnes, der den Vater gleichzeitig mit
erhobenem Kopf flehend anzusprechen scheint und mit beiden Armen dessen Beine
umschlingt, ebenso wie den schutzsuchenden Gesten der jüngeren Kinder.
Die leichte Drehung des Grafen und der
auf dem linken Knie platzierte Ellbogen wirken, als würde sich der Graf sowohl
vom Sohn hinten links, der seinen Arm auf den Oberschenkel des Vaters legt, als
auch vom Anruf des Ältesten abwenden. Da jedoch auch von der anderen Seite der
dritte Sohn auf seinen Schoß drängt, bleibt ihm keine Ausflucht. Selbst der sich
auf den rechten pressende linke Fuß
würde, wollte er Ugolino auf den Boden stellen, auf den ausgestreckten Arm des
jüngsten Kindes treten. Die Unentrinnbarkeit der Gefängnissituation, die
Carpeaux, abgesehen von der Fußkette, nicht abbilden kann, wird erlebbar durch
die Figuren der Söhne, die den Vater einzuengen scheinen, ihm Raum nehmen,
indem sie ihn hilfesuchend bedrängen. Zusätzlich wird durch die verschiedenen
Stadien des Verhungerns eine Zeitlichkeit erzeugt, die den Tod in bedrohliche
Nähe rückt: Der Jüngste ist bereits seiner Schwäche bereits erlegen – es wird
nicht mehr lange dauern, bis nach und nach auch die körperlich robusteren
Gestalten hungers sterben. Dabei verkörpert gerade das jüngste Kind als zu
Füßen des Vaters hingegossene Unschuldsfigur die Todesgefahr am stärksten.
Bei Carpeaux bildet der Bissgestus
Ugolinos den Dreh- und Angelpunkt der Erzählung: Er wird zum körpersprachlichen
Zeichen, das auf einen möglichen Kannibalismus verweist. Die Kinder verstehen den
Biss ihres Vaters in die eigenen Finger als Hungersignal. „Dass jene sich
daraufhin dem Vater als Nahrung anbieten, ist für den textkundigen Betrachter
bereits eine kaum erträgliche Vorstellung, umso mehr das Bild, der Graf
verleibe sich im Hungerwahn tatsächlich die Leichen seiner Kinder ein“
(Santorius 2012, S. 126). Der Bissgestus selbst lässt einen geöffneten Mund mit
Zähnen sichtbar werden. Der gepeinigte Ugolino fügt sich selbst den Biss zu, um einen anderen,
größeren Schmerz zu unterdrücken, zu verlagern. Es ist der Schmerz, in den
Gesichtern der Söhne ihrem bevorstehenden Tod entgegenzublicken. Die bodenlose
Verzweiflung, die Ugolino angesichts der gemeinsamen aussichtslosen Lage
erfasst, frisst er im wahrsten Sinn des Wortes in sich hinein. Hier
manifestiert sich ein unterdrücktes Aggressionspotential, das auf Entladung
wartet – nur die Anwesenheit der Kinder hält es noch im Zaum.
Théodore Géricault: Das Floß der Medusa (1819); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken) |
Michelangelo: Verdammter aus dem Jüngsten Gericht (1534-1541); Rom, Sixtina |
Auguste Rodin: Ugolino und seine Söhne (1880); Paris, Musée Rodin (für die Großansicht einfach anklicken) |
In Théodore Géricaults Floß der Medusa von 1819 (siehe meinen
Post „Großes Unglück auf großer Leinwand“ ist vorne links auf dem Floß ein älterer
Mann in Melancholiepose platziert, der seinen toten Sohn auf dem Schoß hält. Auch
er ist in einer Situation gefangen, in der Tage des Hungers auf dramatische
Weise ihre Opfer fordern, und wie bei Ugolino ist der Schmerz des Vaters regelrecht
im Innern eingefroren. Weitere kunsthistorische Parallelen lassen sich zu
Michelangelos Jüngstem Gericht und
einem der dort dargestellten Verdammten ziehen: Den Körper verschließend,
zusammengedrängt, führt er eine Hand an sein von Schrecken gezeichnetes
Gesicht. Eine große inhaltliche Nähe besteht zu der berühmten antiken Laokoon-Gruppe: In beiden Fällen führt
das Vergehen der Hauptfigur nicht nur zum eigenen Tod, sondern reißt auch
dessen unschuldige Kinder mit ins Verderben, sodass das ganze Geschlecht
ausgelöscht wird (siehe meinen Post „Das ultimative antike Meisterwerk“). Im Rahmen seines Höllentor-Projektes
wiederum konzipierte Auguste Rodin (1840–1917) ebenfalls eine Ugolino-Gruppe: Er zeigt den bereits dem
Wahnsinn verfallenen Grafen auf allen Vieren über seine – bis auf einen – toten
Söhne kriechend.
Literaturhinweise
Dante
Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Übersetzt von
Hermann Gmelin. Teil 1: Inferno – Die Hölle. München 1988 (Reprint der Ausgabe
Stuttgart 1949); S. 391-395;
Santorius,
Nerina: Zerrbilder des Göttlichen. Das Hässliche in der französischen Skulptur
des 19. Jahrhunderts als Movens der Moderne. Wilhelm Fink Verlag, München 2012,
S. 103-133.
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