Montag, 7. September 2020

Im Faltengewitter – der Apostel Andreas von Veit Stoß

Veit Stoß: Hl. Andreas (um 1500/1510); Nürnberg, St. Sebaldus
(für die Großansicht einfach anklicken)
Andreas, Bruder von Simon Petrus und wie dieser Fischer von Beruf, war der Erste, der von Jesus als Jünger berufen und zu einem seiner zwölf Apostel wurde (Johannes 1,35-40). In späteren Jahren bekehrte er der Legende nach im griechischen Patras Maximilla, die Frau des römischen Statthalters Ägeas, zum Christentum und taufte sie. Ägeas ließ ihn daraufhin geißeln und zu besonderer Pein und langsamem Tod an ein X-förmiges Kreuz binden. Doch Andreas predigte an seinem Marterwerkzeug noch zwei Tage lang dem herbeiströmenden Volk, das bald seine Freilassung forderte. Als der Statthalter schließlich den Befehl gab, Andreas loszubinden, wurden durch göttliches Eingreifen die Arme der Schergen gelähmt, hatte der Apostel Christus doch inständig gebeten, am Kreuz sterben zu dürfen. Danach, heißt es in der Legenda aurea, „kam ein überwältigender Glanz vom Himmel und umgab ihn eine halbe Stunde, so daß keiner ihn sehen konnte, und als das Licht verschwand, gab er zugleich seinen Geist auf“ (de Voragine 2014, S. 117).
Von dem polnischen Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) hat sich eine 197 cm hohe Andreas-Skulptur aus Lindenholz erhalten, die sich noch heute in der Nürnberger Kirche St. Sebaldus befindet, für die sie auch geschaffen wurde. Sie ist zwischen 1500 und 1510 entstanden und zeigt den Apostel mit dem Attribut, an dem er immer recht leicht zu erkennen ist: das nach ihm benannte Kreuz mit diagonalen Balken. Andreas steht aufrecht, das Haupt leicht zur Seite geneigt; seine rechte Hand hat er um den vorderen Kreuzbalken gelegt, mit der Linken hält er ein kleines aufgeschlagenes Gebetbuch, auf das der rechte Zeigefinger weist, über das sein Blick jedoch hinwegzugehen scheint. Fast parallel zu dem unter seinem Mantel sichtbaren Kreuzbalken hat der Apostel sein unbekleidetes linkes Bein nach vorne gestellt, als wollte er kräftig ausschreiten. „Doch verlagert sich das Gewicht des Körpers nicht entsprechend nach vorn, setzt sich diese Geste unter dem vor der Leibesmitte aufwirbelnden Mantel und in dem eher schmächtig gebildeten Oberkörper nicht fort“ (Kahsnitz 1983, S. 260). Der abgespreizte Fuß erinnert noch an die zierlich-spätgotische Schrittstellung der achtziger Jahres des 15. Jahrhunderts, wie sie z.B. auch die Figur Johannes des Täufers von Veit Stoß zeigt.
Auf Fernsicht hin gearbeitet (für die Nahsicht einfach anklicken)
Das würdevolle Haupt des Apostels wird dominiert von einer herabfließenden Haarpracht, deren Korkenzieherlocken an den Seiten bis auf die Schulter und in den Rücken reichen. Eine einzelne schneckenförmig gedrehte Locke fällt vom Scheitel in die Stirn. Das zerfurchte Gesicht zeigt greisenhaft eingefallene Wangen, tief herabgezogene Augenlider und zusammengezogene Augenbrauen; dabei sind die Augenwinkel links und rechts der Nase ungewöhnlich und auch unnaturalistisch tief eingeschnitten. Der üppige Bart fällt von Kinn und Wangen und darüber in einer zweiten Schicht von der Oberlippe in langen, sich rollenden Locken bis auf die Brust. Besonders veristisch wiedergegeben sind die Adern auf dem nackten Bein und das Geflecht der sich durchdringenden und kreuzenden Blutbahnen auf der rechten Hand, ebenso dort der lederartige Charakter der gealterten Haut.
Der Mantel des Apostels, hinter dem sein flacher Körper in der Vorderansicht bis auf das vorgestellte Bein kaum zu erkennen ist, bietet einen mit seinem Faltenspiel beeindruckenden Formenreichtum. Andreas trägt ein kleidartig anliegendes Untergewand, das bis über die Höhe der Knie geschlitzt ist und in der Taille durch einen breiten Gürtel zusammengehalten wird, sodass sich vor dem Leib einige einfache vertikale Röhrenfalten bilden. Die engen Ärmel werden durch eine Reihe von Knöpfen am Unterarm geschlossen. Wie papierdünne Folien rahmen die Kanten des Untergewands das linke Bein der Figur.
Die Stoßsche Ohrmuschelfalte!
Der Mantel, mehr oder weniger ein  großes rechteckiges Stück Stoff, liegt auf der Schulter des Apostels auf und fällt an der Seite bis zum Boden herab. Mit seiner linken Hand, die das Buch hält, hat Andreas einen Zipfel hochgerafft – dieses vor dem Leib gehaltene Mantelende bildet mit heftiger Knitterung, plötzlichem Umschlagen und im Wechsel von kurvigen und hartbrechenden Formen das für die Skulpturen von Veit Stoß so charakteristische raumgreifende Faltenwerk. Die „Ohrmuschelfalte“ gilt sozusagen das Signet des spätgotischen Bildhauers. Das andere Ende des Mantels ist über den Rücken geführt, lässt jedoch Schulter und Arm frei und tritt erst über der Hüfte unterhalb des Gürtels wieder hervor. Vom Kreuz gegen den Leib gepresst und so gehalten, bedeckt das vordere Ende jedoch nicht den Körper, sondern wird wie von einem heftigen Windstoß zurück- und  gegen den unteren Kreuzbalken geweht, sodass es sich um das Kreuz legt.
Die Hauptansicht der Figur ist die Vorderseite; sie wurde ohne Frage auf Fernsicht hin konzipert, und zwar von einem wesentlich tiefer liegenden Standpunkt des Betrachter aus. Das Holz ist auf der Rückseite ausgehöhlt; darüber hinaus wurde das Kreuz überraschend geformt: Mit dem gerade abknickenden hinteren oberen Balken weist es auf eine geplante Aufstellung vor einer flachen Wand hin. Der Standort der Skulptur muss auch so gewählt worden sein, dass eine Ansicht von links nicht möglich war, da diese Seite weit weniger durchgearbeitet wurde; demgegenüber ist die Ansicht von rechts künstlerisch so behandelt, dass sie offenbar gesehen werden sollte. Es handelt sich bei der um eines der frühesten Werke von Veit Stoß, die nicht mehr farbig gefasst sind; die Oberfläche des Andreas „sollte ihre Belebung einzig aus dem Spiel von Licht und Schatten auf dem einheitlich braun getönten, glänzend polierten Holz ziehen“ (Kahsnitz 1983, S. 267).
Die Apostel-Figur ist Teil des Ausstattungsprogramms gewesen, mit dem die Nürnberger Patrizier den zwischen 1361 und 1379 errichteten Hallenchor der Kirche St. Sebaldus mit Glasgemälden, Fresken, Altären, Epitaphien, Skulpturen und Gemälden ausschmücken ließen. Dass die Skulptur von Veit Stoß anfänglich dort aufgestellt wurde, wo sie sich heute befindet – in einer Nische der Nordwand – bleibt fraglich, denn auffällig ist, dass zwischen Konsole und Standfläche der Figur ein rechteckiger Steinblock eingeschoben werden musste und die hölzerne Plinthe der Skulptur über die Konsole und den zur Erhöhung eingefügten Stein nach vorne vorsteht.
Veit Stoß: Hl. Rochus (nach 1510); Florenz, Santissima Annunziata
Verglichen wird die Andreas-Figur häufig mit der des Hl. Rochus von Veit Stoß, die sich in Florenz befindet (Santissima Annunziata) und nach der Nürnberger Skulptur entstanden sein dürfte: Auch hier findet sich das Motiv des nackten vorgestreckten Beines, allerdings ist es bei der Figur des Rochus durch das Vorzeigen der Pestwunde motiviert.

Literaturhinweise
de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Erster Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014, S. 101-125;
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, Heiliger Andreas. In: Germanisches Nationalmuseum (Hrsg.), Veit Stoß in Nürnberg. Werke des Meisters und seiner Schule in Nürnberg und Umgebung. Deutscher Kunstverlag, München 1983, S. 259-269.

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